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Viele Hindernisse, eine Hoffnung Forscher sieht "letzte Chance", Kurdenfrage friedlich zu lösen

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Viele Menschen reagierten überrascht und skeptisch auf Öcalans Aufruf, sagt Experte Küpeli.

Viele Menschen reagierten überrascht und skeptisch auf Öcalans Aufruf, sagt Experte Küpeli.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Nach 40 Jahren will der inhaftierte PKK-Anführer Öcalan plötzlich den Kampf gegen die türkische Regierung beenden. Ihm winkt möglicherweise die Freiheit, aber was winkt den Kurden, was der Türkei? Ein schmaler Pfad Richtung Frieden, sagt ein Politologe. Oder noch mehr Gewalt.

40 Jahre blutiger Kämpfe hat die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hinter sich. Gestern hat ihr seit Jahrzehnten inhaftierter Anführer Abdullah Öcalan überraschend zur Auflösung der PKK und zum Gewaltverzicht aufgerufen. Seine Erklärung könnte einen Wendepunkt im Konflikt mit dem türkischen Staat markieren. Die PKK selbst folgt dem mit einer Erklärung zu einer umgehenden Waffenruhe. Zuvor hatten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und sein ultranationalistischer Koalitionspartner MHP Kurdenführer Öcalan dessen Freilassung in Aussicht gestellt - unter der Bedingung, dass er die PKK auflöst.

ntv.de: Wie kann ein Mann wie Abdullah Öcalan nach 25 Jahren Isolation noch immer so wichtig sein für die Kurden?

Ismail Küpeli: Gerade, weil er in Isolation ist, ist er so wichtig. Er steht für die kurdische Sache, war lange die zentrale Figur der PKK und hielt ihre verschiedenen Flügel zusammen. Da er nicht in die Tagespolitik eingreift, schwebt er über den Dingen, wenn man so will.

Aus kurdischen Städten hört man, auf die öffentliche Verlesung von Öcalans Aufruf hätten die Menschen nicht mit Jubel reagiert, sondern mit Stille, mit Schweigen. Waren sie überrascht oder vielleicht sogar geschockt?

Definitiv überrascht. Seine Erklärung geht weit über frühere hinaus. Die Selbstauflösung der PKK war bisher nie Thema - allenfalls die Entwaffnung. Die Frage war immer, wann und unter welchen Bedingungen die PKK bereit wäre, ihre Waffen niederzulegen. Ein vollständiges Auflösen der Organisation ist jedoch ein radikaler Schritt.

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und promovierte zur kurdischen Frage in der Türkei.

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und promovierte zur kurdischen Frage in der Türkei.

(Foto: Felix Huesmann)

Ein weiterer Aspekt, der in der Berichterstattung unterging: Öcalan erklärt nicht nur den kurdischen Nationalstaat für einen Irrweg, sondern auch Föderalismus oder Autonomie. Damit rückt er sogar von bisherigen Forderungen nach kultureller Selbstverwaltung ab.

Das muss doch für einige Kurdinnen und Kurden schlicht irritierend sein?

Viele Menschen reagieren überrascht und skeptisch. Manche zeigen aber auch Ablehnung, wollen diesen Schritt nicht akzeptieren. Wir sprechen von weitreichenden Zugeständnissen an die Türkei. Die Frage ist, ob und welche kurdischen Akteure diesem Kurs folgen. Ob die Türkei die politischen und juristischen Voraussetzungen für einen Friedensprozess erfüllen will; zum Beispiel eine Amnestie für PKK-Kämpfer und die Anerkennung der PKK als politische Verhandlungspartei. Bisher ist dazu nichts entschieden von der türkischen Regierung. Das könnten entscheidende Knackpunkte werden.

Aus Deutschland betrachtet wirkt es, als sei lange nichts passiert - und plötzlich gibt Öcalan nach. Täuscht dieser Eindruck?

Der Prozess ist undurchsichtig. Ich habe ihn mehrfach skeptisch kommentiert, weil sein Ausgangspunkt problematisch ist: Er wurde von Devlet Bahçeli, dem Vorsitzenden der rechtsextremen MHP, angestoßen. Ausgerechnet eine Figur, die für den Krieg gegen die Kurden steht. Es gab Gespräche mit Öcalan und zwischen der kurdischen Oppositionspartei und anderen Parteien - doch was genau verhandelt wurde, bleibt unklar.

Die Türkei verhaftet weiter kurdische Politiker, greift Kurden in Nordirak an. Geht Öcalan nicht zu weit auf die türkische Regierung zu? Will er einfach nur aus dem Gefängnis raus?

Persönliche Motive spielen sicher eine Rolle. Aber entscheidend ist, dass die PKK in zehn Jahren Krieg militärisch und politisch nicht vorangekommen ist. Beide Seiten stecken fest - die türkische Regierung ebenso wie die PKK.

Aber warum gibt Öcalan die Forderung nach Selbstverwaltung auf? War das nötig?

Bis 2015 gab es einen Friedensprozess und in ihm zwei große Hindernisse: Erstens die Frage, ob sich die PKK vor einem Friedensprozess entwaffnet. Zweitens: Wie sieht eine Nachkriegsordnung aus? Damals setzte man auf die Anerkennung der kurdischen Identität in Form von föderalen Strukturen oder durch Selbstverwaltung.

Und jetzt?

Jetzt scheint Öcalan jede Form von Autonomie als unrealistisch zu betrachten - vermutlich, weil keine türkische Regierung bereit wäre, den Zentralstaat umzubauen. Offensichtlich ist das sein Ausweg aus der Sackgasse: Forderungen, die er als unrealistisch einschätzt, selber einzukassieren.

Angenommen, das funktioniert. Wie geht es weiter?

Der erste Schritt wäre, dass die PKK Voraussetzungen ausbuchstabiert. Also sagt, was sind für uns Dinge, die wir brauchen, um uns auf den Prozess einzulassen?

Was könnte das sein?

Etwa ihre politische Anerkennung als Verhandlungspartner und eine Amnestie für ihre Mitglieder. Auch müsste festgelegt werden, wie eine Entwaffnung konkret abläuft.

Was müsste die türkische Regierung tun?

Die Türkei müsste aufhören, kurdische Politiker zu verhaften. Dann müsste sie die inhaftierten freilassen, erste Schritte der Demokratisierung einleiten und sich überlegen, wie die PKK als Konfliktpartei politisch eingebunden werden kann. Doch bislang ist schwer vorstellbar, dass Erdogan oder Bahçeli bereit sind, mit der PKK zu verhandeln. Bisher war die Position immer: Wir fahren nicht mit Terroristen. Aber solange die Türkei kurdische Politiker verhaftet und PKK-Stellungen in Nordirak bombardiert, ist ein ernsthafter Friedensprozess ohnehin kaum vorstellbar.

Was, wenn die Türkei nicht auf die Kurden zugeht? Bleibt es dann bei Öcalans Aufruf - und es passiert nichts weiter?

Genau das könnte eintreten - ein Déjà-vu von 2015. Der Friedensprozess war ein paar Schritte vorangekommen, Öcalan hatte eine Roadmap für die nächsten Schritte vorgelegt. Dann aber kam der Prozess zum Erliegen und ein paar Monate später war der Krieg wieder ausgebrochen.

Was würde ein Scheitern 2025 bedeuten - im Vergleich zu 2015?

Dass der Krieg intensiviert wird, auch in der Türkei selbst. Für mich ist das gerade die letzte Möglichkeit, das Ganze noch friedlich zu lösen. Und schon heute sind die Vorraussetzungen schlechter als damals: als es die vergangenen zehn Jahre Krieg noch nicht gab, zehn Jahre nationalistische Hetze und unzählige Tote. Es wird immer schwieriger, sich vorzustellen, wie das enden kann. Es kann trotzdem gelingen. In Nordirland ist es gelungen. Aber dafür braucht es Akteure, die wirklich ein Interesse daran haben, dass der Krieg aufhört. Und ob das jetzt bei Erdogan der Fall ist, das kann man sehr in Frage stellen.

Und wenn Sie sich täuschen?

Das wäre schön.

Mit Ismail Küpeli sprach Lukas Wessling

Quelle: ntv.de

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