Riskantes Kalkül bei Neuwahl Macron will sogar bei einem Wahlsieg Le Pens profitieren


Macron spielt Vabanque: Es geht um alles oder nichts.
(Foto: picture alliance / abaca)
Nach ihrem Riesenerfolg bei der Europawahl hat Le Pens Partei RN gute Chancen, jetzt die Neuwahl in Frankreich für sich zu entscheiden. Das weiß Präsident Macron. Doch auch bei einem Sieg der Rechtspopulisten könnte seine gewagte Taktik aufgehen.
Emmanuel Macron hat ein klares Ziel: Sein Nachfolger im Elysée-Palast darf unter keinen Umständen aus den Reihen des Rassemblement National (RN) stammen. Doch der RN hat Chancen, durch die von Macron ausgerufenen Neuwahlen die Mehrheit in der Nationalversammlung zu holen. Dann müsste Macron einen der Rechtspopulisten zum Regierungschef ernennen. Sein Amt als Präsident wolle er in dem Fall dennoch behalten, sagt Macron. Hinter Macrons Schachzug steckt Kalkül - wenn auch ein gewagtes.
Im CDU-Bundesvorstand in Berlin hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen laut Medienberichten erzählt, Macron habe ihr zugesichert, er werde die Kontrolle behalten und den RN "entzaubern", sollte der die Wahl für sich entscheiden. Macron hofft demnach darauf, dass die Rechtspopulisten sich an der Regierung blamieren und die Wähler abschrecken könnten. Ein Blick auf die Umfragen verrät: Der RN ist momentan nicht allzu weit vom Wahlsieg entfernt. Bei den Europawahlen hat die Partei Macron schon abgezockt. Der RN holte mit 31 Prozent der Stimmen 30 Sitze im Europäischen Parlament - und damit doppelt so viele wie das Wahlbündnis Besoin d'Europe rund um Macrons Partei Renaissance.
Bekanntestes Gesicht und Strippenzieherin der RN ist Marine Le Pen, deren Vater Jean-Marie die Partei 1972 gründete. Sie übergab die offizielle Leitung der Partei 2022 an den heute 28 Jahre alten Jordan Bardella, der im Falle eines Wahlsiegs das Amt des Premierministers für sich beansprucht. Eine Zusammenarbeit zwischen Macron und Bardella würde sich schwierig gestalten. Bardella wäre dann zuständig für das Tagesgeschäft und innenpolitische Fragen. Macron bliebe nur die Entscheidungsgewalt über die Außen- und Verteidigungspolitik. Unter Macrons Anhängern wächst die Befürchtung, er könne so zur "lame duck" werden - also politisch handlungsunfähig durch die Wahlniederlage.
Macron kämpft seit Jahren um Handlungsfähigkeit
Macron spielt also Vabanque: Es geht um alles oder nichts. Das ist typisch für ihn. Sein Selbstbewusstsein grenzt manchmal an Selbstüberschätzung. Oft wird ihm, ähnlich wie Bundeskanzler Olaf Scholz, Intelligenz im Verbund mit Arroganz nachgesagt. Wer Macron reden hört, kennt sein Pathos. Und wer seinen Politikstil verfolgt, weiß um seine Vorliebe für Überraschungseffekte.
Ob die Nationalversammlung wirklich überrascht von der Nachricht über ihre Auflösung war, lässt sich schwer sagen. Einige Parteifreunde Macrons betonten, sie fühlten sich überrumpelt. Allerdings kämpft Macron schon seit knapp zwei Jahren in der Nationalversammlung um seine politische Handlungsfähigkeit. Sein Regierungsbündnis Ensemble, zu dem neben Renaissance auch die Liberalen des Mouvement Démocrate und die Mitte-Rechts-Partei Horizons gehört, stellte bisher mit 245 Abgeordneten zwar die stärkste Fraktion. Doch ihm fehlte die absolute Mehrheit. Macron konnte sich angesichts der vorherrschenden Konfrontationskultur in der Kammer nur äußerst mühselig und häufig durch den Erlass von Dekreten durchsetzen.
Auch der RN als zweitgrößte Oppositionspartei hinter dem linken Bündnis NUPES stänkerte immer wieder gegen Macrons Gesetzesvorhaben. Aus allen Ecken des parlamentarischen Spektrums wurden Rufe nach einer Auflösung der Nationalversammlung laut. Auch dies zählt zu den möglichen Vorteilen von Macrons Kalkül: Er kann seinen Kritikern vorhalten, er habe nur ihre Wünsche erfüllt.
Bei den Konservativen herrscht Chaos
Falls Macron allerdings darauf spekulierte, seine politischen Gegner durch die kurzfristig angesetzten Neuwahlen am 30. Juni und am 7. Juli außer Gefecht zu setzen, hat er sich getäuscht. In Windeseile schmiedeten die Linken ein Bündnis, den Front Populaire, das unter anderem Macrons Rentenreform den Kampf angesagt hat. Auch Macron schließt eine politische Zusammenarbeit mit dem Verbund aus: Neben gemäßigten Sozialdemokraten und Grünen gehören ihm unter anderem die Linkspopulisten von La France insoumise an.
Im rechten Lager hingegen sorgte Macrons Ankündigung von Neuwahlen für Chaos. Dabei verlor er mögliche politische Verbündete. Zunächst streckte der Parteichef von Renaissance, Stéphane Séjourné, die Hand aus: Man wolle überall dort, wo aktuell Abgeordnete aus dem republikanischen Feld, die sich für ein klares Projekt für Frankreich einsetzen wollen, im Parlament sitzen, keine Gegenkandidaten aufstellen. Dabei setzte er vor allem auf die konservativen Républicains. Diese erteilten einer Zusammenarbeit jedoch umgehend eine Absage.
Bei den Républicains brach kurz darauf die Hölle los - als ihr Vorsitzender Éric Citotti ankündigte, man wolle mit dem RN kooperieren, wenn es um die Aufstellung der Kandidaten für die Wahlkreise gehe. Ein Tabubruch für viele Mitglieder einer Partei, die sich in der Tradition des Gaullismus sieht und - ähnlich wie die deutsche Schwesterpartei CDU - eine klare Brandmauer nach rechts aufgezogen hat.
RN will gemeinsame Kandidaten mit Républicains aufstellen
Die Partei schmiss Ciotti raus. Der versuchte, sich dagegen zu wehren, und ging in Berufung. Ciotti nahm nach dem Rauswurf aber offenbar nicht Abstand von seinen Plänen, mit dem RN zu kollaborieren. In einem Interview mit dem französischen Fernsehsender BMF-TV behauptete Bardella, "in 70 Wahlkreisen" werde es gemeinsame Kandidaten der Républicains und des RN geben.
Sollten Teile der Konservativen tatsächlich mit dem RN zusammenarbeiten, würde dies Macrons Position schwächen. Die Républicains würden den amateurhaft organisierten Rechtspopulisten nicht nur bei der Aufstellung der Kandidaten und der Organisation des Wahlkampfs helfen. Sie würden auch dazu beitragen, den RN weiter zu entteufeln und zu legitimieren. Dieser Fehler wiederum könnte auch Macron eines Tages vorgehalten werden. Denn er muss mit Bardella zusammenarbeiten, falls der RN die Wahl für sich entscheidet. Am Ende entzaubert Macron vielleicht nicht die Rechtspopulisten, sondern sich selbst. Schließlich weiß niemand, ob die Wählerschaft tatsächlich unzufrieden mit einem Premierminister Bardella wäre.
Quelle: ntv.de