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Parteitag kurz nach Ampel-Aus Mit geballter Faust in der Tasche versuchen die Grünen, Habecks Abschmieren zu verhindern

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Es gibt viel abzustimmen und noch mehr zu debattieren auf dem Parteitag in Wiesbaden.

Es gibt viel abzustimmen und noch mehr zu debattieren auf dem Parteitag in Wiesbaden.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die 50. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen soll Wegweiser am Scheideweg werden. Neue Führungsmannschaft, ein Kanzlerkandidat, Schwung für den Wahlkampf: all das sollen die drei Parteitage in Wiesbaden hervorbringen. Ob das gelingt, ist offen.

Neun Tag ist das abrupte Ampel-Aus her. Die Grünen hängen mit ihrem Spitzenpersonal noch immer irgendwie drin in dieser (Rest-)Bundesregierung. Mit dem Kopf aber sind sie längst woanders: bei der Bundestagswahl am 23. Februar und in den darauffolgenden Wochen. Dann werden entweder mühsame Koalitionsverhandlungen anstehen oder der schwere Gang in die Opposition. Auf beide Möglichkeiten bereitet sich die Partei ab diesem Freitag in Wiesbaden vor: Die 50. Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) fällt als schon seit langem terminierter Parteitag in denkbar bewegte Zeiten. Und ihr Ende am Sonntag wird nicht weniger als die große Kanzlerkandidatenkür jenes Mannes, der den Job schon 2021 unbedingt haben wollte: Robert Habeck soll Bündnis90/Die Grünen in den Bundestagswahlkampf führen - mit Annalena Baerbock als Co-Pilotin.

"Was für krasse Wochen liegen hinter uns. Wir sind am Mittwochmorgen mit Donald Trump als nächsten US-Präsidenten aufgewacht und ohne Ampel-Regierung ins Bett gegangen", sagt die scheidende Bundesgeschäftsführerin Emily Büning zum Beginn des Parteitags. Dieser bedeutet einen gewaltigen Kraftakt für die Partei: Sie muss ihren Bundesvorstand neu wählen, nachdem das Führungsteam um die Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour im Oktober das Handtuch geworfen hat. Sie muss programmatisch Akzente setzen und inhaltlich Differenzen zwischen verschiedenen Flügeln beilegen, bevor es in die heiße Phase des Wahlkampfs geht. Sie muss einem - Stand heute - aussichtslosen Kanzlerkandidaten Habeck Wind unter den Flügeln pusten, damit sein Wahlkampf nicht jäh abschmiert, bevor er Fahrt aufgenommen hat.

Jubel über 9000 neue Mitglieder

Viel los also im Rheinmain Congresscenter, wo mehr als 800 Delegierte plus Ersatzdelegierte, 3700 angemeldete Gäste und zahlreiche Pressevertreter zusammenkommen. Viel Zeit zum Wunden lecken bleibt deshalb nicht und auch Abrechnungen auf offener Bühne sind eher nicht zu erwarten. Wer die vielen Kompromisse der Ampel-Ära nur mit geballter Faust in der Tasche ertragen hat, wird mit dieser Faust nicht auf den Tisch knallen und so den Grünen-Wahlkampf belasten. So jedenfalls lautet die Hoffnung sowohl in der alten als auch in der kommenden Parteiführung. Sicher ist das indes nicht. Angesichts schlechter Umfragewerte muss aber von der Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) ein Aufbruchsignal ausgehen. Ohne engagierte Basis, die sich im nasskalten Winterwahlkampf einbringt, die Plakate klebt, an Haustüren klingelt und Flyer verteilt, wäre die Kampagne schließlich aussichtslos.

"Der Wahlkampf wird hart und dafür brauchen wir euch alle", sagt Büning und präsentiert gleich zu Beginn Zahlen, die Hoffnung machen sollen: 9000 Mitgliedschaftsanträge zählt die Grünen-Spitze seit dem Ampel-Aus. Die Zahl der Mitglieder nähert sich der Marke von 140.000. Zudem seien mehr als 700.000 Euro in Form von Kleinspenden eingegangen. Die Delegierten quittieren die Zahlen mit lautem Jubel. Und der Parteitag wird auch was für's Herz bieten: Die Verabschiedung von Büning, Lang und Nouripour wird erwartbar rührend. Bei aller innerparteilichen Kritik an beiden herrscht dennoch Konsens darüber, dass nicht Lang und Nouripour die Hauptverantwortlichen für den jähen Ansehensverlust der Partei seit Beginn der Ampel-Regierung sind. Sie haben darauf aber auch keine Antwort gefunden.

Rückkehr der Flügel-Konflikte

Schon die Aussprache am Freitagabend wird einen Vorgeschmack darauf geben, ob das angepeilte Aufbruchsignal gelingen kann. Der eingebrachte Antrag des Bundesvorstands umreißt die weitere Ausrichtung der Grünen, bevor das Bundestagswahlprogramm auf einem eigenen Parteitag Ende Januar festgezurrt wird. Bis dahin stehen aber Spitzenkandidat und Ausgestaltung der Wahlkampagne längst fest. Daher ist die BDK in Wiesbaden auch die einzige und letzte Chance für diejenigen, die mit der erwartbaren Ausrichtung der Grünen unter einem Kanzlerkandidaten Habeck nicht einverstanden sind, Widerspruch zu leisten.

Habecks Kandidatur wird teils als Dominanzanspruch des Realo-Flügels gelesen, dem der linke Flügel nicht einfach nachgeben will. So finden sich in den Änderungsanträgen zum Vorstandspapier eine Reihe von Positionen, die Widerspruch zu den Realos formulieren. Sie fordern etwa eine Abschaffung der Schuldenbremse anstelle einer Reform, die Beibehaltung des deutschen Lieferkettengesetzes, das Bundeswirtschaftsminister Habeck aussetzen wollte. Sie pochen ferner darauf, dass die Grünen keine weiteren Zugeständnisse in der Asylpolitik machen, nachdem nicht nur Parteilinken Deutschlands Zustimmung zur Reform des europäischen Asylsystems schon zu weitgehend ist.

Zudem müssen die neugewählten Vorsitzenden der Grünen Jugend, Jette Nietzard und Jakob Blasel, die Positionen des traditionell links der Bundespartei stehenden Nachwuchses auf der BDK deutlich machen. Der vorherige Jugend-Vorstand war mit Pomp aus der Partei ausgetreten und hatte viele Mitglieder mitgenommen, weil dort der Glauben an echten Klimaschutz mit den Grünen verloren gegangen war.

Neuaufstellung mit Reibung

Schwerer noch wiegt, dass die Neubesetzung des Bundesparteivorstands von erheblichen Spannungen begleitet war. Die komplizierte Architektur des Vorstands zog in den vergangenen Wochen schwierige Personaldebatten nach sich. Dieser wird nach Flügel- und Geschlechterproporz besetzt und soll zugleich auch in Fragen der Herkunft divers sein. Nicht alle Personaldebatten davon fanden hinter den Kulissen statt.

Habecks Vertraute und Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium, Franziska Brantner, soll auf Nouripour als Parteivorsitzende folgen. Für Ricarda Lang schicken die Linken den Bundestagsabgeordneten Felix Banaszak ins Rennen. Auf Büning folgt die bisherige Co-Vorsitzende Pegah Edlatian. Den Job hätte gerne auch Sven Giegold gemacht, bisher ebenfalls Staatssekretär im Hause Habeck. Der Partei-Linke will nun Co-Vorsitzender werden. Zusammen mit Banaszak und dem designierten Wahlkampfmanager Andreas Audretsch, Haushaltspolitiker und Vize-Fraktionschef, gehört Giegold zu den profiliertesten Vertretern des linken Flügels im voraussichtlichen neuen Vorstand. Der Thüringer Heiko Knopf soll als einziger Ostdeutscher Co-Vorsitzender bleiben.

Die diversen aussichtslosen Gegenkandidaten bieten allen Gefrusteten die Möglichkeit zum Revanchefoul: Die genauen Wahlergebnisse des künftigen Vorstands im Laufe des Samstags werden mit einiger Spannung erwartet.

Glas knapp halbvoll

Der Wechsel der Führungsmannschaft inmitten des Wahlkampf-Kaltstarts ist eine immense Herausforderung für die Partei. Doch die meisten Grünen-Verantwortungsträger sehen im Gespräch das Glas eher halbvoll: Die Erleichterung über das Ende der ewigen Hängepartie Ampel-Regierung überwiegt die Enttäuschung über das eigene Scheitern. Bundeskanzler Olaf Scholz und der geschasste Ex-Finanzminister Christian Lindner machen ihnen das noch leichter: Im Wettbewerb der Schuldzuweisungen zeigen die Finger von SPD und FDP vor allem aufeinander. Die Grünen hatten noch bis zum Mittwochabend Chancen gesehen, einen Kompromiss zum Weitermachen zu finden. Sie haben der Ampel nicht den finalen Stoß versetzt. Das macht die gewünschte Außendarstellung als staatstragende Verantwortungspartei ein wenig einfacher.

Die Partei startet in diesen Tagen von Wiesbaden ins Ungewisse - nicht nur weil die allermeisten Delegierten mit der Bahn heimfahren müssen: Wie festgefahren die Umfragewerte der Parteien sind oder ob da in den kommenden Wochen noch größere Verschiebungen möglich sind, kann niemand mit Gewissheit sagen. Habeck und Baerbock machen keinen Hehl daraus, dass sie auch in einer kommenden Bundesregierung gerne als Minister dienen würden. Doch in welcher Koalition? Die aussichtsreiche Union und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz halten die Grünen seit Monaten auf größtmögliche Distanz. CSU-Chef Markus Söder schließt eine Kooperation gar rundweg aus.

Für eine Bundesregierung unter Führung der SPD oder gar der Grünen selbst bräuchte es aber Erdbeben-gleiche Verschiebungen in der Umfrage-Tektonik. Darauf deutet derzeit nichts hin. Der Schluck aus dem Fass voll Zuversicht, den sich die Grünen in Wiesbaden genehmigen wollen, muss daher schon sehr groß ausfallen. Und niemand darf ihn mit dem Gift des internen Streits panschen. Ob das gelingt, ist wie die Wahlaussichten: ungewiss.

Quelle: ntv.de

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