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Streit mit Selenskyj Für den Moment bleibt Saluschnyj Befehlshaber

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Armee-Befehlshaber Saluschnyj (m.) ist in der Bevölkerung und bei den Soldaten sehr beliebt.

Armee-Befehlshaber Saluschnyj (m.) ist in der Bevölkerung und bei den Soldaten sehr beliebt.

(Foto: Screenshot Telegram)

Berichten zufolge wollte der ukrainische Präsident Selenskyj Armee-Befehlshaber Saluschnyj entlassen. Dazu kam es nicht. Der General dürfte im Amt bleiben - vorläufig.

Viel ist bisher nicht über den mysteriösen Abend des 29. Januar im ukrainischen Präsidentenbüro in der Bankowa-Straße bekannt ist, jedenfalls nicht gesichert. Trotz einiger Dementis aus der Präsidialverwaltung ist unbestritten, dass es zu einem Treffen zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und Armee-Befehlshaber Walerij Saluschnyj gekommen ist, an dem wohl nur eine weitere Person teilnahm. Das war nicht wie üblich Andrij Jermak, Selenskyjs Stabschef und seine rechte Hand, denn der war an diesem Tag nicht in Kiew, sondern in Uschhorod, wo er sich mit dem ungarischen Außenminister traf. Anwesend war Verteidigungsminister Rustem Umerow.

Bei dem Treffen, das laut den Quellen der ukrainischen BBC-Redaktion in "vollkommen ruhigem Ton" verlief, soll Selenskyj Saluschnyj einen freiwilligen Rücktritt und den Wechsel in eine andere Position nahegelegt haben. Um welche Position es genau ging, ist unklar: Roman Krawez und Roman Romanjuk, renommierte Innenpolitik-Journalisten des angesehenen ukrainischen Online-Mediums "Ukrajinska Prawda", haben diesbezüglich unter anderem sowohl vom Amt des Sekretärs des Sicherheitsrates als auch von der Position des ukrainischen Botschafters bei der NATO gehört. Fest steht, dass Saluschnyj, der im Juli 2021 von Selenskyj selbst zum Befehlshaber ernannt wurde, das Angebot ablehnte. Darüber berichteten die britische "Times" und der "Guardian".

Unklar bleibt, ob zu diesem Zeitpunkt eine halbwegs finalisierte Entscheidung vorlag, etwa ein vorbereitetes Dekret zur Entlassung Saluschnyjs. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerüchte darüber zumindest zum Teil gezielt aus der Umgebung des Generals gestreut wurden, um eine solche Entscheidung aufgrund des zu erwartenden öffentlichen Gegendrucks längerfristig hinauszuzögern. Das scheint zunächst geklappt zu haben: Dass es in den nächsten Tagen zu einer Entlassung des Befehlshabers kommt, ist seit Montagabend unwahrscheinlicher geworden - und eigentlich ist sogar zu erwarten, dass Saluschnyj in rund einer Woche den neuen Entwurf des viel diskutierten Mobilmachungsgesetzes gemeinsam mit Verteidigungsminister Umerow vor dem Parlament vorstellen wird.

Saluschnyjs Entlassung wäre für Selenskyj riskant

Trotzdem hält der gut informierte und präsidentennahe Politologe Wolodymyr Fessenko es nur für "eine Frage der Zeit", bis es zur Freistellung des 50-jährigen Saluschnyj kommt. Ob es dabei um einen Monat oder ein halbes Jahr geht, ist im Moment nicht seriös einzuschätzen. Klar ist: Die Entlassung des in der Ukraine sehr beliebten Generals, die laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts 72 Prozent der Ukrainer negativ bewerten würden, wäre für Selenskyj ein politisches Risiko und auch sonst wohl keine gute Idee. Ebenfalls scheint es aber Fakt zu sein, dass die Differenzen zwischen den beiden mit Abstand beliebtesten öffentlichen Figuren des Landes inzwischen größer geworden sind.

Präsident Selenskyj ist offenbar nicht nur mit der aktuellen militärischen Lage unzufrieden, sondern auch damit, dass Saluschnyj keine wirklichen Ideen auf den Tisch bringt, um diese zu verbessern. Saluschnyj selbst scheint dagegen der Meinung zu sein, als schaue das Präsidentenbüro zu optimistisch auf die militärische Lage. Wo hier die Wahrheit liegt, ist schwer bis unmöglich zu sagen. An der Reputation Saluschnyjs als grundsätzlich kompetenter Kommandeur mit oft unerwarteten Ideen gibt es keine Zweifel. Gleichzeitig lässt sich auch nicht sagen, dass es keine berechtigten Fragen an den Befehlshaber gibt.

Es gibt durchaus legitime Kritik an der Armee

So waren verbale Angriffe der Abgeordneten Marjana Besuhla von der Präsidentenfraktion ein beherrschendes Thema der ukrainischen Innenpolitik der vergangenen Monate. Einige Attacken der Verteidigungspolitikerin gegen Saluschnyj waren so scharf, dass selbst die meisten Vertreter der Selenskyj-Partei "Diener des Volkes" sie als unangebracht ansahen. Zugleich gibt es in der Ukraine kaum einen Experten, der bestreiten würde, dass viele der von Besuhla angesprochenen Probleme tatsächlich existieren: eine immer noch zu sehr sowjetisch geprägte Armeeführung, zu viel Bürokratie und Papierarbeit - und auch die teils mangelhafte Planung der Offensivoperation von 2023, die allerdings mit den vom Westen gelieferten Mitteln ohnehin nicht die ganz großen Erfolgschancen hatte.

Ein weiterer Punkt ist das schwierige Mobilisierungsthema. Gegen Jahresende äußerte sich Saluschnyj mit deutlicher Kritik an der Entscheidung, alle Leiter der regionalen Einberufungsbüros zu entlassen. Dieser Schritt des Präsidenten, eine Reaktion auf Korruptionsskandale, führte zwar zwischenzeitlich zu mehr Chaos. Saluschnyjs Vorschlag dazu war aber lediglich, die Mobilisierung im "alten Rahmen" zurückzubringen, obwohl bekannt ist, dass die Mobilisierungspläne schon vorher nicht erfüllt wurden, und sich die Armeeführung zuvor Reformversuchen verweigert hatte.

Auch gibt es Diskussionen darüber, wie viele Menschen im laufenden Jahr mobilgemacht werden sollen. Klar ist zwar, dass die Armee immer mehr Soldaten brauchen wird. Doch während der zivile Haushalt der Ukraine fast ausschließlich aus ausländischen Hilfen und Krediten besteht, fließen so gut wie alle Steuereinnahmen ins Militär. Die Mobilmachung sorgt für noch weniger Steuerzahler. Hier die Balance zu finden, ist schwierig.

Genügend Gründe für Spannungen

Doch inwiefern gibt es die angeblich "persönliche Rivalität" zwischen Selenskyj und Saluschnyj wirklich? Dem Präsidentenbüro dürften weniger die höheren Vertrauenswerte von Saluschnyj auf die Nerven gehen als die Tatsache, dass die Opposition um Ex-Präsident Petro Poroschenko das Thema Saluschnyj vs. Selenskyj gern ausspielt. Aber auch unabhängig davon gibt es genügend Anlässe für Spannungen. So soll es an der Bankowa-Straße nicht gut angekommen sein, dass Saluschnyj gegen Ende 2023, mitten in der schweren Frontsituation, promovierte - und zwar an einer Universität, deren Leiter als Chef der zentralen Wahlkommission 2004 die Stichwahl zugunsten von Wiktor Janukowytsch fälschte. Dies löste damals die Orangene Revolution und die Wiederholung der Stichwahl aus.

Auch Saluschnyjs Artikel im britischen "Economist" dürfte kaum zur Verbesserung seiner Beziehungen zum Präsidenten beigetragen haben - eher nicht wegen des Inhalts, sondern weil die Publikation offenbar nicht mit der politischen Führung abgesprochen war. Es ist gut möglich, dass eine Reihe von Kleinigkeiten dieser Art in der Summe zu einer Ausgangslage beigetragen hat, bei der eine konstruktive Zusammenarbeit schlicht nicht mehr möglich ist. Eine Entlassung Saluschnyjs würde in der Ukraine zwar kaum zu Massenprotesten, aber sicher zu einer Verringerung des Vertrauens in Selenskyj führen. Vor allem wird sie den General, der bislang keine politischen Ambitionen zeigt, noch stärker als sonst in die Politik drängen.

Andererseits: Militärisch steht für die Ukraine 2024 ohnehin zuerst die aktive Defensive an - und es ist nicht zu erwarten, dass sich die Lage an der Front zumindest im ersten Halbjahr bedeutend verbessert. Das brächte einen potenziellen Saluschnyj-Nachfolger noch stärker unter Druck. Medial wird vor allem über zwei Kandidaten gesprochen: den Chef des Militärgeheimdienstes HUR, Kyrylo Budanow, und den Kommandeur der Landstreitkräfte, Oleksandr Syrskyj, der sowohl für die Verteidigung von Kiew als auch für die Befreiung des Bezirks Charkiw verantwortlich war.

Mögliche Nachfolger werden bereits diskutiert

Dass der Geheimdienstler und "Profi-Saboteur" Budanow für die Planung von strategischen Operationen geeignet ist, wird aber angezweifelt. Syrskyj dagegen ist zwar tatsächlich der erfolgreichste General in diesem Krieg. Der gebürtige Russe wurde in Moskau militärisch ausgebildet und spricht Ukrainisch weiterhin mit russischem Akzent. Um seine Person herum gibt es nicht nur deswegen viele Spekulationen: Am Rande des Konfliktes zwischen Selenskyj und Saluschnyj ist in Teilen der Gesellschaft das Image eines "Kanonenfuttergenerals" entstanden, das so nicht zwingend der Realität entspricht, jedoch nicht zuletzt deswegen verbreitet wird, weil Syrskyj gute Beziehungen zum Präsidentenbüro zu pflegen scheint.

Seine Ernennung wäre unter aktuellen Umständen sicher eher suboptimal. Und so ist es gut vorstellbar, dass eine dritte Figur den Job übernimmt. Ein guter Kandidat dafür wäre der 44-jährige General und Fallschirmjäger Jewhen Mojsuk, der aktuell zu Saluschnyjs Stellvertretern zählt und nicht nur als talentiert, sondern als konfliktfrei gilt. Jedoch könnte es auch eine überraschende Personalie werden - wenn es überhaupt in naher Zukunft einen Wechsel gibt. Im vergangenen Jahr verging nach ersten Gerüchten um die Entlassung von Verteidigungsminister Oleksij Resnikow mehr als ein halbes Jahr, bis die Entscheidung tatsächlich fiel. Seinen Nachfolger Rustem Umerow hatte lange niemand auf dem Zettel.

Quelle: ntv.de

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