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Klage wegen Völkermord Kann der Internationale Gerichtshof Israel stoppen?

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Israelische Soldaten während einer Militäroperation im Gazastreifen Anfang Januar.

Israelische Soldaten während einer Militäroperation im Gazastreifen Anfang Januar.

(Foto: IMAGO/Xinhua)

Ab heute verhandelt der Internationale Gerichtshof darüber, ob Israel in Gaza einen Genozid verübt. Auch wenn viele Argumente dagegen sprechen, birgt schon der Prozess für Israel ein hohes Risiko.

Seit Tag 1 des israelischen Gegenschlags im Gazastreifen gehen die Bilder verwundeter und getöteter Kinder um die Welt: Der Gegenangriff auf die Terroristen der Hamas nach deren Massaker vom 7. Oktober forderte seitdem Tausende zivile Opfer unter der palästinensischen Bevölkerung. Zunächst im Norden Gazas, das die israelischen Streitkräfte zu evakuieren versuchten, dann jedoch auch im Süden des kleinen Landstreifens, wohin viele Menschen gemäß den israelischen Anweisungen geflohen waren.

Für die Massivität seiner Angriffe hat sich Israel von vielen Seiten Vorwürfe eingehandelt - die schweren Raketenangriffe in dem dicht besiedelten Gebiet seien nicht verhältnismäßig, noch weniger sei es die einige Zeit später begonnene Bodenoffensive. Die Regierung Südafrikas hat es nicht bei Kritik belassen: Sie verklagte Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH), wo heute in Den Haag der Prozess beginnt. Die Klage könnte kaum schwerer auf den Israelis lasten: Gegen den Vorwurf, in Gaza einen Genozid, also Völkermord, zu begehen, muss sich Israel vor dem IGH zur Wehr setzen - der schwerste Straftatbestand im internationalen Völkerrecht.

Israel drohe eine Verfügung, seine Kampfhandlungen einzustellen

Bis der IGH ein Urteil zur Klage Südafrikas spricht, werden schätzungsweise Jahre vergehen. Was allerdings Israel schon jetzt droht, könnte eine Verpflichtung sein, alle Kampfhandlungen bis zum Ende des Prozesses einzustellen. Südafrika hat bei Gericht angesichts der langen Dauer des Verfahrens beantragt, dass es Israel per einstweiliger Verfügung zum einseitigen Waffenstillstand auffordert. Mit der Begründung, es drohe ein Völkermord, wenn der Krieg weiterginge. Ob das Gericht der südafrikanischen Argumentation folgt, ist schwer vorherzusehen, wird sich aber bald zeigen.

Bislang sahen internationale Völkerrechtler kaum Anlass, Israel eine Absicht zum Genozid in Gaza zu unterstellen. Denn Völkermord definiert sich nicht danach, wie viele zivile Opfer ein Krieg fordert. Entscheidend ist hingegen die hinter den Angriffen stehende Absicht. Bei einem Genozid erfolgen die Angriffe laut Völkerstrafrecht mit dem Ziel, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Es geht darum, eine Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe auszulöschen.

Eine so menschenverachtende Zielsetzung ist zumeist nur schwer nachzuweisen. Selbst im Falle der Ermordung von geschätzten sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nazis waren die schriftlichen Dokumente zum beschlossenen Völkermord nicht eindeutig: Auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 wurde zwar die Deportation aller europäischen Juden in Vernichtungslager akribisch organisiert und koordiniert, schriftlich festgehalten im Protokoll wurde das aber als Plan zur "Evakuierung" der Juden nach Osten.

So muss die Absicht zum Auslöschen der Bevölkerungsgruppe in der Regel über konkrete Handlungen bewiesen werden - solche, die nur mit dieser Zielsetzung Sinn ergeben. Kommen etwa in einem Krieg immer wieder Zivilisten zu Tode, ohne dass mit den Angriffen ein militärisches Ziel verbunden war, dann liegt der Verdacht eines Genozids nahe. Ebenso weisen Angriffe auf kulturelle Stätten oder Baudenkmäler darauf hin, dass hier eine Bevölkerung samt ihrem kulturellen Erbe ausgelöscht, ihre Identität getilgt werden soll.

Verschleppte Kinder wären Zeichen für einen Genozid

Versuchen die Angreifer zudem, die Bevölkerungsgruppe ihrer Zukunft zu berauben, indem sie etwa Kinder töten, aus ihren Familien reißen, sie verschleppen und umerziehen, dann ist das ein sehr deutliches Zeichen für einen Genozid. Ebenso können junge Frauen und Männer derart verletzt werden, dass sie unfruchtbar werden oder ihre Zeugungsfähigkeit einbüßen. Auch das lässt darauf schließen, dass eine ganze Bevölkerungsgruppe für immer vernichtet werden soll.

Gibt es aber Hinweise, dass der israelische Staat die Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung beabsichtigt? Zunächst einmal wird der Angriff auf die im Gazastreifen verschanzten Hamas-Terroristen von der internationalen Gemeinschaft mehrheitlich als legitimer Verteidigungskampf nach deren Angriff vom 7. Oktober gewertet. Doch heißt das nicht, dass für diesen Kampf keine Regeln gelten würden.

Israel sieht sich seit Beginn seines Gegenschlags in Gaza massiver Kritik ausgesetzt. Zunächst für die Kappung von Strom- und Wasserlieferungen. Dies traf die gesamte Bevölkerung und wurde von vielen Fachleuten als unzulässige "Kollektivstrafe" gewertet. Dazu kommt, dass die offizielle, von den Gesundheitsbehörden der Hamas herausgegebene Opferzahl inzwischen bei über 23.000 liegt und von Hilfsorganisationen vor Ort als realistisch eingeschätzt wird. Auch wenn diese Zählung nicht zwischen Hamas-Kämpfern und zivilen Opfern unterscheidet, wird die Zahl toter oder verletzter Zivilisten in Gaza als wesentlich zu hoch erachtet und international auch von erklärten Unterstützern Israels deutlich kritisiert - erst in dieser Woche von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock und von ihrem US-Amtskollegen Anthony Blinken.

Der israelische Vormarsch macht vor Einrichtungen wie Krankenhäusern, Schulen oder Moscheen nicht halt, obwohl das Völkerrecht zunächst einmal verlangt, solche zivilen Gebäude und Personen, die sich darin befinden, zu verschonen. Allerdings gilt dieser grundsätzliche Schutz nur, solange die Gegenseite die Klinik oder den Kindergarten nicht für militärische Zwecke missbraucht. Werden etwa vom Dach eines Krankenhauses aus Raketen abgeschossen, wird das Gebäude damit zu einem legitimen militärischen Ziel. Nun muss abgewogen werden, wie viele zivile Opfer "vertretbar" sind, um die militärische Stellung zu zerstören.

"90 Prozent der Opfer moderner Kriege sind Zivilisten"

Solches Gegenrechnen von erwartetem militärischen Ertrag sowie unvermeidbaren erwarteten Opfern erscheint brutal. Der Schutz zivilen Lebens steht nicht über allem? Tatsächlich: Nein. Das Völkerrecht akzeptiert diese Brutalität des Krieges und es akzeptiert, dass Kriegsparteien gewinnen wollen. Erwartet wird von ihnen nicht, zivile Opfer komplett zu vermeiden, denn das wäre unrealistisch, gerade bei moderner Kriegsführung. "90 Prozent der Opfer moderner Kriege sind nicht Soldaten, sondern Zivilisten", sagt der US-Militärexperte John Spencer in seinem "Urban Warfare Project Podcast". Denn sie werden inmitten der Bevölkerung ausgetragen, so auch im Gazastreifen. Das Völkerrecht erwartet von den Kriegsparteien hinreichende Bemühungen, um die Zivilbevölkerung so gut wie nur möglich zu schonen.

Das israelische Militär versuchte gerade in der Anfangsphase des Krieges immer wieder, die in Nord-Gaza lebenden Palästinenser per Handy-Nachrichten und Flugblättern in den Süden des Streifens zu evakuieren - ein Versuch, die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung gering zu halten und damit ein Gebaren, das den Forderungen des Völkerrechts folgt und dem Vorwurf des Genozids klar widerspricht.

Von Beginn an bemühten sich die Streitkräfte ebenso, ihr Vorgehen zu erklären und über die militärischen Strategien und Erfolge Auskunft zu geben. In unzähligen Videos seit Beginn des Gegenschlags präsentierten israelische Truppen von ihnen ausgehobene Waffen- und Munitionslager der Hamas sowie freigelegte Tunnelsysteme. Die Botschaft war klar: Uns geht es hier um militärische Ziele. Das widerspricht dem Vorwurf, Israel kämpfe mit der Intention, die Bevölkerung in Gaza auszulöschen.

Der Genozid-Vorwurf wird immer wieder vor allem von Hilfsorganisationen vor Ort vorgebracht, auch von hochrangigen UN-Vertretern, während jedoch Völkerrechtler sich ihm kaum anschließen. Das spricht dafür, dass die NGOs womöglich den Fehler machen, eine inakzeptabel hohe Zahl an zivilen Opfern im Krieg mit Völkermord gleichzusetzen.

Das Gericht hat Entscheidungsspielraum

Der Internationale Gerichtshof schaut juristisch auf die Lage, daher ist kaum zu erwarten, dass die 15 Richterinnen und Richter Israels Angriffe mit Völkermord gleichsetzen. Die von Südafrika beantragte einstweilige Verfügung, wegen eines in der Zukunft drohenden Genozids die Kampfhandlungen einzustellen, lässt dem Gericht allerdings einigen Spielraum. Denn hier geht es um eine Einschätzung: Könnte aus Israels weiterem Vorgehen in der Zukunft noch ein Völkermord erwachsen?

Dass Teile von Israels rechter Regierungskoalition voller Hass auf die Palästinenser blicken, lässt sich ihren Äußerungen entnehmen - unter anderem brachte ein Minister den Abwurf einer Atombombe über Gaza ins Spiel. Doch solange Regierungschef Netanjahu sich von solchen Aussagen distanziert, taugen sie wohl kaum als Beleg für eine Völkermord-Absicht.

Schwerer wiegen da vermutlich die Vorwürfe, Israel würde besonders brutale Waffen einsetzen, zum Beispiel bunkerbrechende 900-Kilo-Bomben, die in der Lage sind, tief in der Erde verlaufende Tunnel freizulegen, deren Sprengkraft aber ebenso ganze Häuserblocks zerstören kann. Um derartige Bomben in einem Wohngebiet einzusetzen, muss man bereit sein, eine hohe Zahl an zivilen Opfern wissentlich in Kauf zu nehmen. Würde man Israel juristisch nachweisen, für seine militärischen Ziele buchstäblich "über Leichen zu gehen", so könnte das gemäß dem Völkerrecht als Kriegsverbrechen gelten. Dennoch würde weiterhin die Tötungsabsicht fehlen, die den Vorwurf des Genozids begründen müsste.

Der Staat Israel wird sich in Den Haag gegen den Völkermord-Vorwurf zur Wehr setzen. Denn auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich erscheint, dass der Gerichtshof die Einstellung der Kampfhandlungen verlangen wird - die Möglichkeit besteht. Und gefährlich ist dieser Prozess für Israel auch ohne ein solches Ergebnis. Denn die erklärten Partnerländer des jüdischen Staates, allen voran die USA, nehmen ihn zur Kenntnis und könnten angesichts der verhandelten Vorwürfe damit drohen, ihre Unterstützung zu entziehen. Israel muss darum alles daran setzen, vor Gericht zu erreichen, dass der Genozid-Verdacht als haltlos erachtet wird.

Quelle: ntv.de

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