Juso-Chef wirbt für Scholz Kühnert verleiht Prädikat "Für Linke wertvoll"
11.08.2020, 19:36 Uhr
Kühnert will für den Wahlkreis in seinem Berliner Heimatbezirk Tempelhof-Schöneberg in den Bundestag ziehen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Juso-Chef Kühnert hat sich als scharfer Kritiker der Großen Koalition und ihrer SPD-Minister einen Namen gemacht. Nun die unerwartete Kehrtwende: Er wirbt für einen Kanzlerkandidaten Scholz - der für eine ganz neue Partei in den Wahlkampf ziehe.
Am Montag amüsiert sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz darüber, dass im politischen Berlin vier Wochen lang niemand von der SPD-internen Festlegung auf den Kanzlerkandidaten Scholz erfahren hat. Juso-Chef Kevin Kühnert kann das am Dienstag noch einmal toppen: Im politischen Berlin hat nämlich auch niemand mitbekommen, dass die SPD sich in den acht Monaten komplett gewandelt hat.
Mit diesem angeblichen Wandel begründet der 31-Jährige seine Entscheidung, die Kanzlerkandidatur des von ihm oft gescholtenen Scholz zu unterstützen. Kein Wunder, dass die dazugehörige Erklärung für den sonst so eloquenten Kühnert sehr wortreich ausfällt.
"Wir tun das in dem Wissen und der Erkenntnis, dass wir - und das ist der Unterschied zu den vergangenen Jahren - in eine gemeinsame Richtung laufen", sagt Kühnert vor Journalisten in Berlin. Was ihm dabei wichtig ist: Die Richtung hätten er mit den Jusos sowie die Partei-Linken mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in der Parteiführung entscheidend mitbestimmt. Die SPD sei "eine veränderbare Partei" und die Menschen, die in ihr arbeiten seien "lernfähig", so Kühnert.
Dazugelernt hat in dieser Lesart vor allem Scholz, und zwar erstaunlich schnell: "Ob ich die Lage genauso eingeschätzt hätte vor acht Monaten, da bin ich mir nicht so sicher", sagt Kühnert. Anders als in der Vergangenheit habe das SPD-Programm in vielen Aspekten schon festgestanden, bevor der Kanzlerkandidat bestimmt wurde. "Das ist aus einer gemeinsamen Erkenntnis heraus gewachsen, dass es in der Gesellschaft nicht so weitergehen kann", sagte er. Kühnert meinte damit insbesondere das von Jusos und Partei-Linken wesentlich mitgestaltete Sozialstaatsprogramm: "Wir sind die erste Partei, die ein wirklich umfassendes Konzept vorgelegt hat, wie der Sozialstaat nach Hartz IV aussehen kann."
Kandidat ohne "Beinfreiheit"
Kühnerts Beweisführung, dass die SPD schon jetzt - das heißt, seit Antritt der neuen Parteiführung vor acht Monaten - neuer, anders, linker sei, gerät etwas bemüht: Die SPD habe in der Corona-Krise die Mehrwertsteuer gesenkt und die Bedarfsprüfung für Hartz-IV-Bezieher ausgesetzt, zählt Kühnert als Beispiele einer sozialeren Grundausrichtung auf. Die Mehrwertsteuersenkung war aber bekanntermaßen ein CDU-Vorschlag. Die Aussetzung der Hartz-IV-Bedarfsprüfung für die vielen befürchteten Neu-Arbeitslosen war der Pandemie-Lage geschuldet und nicht einmal in der Union umstritten.
Entscheidend für Kühnert ist, dass Scholz den neuen Kurs mittrage, weil er ihn mit erarbeitet habe. "Deswegen mauert dieses Programm Olaf Scholz auch nicht ein", stellt Kühnert fest und lobt, dass Scholz sich keine "Beinfreiheit" von seiner Partei erbeten habe - anders als seinerzeit der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Tatsächlich haben am Montag fast alle Journalisten die gleiche Frage an Scholz' Kandidatur gestellt: Scheitert die SPD am Beharren der Parteiführung, Scholz als Zugpferd einer linker ausgerichteten SPD einzuspannen? Oder trägt der programmatische Spagat die Partei am Ende über das Ziel von 20 Prozent plus X?
Auf eine Abwahl der Union dringt Kühnert, der 2018 mit seiner "NoGroKo"-Kampagne bekannt geworden war, aber weiterhin: "Wir werden Olaf Scholz und die Parteispitze daran messen, dass sie gestern gesagt haben, die Union muss aus der Regierung." Zweimal hintereinander sei wie ein Unentschieden im Fußball, sagt Kühnert, was angesichts von 20,5 Prozent für die SPD und 33 Prozent für die Union bei der letzten Wahl ein mindestens selbstbewusster Vergleich ist. Kühnert bleibt bei seiner Metapher: "Nächstes Jahr ist Elf-Meter-Schießen angesagt und da spielen wir im gleichen Team."
Tatsächlich eine andere Partei
Mit der Beschwörung der neuen Einigkeit bewegt sich Kühnert, der 2021 selbst in den Bundestag einziehen will, ganz auf der Linie von Kandidat und Parteivorsitzenden. Er zitiert aus der hundert Seiten starken Juso-Analyse zum Wahldebakel 2017: Es habe damals der "Respekt im internen Umgang" gefehlt. Diesen Selbstzerstörungsmechanismus will Kühnert dauerhaft überwunden sehen und ermahnt die Scholz-Kritiker in der Partei daher zu einer konstruktiven Haltung.
Tatsächlich ist bislang der große Furor ausgeblieben: Jusos und linke Sozialdemokraten halten sich seit Montag zurück. Einzig die stellvertretende Juso-Vorsitzende Hanna Reichhardt motzte in einem inzwischen wieder gelöschten Tweet: "Wir brauchen eine progressive, linke, mutige Zukunft und keine Merkel 2.0!" Die Parteilinke und gescheiterte Vorsitz-Bewerberin Hilde Mattheis erklärte, sie sei "ratlos" ob dieser Entscheidung.
Mag sein, dass die SPD sich in den vergangenen Monaten tatsächlich verändert hat. Die wesentliche Neuerung ist aber eher, dass sich ihre bekannten Vertreter nicht öffentlich zerlegen und das Bemühen um Einigkeit nach dem hässlichen Abgang von Andrea Nahles echt ist. Wähler, politische Gegner und Medien werden die Haltbarkeit des neuen Burgfriedens mit Interesse verfolgen.
Quelle: ntv.de