Lützerath-Talk bei Anne Will Neubauer und Reul zoffen sich wegen Gewalt bei Protesten
16.01.2023, 01:19 Uhr
"Ich war vor Ort und es war erschreckend", sagt Neubauer über das Einschreiten der Polizei.
(Foto: NDR/Dietmar Gust)
Polizeigewalt? Molotowcocktails von Demonstrierenden? Bei "Anne Will" streiten Luisa Neubauer und Herbert Reul über die Proteste und Räumungen in Lützerath. Debatten über Klimaschutz bleiben dabei auf der Strecke. Ein Diskutant meint gar: "Lützerath ist völlig irrelevant."
Tagelange Demonstrationen, gewaltvolle Auseinandersetzungen. Seit Sonntagnachmittag ist Lützerath geräumt. Die Klimaaktivistinnen und -aktivisten haben (zunächst einmal) verloren. Der geplante Abriss des jahrelang besetzten Ortes in Nordrhein-Westfalen schreitet fort und der Abbau der sich darunter befindenden Braunkohle wird eingeleitet. In der ARD-Talkshow "Anne Will" streitet die Diskussionsrunde zunächst einmal über gegenseitige Vorwürfe der Gewalt seitens der Polizei und der wohl gut 30.000 Demonstrierenden. Dabei geraten die eigentliche Gefahr, der Klimawandel, und die Maßnahmen dagegen in den Hintergrund.
Zunächst einmal lässt Talkmasterin Anne Will in altbekannter Manier Klimaaktivistin Luisa Neubauer und Herbert Reul, CDU-Innenminister von NRW, aufeinander los. Freunde werden die beiden wohl nicht mehr, es kracht sofort zu Beginn der Sendung. Neubauer darf die ersten Giftpfeile abfeuern. "Ich war vor Ort und es war erschreckend", sagt sie über das Einschreiten der Polizei in den vergangenen Tagen der Auseinandersetzungen rund Lützerath. "Das war völlig unverhältnismäßig. Polizisten sind schreiend auf Demonstrierende zu gerannt, das war kein Beschützen des RWE-Geländes." Viele Aktivistinnen und Aktivisten haben ausufernde Gewalt der Polizei beklagt, in den Sozialen Netzwerken kursierten Videos, in denen Demonstrierende trotz erhobenen Armen mit Schlagstöcken geschlagen wurden.
Aber Reul hält seinen Bogen natürlich schon längst gespannt bereit. Und dann darf auch endlich er seine Zughand von der Sehne loslassen. Es habe Absprachen vor der Woche gegeben, "aber eine Menge Menschen haben sich nicht darangehalten und Absperrungen durchbrochen", sagt er. Die Polizei hätte eben einen Auftrag gehabt und ohnehin seien seitens der Protestlerinnen und Protestler schon vor dem Wochenende "Steine, Molotowcocktails und Raketen" geschmissen worden.
Systematisch Schläge auf Köpfe?
Dann darf wieder Neubauer. Zwar sei manch ein Durschreiten von abgesperrten Gebieten nicht legal gewesen, "aber für die Demonstrierenden legitim". Die Beamten hätten aber "nicht professionell" oder "deeskalierend" gehandelt, selbst Polizei-Experten würden im Netz fragen: Was war da die Strategie? Außerdem hätten viele Journalistinnen und Journalisten von Einschränkungen der Pressefreiheit seitens der Polizei berichtet.
Der NRW-Innenminister kontert: "Der Einsatz war hochprofessionell!" Das bringt die Klimaaktivistin natürlich erneut auf die Palme. "Ich finde es absurd und schockierend, dass Sie einen Einsatz der Polizei, bei dem eine hohe zweistellige Zahl von Demonstrierenden verletzt wurde, als hochprofessionell einstufen. Da ist etwas aus dem Ruder gelaufen." Es könne auch nicht sein, so Neubauer weiter, dass gesagt werden: "Die haben da draufgehauen, dann dürfen wir das auch."
Reul gibt anschließend zwar zu, man habe "im Netz ein, zwei Szenen von Polizisten gesehen, wo wir sagen: Das sieht nicht gut aus." In diesen Fällen seien auch Strafanzeigen gestellt worden. Allerdings glaube er nicht, dass sich die schweren Vorwürfe der Demonstrierenden und einer Sanitäterin, die Beamten hätten systematisch auf Köpfe geschlagen, bewahrheiten würden. Reul kritisiert stattdessen, dass trotz "keinen präzisen Informationen" in den Sozialen Medien Stimmung gegen die Polizei gemacht würde. Er gehe von "über 100 verletzten Polizisten aus", die aber teilweise auch dem matschigen Terrain zum Opfer gefallen sein sollen.
"Kein Klimaschutz oder mehr Klimaschutz"
Talkmasterin Will schaltet sich ein und beendet den Zweier-Zwist. Neubauer und Reul bleiben mit steinernen Gesichtern zunächst einmal zurück. Aber - Spoiler-Warnung - nicht allzu lange. Geladen in der ARD-Runde ist auch Ricarda Lang. Die Bundesvorsitzende der Grünen muss irgendwie den Deal ihrer Partei mit dem Energiekonzern RWE verteidigen, den die Klimaaktivistinnen und -aktivisten kritisieren. "Vor zwei Jahren hätte ich dort noch mit ihnen gestanden", gibt sie zu, aber jetzt wäre sie "dort nicht gut angekommen". Hätten die Grünen damals aber den Kompromiss nicht ausgearbeitet, "wären auch die anderen Dörfer abgerissen und es wäre bis 2038 Kohle abgebaggert worden". Das heiße nicht, alles sei toll. "Es war aber nur möglich: Kein Klimaschutz oder mehr Klimaschutz."
Die Sendung driftet zu diesem Zeitpunkt ab, zerfahren werfen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Meinungen in den Raum. Talkmasterin Will möchte gar von Neubauer wissen, ob diese wegen des RWE-Deals aus der Partei der Grünen austreten wolle. "Nee, ich überlege, wie wir Lützerath retten können", antwortet die Aktivistin. "Wie Millionen Tonnen CO2 im Boden bleiben können."
Das eigentliche Problem, für das Lützerath symbolisch steht, der Klimawandel und Deutschlands Maßnahmen, um ihm Einhalt zu gebieten, kommt nur spät auf den Tisch. "Wir sind die ersten, die sagen, dass wir nicht wollen, dass noch mehr Kohle für Energie abgebaut wird", sagt Grünen-Politikerin Lang. Will entgegnet: "Das glaubt man ihnen nicht mehr". Lang erwidert, man braucht wegen "16 Jahren verfehlter Energiepolitik" und als Folge des Ukraine-Kriegs mehr Kohle als geplant, wolle aber den bundesweiten Kohleausstieg bis 2030 erreichen.
Neubauer vs. Reul Runde zwei
Derweil versteht Reul nicht, warum man den Kompromiss mit RWE und "den Riesenerfolg des Ausstiegs 2030 nicht feiert", auch wenn das "natürlich nicht die Welt rettet". Der obig versprochene nächste Zwist mit Neubauer entsteht, denn die Aktivistin sagt: "Der große Kompromiss ist schon gemacht: das Pariser Klimaabkommen. Da müssen wir nicht andere Kompromisse abfeiern." Und der Kohleabbau in Lützerath sei mit dem Abkommen nicht zu vereinbaren.
Michael Hüther findet es dagegen in Ordnung, dass die dortige Kohle abgebaut werden soll - obwohl Studien sich uneinig sind, ob die Bundesrepublik für die Energieversorgung in der Krise die Kohle unter Lützerath unbedingt benötigt - denn die Politik "muss sich alle Eventualitäten bereithalten in unsicherer Lage und Flexibilität schaffen und nutzen". Der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln argumentiert sogar, "Lützerath ist völlig irrelevant". Das sei "reine Symbolpolitik". Es gehe für Deutschland jetzt darum, den europäischen Emissionshandel zu organisieren und global zu handeln, denn nur vereint ließe sich der Klimaschutz vorantreiben.
Fast doch noch so etwas wie ein Fazit in der turbulenten, aber wenig erkenntnisreichen Sendung. Kurz vor Schluss kommt sogar noch der "Weltstar der Klimabewegung" (O-Ton Anne Will) Greta Thunberg in einem am Samstag in der Nähe von Lützerath aufgezeichneten Interview zu Wort. "Wir müssen uns darauf konzentrieren, dass wegen des Klimawandels weltweit viele Menschen sterben und vertrieben werden", sagt sie. "Wir rufen zu zivilem Ungehorsam und friedlichem Protest auf."
Quelle: ntv.de