Jahrespressekonferenz in Kiew Das Thema Saluschnyj kann Selenskyj nicht abräumen


"Persönliche Beziehungen habe ich nur mit meiner Frau", sagte Selenskyj zum Thema Saluschnyj.
(Foto: dpa)
Eine Woche nach Putin gibt auch der ukrainische Präsident Selenskyj eine Pressekonferenz, um das Jahr zu bilanzieren. Anders als bei der Show in Moskau spart Selenskyj heikle Themen nicht aus. Den russischen Diktator nennt er einen "kranken Menschen".
Größer hätte der Unterschied zwischen der Jahrespressekonferenz des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und der PR-Veranstaltung des russischen Machthabers Wladimir Putin in der vergangenen Woche kaum sein können.
Putin hatte das heiße Thema der Rückkehr der im September 2022 mobilgemachten Soldaten komplett ignoriert, obwohl es in Russland dazu seit einiger Zeit Proteste von Soldaten-Frauen und -Müttern gibt. Er versprach lediglich - wenig überzeugend -, dass es keine weitere Mobilmachung geben würde. Zudem beantwortete er nur zwei Fragen von in Moskau akkreditierten Auslandskorrespondenten; von Journalisten also, die kaum bereit sein dürften, ihre Fragen vorab mit dem Kreml abzustimmen.
Selenskyj dagegen fing gleich mit dem schweren und heiklen Thema an. Sowohl die Mobilmachung als auch die Demobilisierung bezeichnete er nicht überraschend als äußert komplizierte Frage. Der beliebte Armee-Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj sowie der ukrainische Generalstab hätten ihm vorgeschlagen, zwischen 450.000 und 500.000 weitere Soldaten zu mobilisieren, unter anderem, um neue Offensivoperation durchführen zu können. "Ich brauche jedoch mehr Argumente, warum so viele Menschen notwendig sind", betonte der 45-Jährige, der bei seiner Pressekonferenz einige der Kritikpunkte ansprach, die Vertreter seiner Partei Diener des Volkes mit Blick auf die der Militärplanungen der vergangenen Wochen angesprochen hatten. In der ukrainischen Öffentlichkeit hatte dies zu Diskussionen über das Verhältnis von Selenskyj und Saluschnyj geführt.
Mobilmachung von Frauen nicht geplant
Selenskyj bestritt zwar jeglichen persönlichen Konflikt mit Saluschnyj, der noch am Montag die im August durchgeführte Entlassung aller Chefs der regionalen Einberufungsämter kritisiert hatte. Auf den Einwand, warum er das Thema seiner Beziehung zu Saluschnyj nie eindeutig kommentiere, sagte Selenskyj: "Warum muss ich denn dieses Thema überhaupt weiterführen? Zu Saluschnyj habe ich ein Arbeitsverhältnis. Persönliche Beziehungen habe ich nur mit meiner Frau."
Gleichzeitig ließ der Präsident durchblicken, dass es eben doch Differenzen gibt. Zum einen, dass in den aktuellen Entwürfen des Generalstabs das Thema der Demobilisierung fehlt. "Wenn es eine weitere großangelegte Mobilmachung gibt, dann muss es auch einen festgeschriebenen Demobilisierungsprozess geben, wie auch immer er dann tatsächlich heißt und wie dieser konkret aussieht", so Selenskyj.
Zum anderen betonte er den wirtschaftlichen Aspekt. Um mehr als 450.000 Menschen mobilzumachen, brauche die Ukraine umgerechnet mehr als 12 Milliarden Euro. "Ich will bei dieser Frage auch die Zivilisten etwas in Schutz nehmen", sagte der seit 2019 amtierende Präsident. "Man muss verstehen, welcher finanzielle Beitrag geleistet werden muss, um Gehälter an die Soldaten zu zahlen. Ein Soldat gleicht sechs Zivilisten, die Steuern zahlen. Das bedeutet plus drei Millionen Steuerzahler ab Januar. Wo soll ich die finden?" Selenskyj erteilte dem Vorhaben keine endgültige Absage, unterstrich aber, dass er gern mehr Argumente hören würde - genauso wie für die vom Parlament schon länger beschlossene Senkung des Einberufungsalter für die Front von 27 auf 25 Jahre, der er grundsätzlich aber zustimme. Spekulationen über die Mobilmachung von Frauen erteilte Selenskyj indessen eine kategorische Absage.
"Über Planungen für 2024 werde ich nichts sagen"
Militärisch gesehen bekräftigte der Präsident das strategische Festhalten an dem Ziel, das gesamte Territorium der Ukraine zu befreien, einschließlich der 2014 besetzten Gebiete. "Angesichts der Bewertungen der Offensivoperationen von 2023 könnte aber die Taktik verändert werden", sagte Selenskyj. Bis Jahresende sollen diesbezügliche Entscheidungen getroffen werden, über die der Präsident aber in jedem Fall keine Auskunft geben will: "Wir hatten auch deswegen Schwierigkeiten im Süden, weil alle ständig darüber gesprochen haben, welche Ziele wir haben und wie diese erreicht werden sollen." So funktioniere das aber mit Russland nicht, das schlicht mehr Waffen habe. "Deswegen kann und werde ich über Planungen für das nächste Jahr nichts sagen."
Als weiteren Grund, warum 2023 militärisch nicht so lief wie gewünscht, nannte Selenskyj die fehlende Stärke der Luftwaffe. Jedoch habe auch Russland kein strategisches Ziel erreicht. "Sie sprachen erst von drei Tagen [bis zum Sieg] und dann von den besetzten Gebieten in vollen Grenzen", also der vollständigen Eroberung der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, die Russland bis heute nicht erreicht hat. "Na gut, es sind nun keine drei Tage, sondern zwei Jahre", betonte Selenskyj, der in diesem Zusammenhang von den "Drei-Tages-Plänen eines kranken Menschen" sprach. Den Krieg im Nahost hält der ukrainische Präsident aber für einen "diplomatischen Sieg" Russlands. Für die Ukraine sei das Problem die Priorisierung der Hilfen: Die einen Partner würden sagen, dass der Ukraine selbstverständlich zuerst geholfen werden müsse, die anderen würden das etwas anders sehen.
Dank an Scholz
Nach den jüngsten Reisen Selenskyjs nach Südamerika, in die USA sowie in einige europäische Länder sei die Aufmerksamkeit für die Ukraine aber wieder größer geworden. "Ich bin mir sicher, dass die USA uns nicht verraten werden", kommentierte er die noch immer andauernde Debatte zwischen den Demokraten und den Republikanern im US-Kongress. Er hoffe weiter auf eine schnelle Lösung.
Das gilt auch für den ausstehenden Beschluss der EU über Finanzhilfen an die Ukraine in Höhe von 50 Milliarden Euro, die durch Ungarn blockiert werden. Selbst wenn Ungarn nicht zustimmen sollte, gebe es Möglichkeiten, dass die EU das Geld freigebe. Und Selenskyj wies darauf hin, dass Deutschland der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine sei und er Bundeskanzler Olaf Scholz persönlich sehr dankbar sei - dass man aber auch sehen müsse, was "so lange wie nötig" in der Praxis bedeute.
Optimistisch, aber nicht "überoptimistisch"
Mit Blick auf einen möglichen Wahlsieg von Donald Trump im November 2024 sagte Selenskyj lediglich, dass es sicherlich eine etwas andere Politik im Weißen Haus geben werde. Die Idee, mit nur einem Teil der Ukraine in die NATO einzutreten und lediglich das von Kiew kontrollierte Territorium unter den Schutz des Artikels 5 zu stellen, lehnte Selenskyj ab.
Insgesamt strahlte der ukrainische Präsident vorsichtigen Optimismus aus, was als Staatsoberhaupt ja auch sein Job ist. Er hatte auch eine deutliche Antwort auf die Fragen westlicher Journalisten, ob er Angst davor habe, dass die Ukraine diesen Krieg noch verlieren und die russische Abnutzungsstrategie langfristig aufgehen könne. Er trat zugleich nicht als der "überoptimistische Selenskyj" auf, als der er gelegentlich im Gegensatz zum "nüchternen Saluschnyj" im Westen dargestellt wird. Als er sagte, dass niemand wisse, ob der Krieg 2024 zu Ende gehe, meinte er offenbar nicht nur, dass ein noch viel längerer Krieg sehr wahrscheinlich ist, sondern dass es auch ganz anders kommen könnte als von den meisten Experten vorausgesagt.
Klar ist aber auch: Die innenpolitischen Spekulationen über Spannungen zwischen Selenskyj und Saluschnyj werden nach diesem Auftritt nicht aus den ukrainischen Medien verschwinden, auch wenn Saluschnyj selbst aktuell praktisch unantastbar ist: Der jüngsten Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts zufolge vertrauen ihm 88 Prozent der Menschen in der Ukraine.
Quelle: ntv.de