Krieg in Südwestafrika Der erste deutsche Völkermord
22.03.2012, 10:58 Uhr
Vor dem Abmarsch in den Kampf gegen die Hereros wird die 2. Marine-Feldkompanie eingesegnet.
(Foto: picture-alliance / dpa)
Der Bundestag hat einen Antrag der Linksfraktion abgelehnt, in dem diese fordert, das Parlament möge den Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen. Bislang weigert sich die Bundesregierung strikt, das Vorgehen der deutschen Kolonialtruppen im heutigen Namibia zwischen 1904 und 1908 so zu bezeichnen. Unter Historikern ist die Debatte längst weiter: Sie diskutieren, inwieweit es eine Kontinuität zwischen dem Völkermord an den Herero und Nama und dem Holocaust sowie dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa gibt.
n-tv.de: Lassen Sie uns zunächst klären, warum das Vorgehen der Deutschen gegen die Herero und Nama ein Völkermord war.
Das heutige Namibia war von 1884 bis 1915 deutsche Kolonie. 1904 bekämpften die deutschen Truppen den Widerstand der Herero. Später nahmen auch die Nama, die im Süden des Landes lebten und von den Deutschen "Hottentotten" genannt wurden, den Kampf gegen die Kolonialisten auf. Die meisten Historiker werten den Krieg gegen Herero und Nama als Völkermord, da das Ziel nicht nur Sieg und Unterwerfung waren, sondern Vertreibung und Vernichtung.
Gesicherte Zahlen gibt es nicht, man schätzt, dass 50 bis 70 Prozent der bis zu 100.000 Herero, die um 1900 in Südwestafrika lebten, ums Leben kamen. Von den rund 20.000 Nama kamen bis zu 50 Prozent ums Leben. Tausende starben in Konzentrationslagern, die errichtet wurden, um den Kämpfern die Unterstützung durch die Einheimischen zu entziehen. Zu den verfolgten Völkern gehörten auch die Damara und San. Offiziell wurde das Ende des Kriegs am 31. März 1907 erklärt. Erst 1908 wurden die letzten Konzentrationslager aufgelöst.
Jürgen Zimmerer: Ein Genozid ist nicht nur das Ermorden von Menschen, sondern das gezielte Zerstören von Gemeinschaften und Gesellschaften. Das war hier zweifellos gegeben. Die Herero und Nama haben als Gesellschaften zwar überlebt, aber sie mussten sich nach 1908 im Untergrund teilweise neu erfinden. Auch unterdrückten die Deutschen nach dem Krieg jedes Herero-Bewusstsein. Genozid und Nachkriegszeit lassen sich nicht sauber trennen.
Als Beleg für das Völkermord-Argument wird immer wieder die berüchtigte Proklamation von Generalleutnant Lothar von Trotha vom 2. Oktober 1904 zitiert, in der es heißt, innerhalb der deutschen Grenze werde "jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen". Zwei Monate später wurde dieser Befehl von Kaiser Wilhelm II. aufgehoben. Ist das nicht ein Indiz, das die Deutschen entlastet?
Diese Proklamation hat den Völkermord nicht angeordnet, der war im Oktober 1904 längst im Gange. Schon seit der Flucht der Herero in die wasserlose Omaheke-Halbwüste nach der Schlacht vom Waterberg im August metzelten die deutschen Soldaten alle nieder, deren sie habhaft wurden. Die Proklamation belegt aber die Absicht, alle Herero, auch Frauen und Kinder, in die Omaheke zu treiben.
Ein Todesurteil.
Zum Zeitpunkt der Proklamation waren die Herero schon deutlich entkräftet, weil sie seit Wochen auf der Flucht waren. Von Trotha ließ die Omaheke absperren. Ganz gelang das nicht, aber es zeigt, dass er die Herero vollständig vernichten wollte. Dass der Vernichtungsbefehl acht Wochen nach seiner Proklamation aufgehoben wurde, war im Grunde irrelevant, denn zu diesem Zeitpunkt war der Völkermord schon in großen Teilen vollbracht. Aufgehoben wurde der Befehl auch nicht etwa, weil die Reichsregierung missbilligte, was von Trotha machte, sondern weil es im Ausland und im Reichstag kritische Stimmen gab. Außerdem band das Absperren der Omaheke Truppen, die man im Süden brauchte, denn dort hatten mittlerweile die Nama den Krieg begonnen.
Die Bundesregierung verweist regelmäßig darauf, dass die Völkermordkonvention der Uno in der Bundesrepublik erst sei 1955 gilt und nicht rückwirkend angewendet werden könne. Was halten Sie von diesem Argument?
Raphael Lemkin war ein polnisch-jüdischer Rechtsanwalt, derschon in den 1930er Jahren unter dem Eindruck des armenischen Völkermordes zudem Schluss kam, dass das internationale Recht nicht geeignet ist, solcheVerbrechen zu ahnden. Nach dem deutschen Überfall auf Polen floh Lemkin in dieUSA. Dort prägte er den Begriff des Genozids und sorgte dafür, dass dieVereinten Nationen 1948 Genozid als Verbrechen definierten und anerkannten.
Das ist Unsinn, so kann man nicht argumentieren. Wenn man dieser Logik folgte, müsste die Bundesregierung aus allen Stellungnahmen zum Holocaust das Wort "Völkermord" streichen. Auch der Genozid an den Armeniern wäre dann kein Völkermord. Dabei waren es gerade der armenische Genozid, der Holocaust sowie koloniale Genozide, anhand derer Raphael Lemkin den Begriff des Genozids entwickelte. Auch der Genozid an den Herero und Nama kam in Lemkins (unveröffentlichter) dreibändigen Geschichte des Völkermords vor.
Deutschsprachige Namibier verweisen darauf, dass der DDR-Historiker Horst Drechsler den Krieg gegen Herero und Nama als erster deutscher Historiker "Völkermord" nannte. Die Bezeichnung wäre demnach ein kommunistischer Kampfbegriff im Kalten Krieg.
Dass Drechsler eine bestimmte politische Stoßrichtung verfolgte, ist sicher richtig. Und tatsächlich gibt es bei Drechsler ein paar Stellen, an denen er Quellen recht freizügig kürzt. Aber mittlerweile stützt sich niemand mehr ausschließlich auf Drechsler. Die neuere Forschung fußt längst auf den Originalquellen, nicht auf den Arbeiten von Drechsler.
Kommen wir zu Ihrer These, der Völkermord an den Herero und Nama sei ein "Menetekel" gewesen "für das, was noch kommen sollte". Haben nicht auch andere europäische Nationen vergleichbare Grausamkeiten in ihren Kolonien begangen, ohne in ihren eigenen Ländern auch nur in die Nähe von Taten wie dem Holocaust zu kommen?
Natürlich gab es auch andere koloniale Genozide - ein Beleg für einen deutschen "Sonderweg" ist der Völkermord von 1904 bis 1908 nicht. Aber es ist doch erstaunlich, dass das deutsche Militär innerhalb von 40 Jahren zwei Mal einen Genozid verübt hat. Ich denke, dass der Genozid an den Herero und Nama bereits auf vieles verweist, was im Zweiten Weltkrieg beim Vernichtungskrieg in Osteuropa sowie beim Holocaust ganz massiv zutage trat.
Sie meinen, es gibt eine Verbindungslinie zwischen dem ersten deutschen Genozid und dem Holocaust?
Es gibt keine Kausalität, aber eine Kontinuität zwischen dem Völkermord in Südwestafrika und dem Holocaust. Die Frage ist doch, wie es dazu kommen konnte, dass so viele Deutsche sich am Holocaust und am Vernichtungskrieg in Osteuropa beteiligten. Und eine Antwort ist: Für die deutschen Soldaten war es möglich, ihr Verhalten als ein ganz normales Verhalten in kolonialen Territorien, denn als solches sahen sie Osteuropa an, zu sehen und zu rechtfertigen. Der "Generalplan Ost" beispielsweise sah vor, Millionen Menschen aus Polen und der westlichen Sowjetunion nach Sibirien zu deportieren, wissend, daß die meisten zugrunde gehen würden - ganz so hatte man es mit den Herero in der Omaheke gemacht. In beiden Fällen ging es darum, Völker zu vernichten.
Um "Lebensraum" für deutsche Siedler zu erschließen.
Der Begriff "Volk ohne Raum", der für die Nazis ganz zentral war, geht ja zurück auf den gleichnamigen Roman von Hans Grimm aus dem Jahr 1926, der in Südafrika und Südwestafrika spielt. Dieser Begriff wanderte gewissermaßen nach Osteuropa. Hitler sagte es ausdrücklich: Er wollte ein koloniales Empire, aber nicht jenseits der See. Schließlich war das deutsche Kolonialreich gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs von der Royal Navy isoliert worden und für den Krieg in Europa damit bedeutungslos.
Aber die Vernichtung der europäischen Juden hatte mit der Schaffung von Lebensraum doch nichts zu tun.
Dennoch gibt es Parallelen zwischen dem Antisemitismus und dem Kolonialrassismus - vor allem die Dehumanisierung, die Entmenschlichung von Menschen, ohne die ein solcher Massenmord nicht möglich ist. Aber es gibt auch deutliche Unterschiede: Die Einheimischen in den Kolonien wurden als minderwertig betrachtet. Die Juden wurden zwar auch als minderwertig dargestellt, zugleich aber gab es Ängste vor einer "jüdischen Weltverschwörung". Hier war der Impuls eher ein Minderwertigkeitskomplex der Antisemiten.

Prof. Dr. Jürgen Zimmerer lehrt afrikanische Geschichte an der Universität Hamburg. Er ist Präsident des International Network of Genocide Scholars.
Gab es eine Besonderheit beim Völkermord in Südwestafrika im Vergleich zu anderen kolonialen Genoziden?
Das Singuläre am kolonialen Völkermord der Deutschen ist der Plan, Südwestafrika zu einer Art Musterstaat zu machen. Ich nenne das den "Wahn der Planbarkeit" - als könnte man ein Land, das doppelt so groß ist wie das Deutsche Reich, auf dem Reißbrett so gestalten, dass es perfekt funktioniert, natürlich nach dem Muster einer rassistischen Privilegiengesellschaft. Eine solche Planung gibt es in anderen Kolonien nicht. Auch dabei gab es einen Transfer von Übersee nach Osteuropa: Diesen Planungsgedanken gab es beim Holocaust und beim Krieg in Osteuropa ebenfalls.
Zurück in die Gegenwart: Glauben Sie, dass es überhaupt einen offiziellen Beschluss des Bundestags oder der Bundesregierung braucht, der das Vorgehen gegen die Herero und Nama zum Völkermord erklärt?
Ich gehöre grundsätzlich zu denen, die nicht begeistert sind, wenn die Politik historische Wahrheiten verkündet. Wenn eine Regierung sagen kann, ein bestimmtes Ereignis sei ein Genozid gewesen, dann kann eine andere Regierung auch sagen, dass es nicht so war. Insofern bin ich skeptisch, ob ein Beschluss des Bundestags der richtige Weg ist. Allerdings glaube ich durchaus, dass es der deutschen Regierung gut anstünde, die Ergebnisse der historischen Forschung zur Kenntnis zu nehmen und aufzuhören, von "Aufstand" zu reden oder zu intervenieren, wenn auf einem Gedenkstein das Wort "Völkermord" steht. Denn das ist die Kehrseite: Dass das Auswärtige Amt und andere Regierungsstellen aktiv dagegen opponieren, wenn von Genozid die Rede ist.
Wie fanden Sie das Verhalten der Bundesregierung im vergangenen Herbst, als eine namibische Delegation 20 Schädel von Herero und Nama in Berlin in Empfang nahm, um sie nach Namibia zu bringen? Kein Minister empfing die Delegation, die Übergabe wurde nicht von der Bundesregierung, sondern von der Charité organisiert, dabei gab es nur eine kurze Ansprache von Staatsministerin Cornelia Pieper.
Da hat sich die Bundesregierung blamiert, das war ein Skandal. Das ist nur dadurch erklärbar, dass man das Ausmaß und den Charakter der Gewalt in Namibia zwischen 1904 und 1908 nicht verstanden hat.
Mit Jürgen Zimmerer sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de