"Der Vorwurf steht im Raum" Verübt Israel einen Genozid im Gazastreifen?
09.11.2023, 19:26 Uhr Artikel anhören
Im Rahmen von pro-palästinensischen Demonstrationen wie hier Berlin werden Israel immer wieder genozidale Absichten vorgeworfen.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Seit Ausbruch des Gaza-Krieges hält sich die Behauptung, Israel begehe einen Völkermord an den Palästinensern. Aber was ist dran an dem Vorwurf? Die Einschätzung von Rechtsexperten ist eindeutig - auch im Hinblick auf die Massaker der Hamas.
Pro-palästinensische Demonstranten weltweit beschuldigen Israel, einen Völkermord im Gazastreifen zu begehen. "Das ist ein Genozid" steht so oder so ähnlich auf unzähligen Plakaten und Transparenten. Ein schwerwiegender Vorwurf, der nicht nur auf der Straße erhoben wird. Die internationale Sektion von Fridays for Future, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan oder Kabinettsmitglieder in Spanien, vereinzelt auch NGOs - sie alle eint der Genozid-Vorwurf gegen Israel.
Kein Straftatbestand im internationalen Völkerrecht wiegt schwerer. Unter dem Eindruck des Holocaust beschlossen die Vereinten Nationen 1948 eine Konvention, die einen Genozid oder gleichbedeutend Völkermord unter Strafe stellt. Dem vorausgesetzt ist die Absicht, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören" - so steht es im Völkerstrafrecht. Das Delikt setzt also zwei Bestandteile voraus: die eigentliche Tat und das Motiv dahinter.
Aber trifft das auf Israels Kriegsführung in Gaza zu? Dort hat die israelische Armee nach eigenen Angaben bislang 14.000 Ziele angegriffen. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde in Gaza meldet mehr als 10.000 Tote. Ausgelöst hat den Krieg aber erst der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem rund 1400 Menschen ermordet und Hunderte weitere verschleppt worden sind.
"Entscheidend ist die Zerstörungsabsicht"
"Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Israel einen Völkermord begeht", sagt der Völkerrechtler Stefan Talmon im Gespräch mit ntv.de. Zweifelsohne sterben im Gazastreifen Zivilisten. "Entscheidend ist aber die Zerstörungsabsicht - und daran knüpft das Völkerrecht sehr hohe Hürden", so der Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn.
Für den Gazastreifen erklärt Talmon das so: Es werden zwar Mitglieder einer Gruppe - die Palästinenser - von Israel getötet. Bei Bombenabwürfen auf ein von vielen Zivilisten bewohntes Gebiet könnte das womöglich sogar vorsätzlich geschehen. Um von einem Völkermord zu sprechen, müsste hinter diesen Tötungen aber die alleinige Absicht stehen, die Palästinenser ganz oder teilweise auszulöschen. "Das sehe ich hier weit und breit nicht", sagt Talmon.
Zum einen habe Israel im Rahmen der Selbstverteidigung das Recht, Gewalt anzuwenden. Zum anderen sei es das erklärte Ziel der israelischen Regierung, die Hamas als Terrororganisation zu zerstören und nicht das palästinensische Volk. Allerdings greifen einzelne Politiker des Landes zu einer deutlich radikaleren Rhetorik. Zuletzt sorgte der israelische Minister für Kulturerbe, Amihai Eliyahu, für Aufsehen, weil er den Abwurf einer Atombombe auf Gaza als "eine Option" bezeichnet hatte.
Ist das nicht eine klare Zerstörungsabsicht? "Es kommt immer auf den Kontext an", sagt Talmon. Ein Regierungschef, der die offizielle Regierungslinie vorgibt, könne unter Umständen völkerrechtlich bindende Aussagen treffen. "Wenn aber ein Kultur- oder Schulminister so etwas sagt, dann ist das völkerrechtlich irrelevant." Tatsächlich hat sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu von dieser Aussage distanziert und den Minister vorläufig suspendiert.
Kriegsverbrechen sind nicht gleich Genozid
Zudem betont Talmon die Unterscheidung zwischen einem Genozid und Kriegsverbrechen. "Die Blockade des Gazastreifens ist völkerrechtswidrig. Und auch beim Abwurf einzelner Bomben sehe ich Anhaltspunkte, die auf Kriegsverbrechen hindeuten." Nimmt man jedoch allein tote Zivilisten oder Kriegsverbrechen als Maßstab, wäre jeder Krieg ein Völkermord - und der Begriff damit ausgehöhlt.
Der Völkerrechtler Wolff Heintschel von Heinegg kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. "Man kann der israelischen Regierung in vielfacher Hinsicht kritisch gegenüberstehen. Aber hier von einem Genozid zu reden, geht weit über das hinaus, was dort passiert", sagt er ntv.de. Er sieht die Tendenz, dass mit rechtlichen Begriffen Politik gemacht werde. "Der Genozid-Vorwurf steht dann erstmal im Raum. Den wieder aus der Welt zu schaffen, ist gar nicht so einfach."
Ein Völkermord muss letztlich durch Gerichte festgestellt werden. Wendet man die Kriterien jedoch auf den Gaza-Krieg an, trifft der Vorwurf laut Talmon nur auf eine Partei zu: die Hamas. In ihrer Charta aus dem Jahr 1988 formuliert die Terrorgruppe das Ziel, den Staat Israel von der Landkarte zu tilgen. Diese Zerstörungsabsicht der Hamas werde in den Massakern vom 7. Oktober deutlich, so Talmon. "Wenn ich unterschiedslos jeden jüdischen Menschen umbringe, vom Baby bis zur Rentnerin, dann ist das ein Genozid", sagt er.
Quelle: ntv.de