Drei Phasen für den Gazastreifen Wie der "Tag danach" in Gaza aussehen muss
19.12.2023, 09:45 Uhr Artikel anhören
Der Gazastreifen steht vor einer Stunde Null.
(Foto: REUTERS)
Da Israel nicht dauerhaft im Gazastreifen bleiben kann und will, braucht es eine Exit-Strategie. Denn die Geschichte lehrt: Ein Abzug bringt nicht automatisch Frieden und Sicherheit.
Die Zukunft des Gazastreifens muss jetzt diskutiert werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Debatte, wie der Landstrich nach dem Krieg aussehen soll, nicht weiter auf die lange Bank zu schieben. Denn das Fehlen eines nachhaltigen Plans hindert die Bewohner des Gazastreifens daran, eine echte Zukunft zu haben, und es gefährdet Israel auf Generationen hinaus. Ohne einen Plan besteht die Gefahr weiterer Zusammenstöße und Kriege.
Während israelische Panzer den Gazastreifen zurückerobern, hat die Diskussion über den Abzug bereits begonnen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Israel sich bereits zweimal aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat: 1994 gab es infolge des Oslo-Abkommens einen Abzug aus den Städten und einem Großteil des Gazastreifens, gefolgt von dem vollständigen und einseitigen Rückzug 2005 unter Premierminister Ariel Scharon.
Dieses Mal, bevor Israel sich zum dritten Mal aus Gaza zurückzieht, wird es sicherstellen müssen, dass sich dort keine neuen Bedrohungen entwickeln, die es zwingen würden, den Gazastreifen erneut zu besetzen und dann wieder abzuziehen. Um das zu erreichen, kann Israel es sich nicht länger leisten, die Lehren aus der Vergangenheit zu ignorieren.
Die Geschichte zeigt, dass eine Besatzung, auf die Unsicherheit und ein Mangel an eindeutig erreichbaren Zielen folgt, die Gefahr von Widerstand, Guerillakrieg und verlängerten Konflikten birgt. Speziell für den israelisch-palästinensischen Konflikt scheint ein einseitiger Rückzug weder für die eine noch für die andere Seite Frieden und Sicherheit zu garantieren. Israel muss sicherstellen, dass es vor seinem Abzug einen Partner gibt, der die Verantwortung für das Territorium übernimmt und bereit ist, Gaza zu entmilitarisieren und den Terrorismus zu stoppen. Wenn das Ende des Krieges nicht zu Frieden und Sicherheit für beide Nationen führt, werden wir weiterhin alle paar Jahre einen Kreislauf von Terrorismus, Besatzung und Rückzug erleben.
Ein Rückzug bringt nicht automatisch Frieden
Beim jüngsten Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 übertrug Israel die Sicherheit und zivile Kontrolle an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) von Präsident Mahmud Abbas. Infolge eines Militärputsches der Hamas im Jahr 2007 wurde der Gazastreifen jedoch faktisch zu einem unabhängigen Staat, der von einer Terrororganisation kontrolliert wird, die sowohl Israel als auch der PA feindlich gesinnt ist.
Die Palästinensische Autonomiebehörde war nicht in der Lage, den Gazastreifen zu kontrollieren. Aber welche Konsequenzen zog sie daraus? Leider hat die Palästinensische Autonomiebehörde im Laufe der Jahre nicht bewiesen, dass sie die Verantwortung für den Gazastreifen wieder übernehmen will. Im Gegenteil, in der Praxis hat sie die Hamas gestärkt, indem sie die finanzielle Unterstützung der Terroristen aufrechterhielt. Auf ideologischer Ebene hat sich die PA nie von den Werten des Dschihad distanziert. Konsequenterweise führt sie die Gehirnwäsche von Generationen palästinensischer Schüler fort, indem sie die Hetze gegen Israel in ihren Schulbüchern bewahrt. [Anmerkung: Trotz der Feindschaft von Hamas und PA werden an den Schulen im Gazastreifen die Schulbücher der Autonomiebehörde benutzt.]
Israel irrte, als es dachte, dass ein einseitiger Rückzug aus dem Gazastreifen seinen Bürgern automatisch Frieden und Sicherheit bringen würde. Die kritischen Phasen des Kriegs im Gazastreifen könnten bald zu Ende sein. Wahrscheinlich wird Israel einen beträchtlichen Teil seiner militärischen Ziele erreichen. Es wird den terroristischen Gruppen erhebliche Schläge versetzt und den Feind geschwächt, wenn auch nicht ausgelöscht haben. Da Israel bereits erklärt hat, dass es nicht dauerhaft im Gazastreifen bleiben will, braucht es eine klare Exit-Strategie.
Drei Phasen
Sobald die gegenwärtige Schlacht vorbei ist, werden die Bewohner des Gazastreifens mit einer düsteren Realität immenser Verluste und schwindender Hoffnung konfrontiert sein. Die Menschen im Gazastreifen verdienen es, eine Vision und Hoffnung für die Zukunft zu haben, eine Vorstellung davon, wie ihr Leben in der Zeit nach Hamas aussehen könnte. Die Situation, die durch die schrecklichen Terroranschläge vom 7. Oktober verursacht wurde, und die Tragödie, mit der die Menschen in Gaza heute konfrontiert sind - all dieser Horror verpflichtet darauf, eine bessere Zukunft zu schaffen. Um dies zu erreichen, müssen beide Seiten jeglicher Art des Extremismus abschwören.
Wie also könnte die Exit-Strategie aussehen? Die Ausarbeitung einer langfristigen Lösung beinhaltet einen Drei-Phasen-Plan:
Die präventive Phase (mindestens ein Jahr) konzentriert sich auf die Neutralisierung der Fähigkeiten der Hamas und anderer terroristischer Organisationen im Gazastreifen, wobei der Schwerpunkt auf der Zerstörung der militärischen Infrastruktur und der Entwaffnung des Gazastreifens liegt. Parallel werden Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen und es wird (auch im Westjordanland) gezeigt, welchen Preis Terror nach sich zieht, um eine langfristige Abschreckung zu erreichen - begleitet von einem Maximum an humanitärer Hilfe.
Die Stabilisierungsphase (drei bis fünf Jahre): Die IDF zieht sich aus den Stadtzentren zurück und wird durch internationale Truppen ersetzt. Grenzen und Grenzübergänge werden wiederhergestellt, einschließlich des Baus eines unterirdischen Zauns entlang der Grenze zwischen Ägypten und Gaza, um Waffenschmuggel zu verhindern. Gleichzeitig konzentrieren sich die Bemühungen auf die Wiederbelebung des täglichen Lebens, die Ankurbelung der lokalen Wirtschaft und die Etablierung glaubwürdiger palästinensischer Vertreter, die die Entmilitarisierung des Gazastreifens unterstützen. Lokale palästinensische Vertreter, Israel und die internationale Gemeinschaft bilden ein Komitee, um einen effektiven und nachhaltigen Wiederaufbauplan zu diskutieren, zu organisieren und umzusetzen.
Ein Demokratisierungsprozess wird initiiert, der die Palästinenser dazu bewegen soll, die Hamas-Ideologie zu überwinden - ähnlich dem Entnazifizierungsprozess, der in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg von den westlichen Alliierten durchgeführt wurde. Die Bevölkerung von Gaza wählt und setzt eine Übergangsregierung ein (bis eine Verfassung ausgearbeitet ist), die die Öffentlichkeit des Gazastreifens im Wiederaufbauprozess vertritt. Parallel wird eine demokratische Verfassung ausgearbeitet, die auch die Entwaffnung des Gazastreifens akzeptiert.
Die Wiederaufbauphase (drei bis fünf Jahre) bringt den vollständigen israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen an die internationalen Grenzen sowie die Etablierung eines lokalen politischen Systems auf der Grundlage einer Verfassung, freier und demokratischer Wahlen. Um eine Beschäftigungsinfrastruktur aufzubauen, werden Industriezonen und Wohlfahrtsinitiativen geschaffen, die von Investoren finanziert werden. Weiterhin werden Entsalzungsanlagen, Abwassersysteme und ein unabhängiges Kraftwerk errichtet. Diese Phase zielt darauf ab, die Voraussetzungen für die Errichtung von See- und Flughäfen zu schaffen, wobei die Sicherheitsüberwachung entweder von Israel oder von einer international vereinbarten Instanz gewährleistet wird.
Wie schnell der Schritt von einer zur nächsten Phase verläuft, hängt von der Kooperation der Menschen im Gazastreifen ab und davon, dass sie sich vom Terrorismus distanzieren. In dem Maße, in dem die Bewohner des Gazastreifens die Entwaffnung befürworten und der Erziehung künftiger Generationen zum Frieden Priorität einräumen - messbar durch Umfragen und Forschung -, desto schneller wird die Verantwortung für ihr Territorium und die Bevölkerung übertragen.
Die Umsetzung des Plans erfordert solide gemeinsame Anstrengungen unter der Führung der USA und der internationalen Gemeinschaft. Überdies bedarf es eines Abkommens und einer mutigen Partnerschaft mit den arabischen Ländern, insbesondere mit Ägypten und den Golfstaaten.
Der hier formulierte Plan ist keine Garantie für einfachen oder schnellen Erfolg. Er enthält jedoch die Zutaten, um eine nachhaltige und langfristige Lösung für die Beziehungen zwischen Israel und dem Gazastreifen zu finden. Zum jetzigen Zeitpunkt erhebt der Plan nicht den Anspruch, eine Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern im Westjordanland zu bieten. Wenn er aber erfolgreich ist, kann er das dafür notwendige Vertrauen sowohl in Israel als auch im Westjordanland mobilisieren.
Der Autor: Uri Halperin ist Oberst der Reserve der israelischen Armee, er diente als Geheimdienstoffizier des Südkommandos der IDF (verantwortlich für Gaza) und von 2006 bis 2010 als Geheimdienstassistent zweier israelischer Premierminister, später als israelischer Militärattaché bei der NATO.
Quelle: ntv.de