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Ukrainische Vorstöße bei Cherson Putin glaubt an den Großangriff am Dnipro

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Ukrainische Marineinfanterie am Dnipro: mit Schlauchbooten über den Strom.

Ukrainische Marineinfanterie am Dnipro: mit Schlauchbooten über den Strom.

(Foto: AP)

Ungewöhnliche Entwicklung im Krieg in der Ukraine: Russische Militärblogger lenken die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf ukrainische Vorstöße am Dnipro. Kiew schweigt, Putin bestätigt. Droht Russlands Invasionsarmee wirklich eine neue ukrainische Offensive?

Truppenbewegungen im Südwesten der Ukraine haben über die Landesgrenzen hinaus Aufsehen ausgelöst und im Westen Hoffnungen auf einen neuen Wendepunkt im Kriegsverlauf geweckt. In den Reihen der russischen Armee, heißt es, wachse die Sorge vor einem bevorstehenden Großangriff über den Dnipro und einem weiteren ukrainischen Offensivkeil Richtung Krim.

Die Informationslage ist allerdings dünn: Auslöser der Spekulationen sind bisher lediglich Informationen aus russischer Quelle. Bei Cherson hätten ukrainische Einheiten Mitte der Woche den Fluss überquert, berichteten russische Militärblogger. Die Ukrainer, hieß es, seien vorgerückt und hätten sich zeitweise in zwei Ortschaften im russisch kontrollierten Hinterland festgesetzt. Von ukrainischer Seite gab es dazu zunächst keine Stellungnahme. Die angeblichen Vorstöße über den Dnipro werden in Kiew offiziell weder bestätigt noch dementiert.

Konkret sollen "ukrainische Angriffstrupps" nach russischer Darstellung den Fluss bei Cherson mit Motorbooten überquert und auf der russisch kontrollierten Seite am linken, südlichen Dnipro-Ufer angelandet sein. Die Ukrainer hätten die "vorderen russischen Linien durchbrochen", war in einschlägigen Telegram-Kanälen zu lesen. Anschließend seien sie bei Pischtschaniwka und Pojma in Stellung gegangen.

Anders als in früheren Fällen soll es sich diesmal nicht um eine Kommandoaktion ukrainischer Spezialeinheiten gehandelt haben. Die Ukrainer, hieß es, hätten bei Pischtschaniwka mit Einheiten ihrer Marineinfanterie in Kompaniestärke angegriffen. Zudem sollen sich auf der nördlichen Uferseite bei Prydnіprowske längst größere ukrainische Kampfverbände bereithalten. Die russischen Blogger werten die verstärkten ukrainischen Aktivitäten als eindeutige Hinweise auf eine bevorstehende Landungsoperation.

Größere Wellen schlugen die Spekulationen in westlichen Kreisen vor allem durch eine Erwähnung in Washington. Das US-Institut ISW mit Sitz in der US-Hauptstadt griff die Angaben in ihrem täglichen Lagebericht auf und verschaffte den russischen Sorgen vor einem Großangriff damit reichlich zusätzliche Aufmerksamkeit. Die Schilderungen, hieß es allerdings einschränkend, beruhten hauptsächlich auf Angaben eines einzelnen prominenten russischen Bloggers, dem zudem eine gewisse Nähe zum russischen Verteidigungsministerium nachgesagt wird.

Über Umwege schaffte es die russische Kriegsberichterstattung so in die breite Öffentlichkeit: Gestützt auf die Berichte aus Washington titelten Medien in Kiew daraufhin, "ukrainische Elite-Truppen" hätten den Dnipro überquert und sich auf der anderen Uferseite "eingegraben". Was wie der tatsächliche Beginn der Offensive klang, war vorerst lediglich die Wiedergabe russischer Befürchtungen. Abgesehen von den Behauptungen aus dem Netz gab es zunächst kaum greifbare Belege für ein ukrainisches Vorgehen am linken Dnipro-Ufer.

"Feindliche Kräfte" bei Pischtschaniwka: Standbild aus dem russischen Telegram-Video.

"Feindliche Kräfte" bei Pischtschaniwka: Standbild aus dem russischen Telegram-Video.

(Foto: © Telegram.org @Z комитет + карта СВО)

Das ISW versuchte die russischen Thesen zu untermauern und verwies unter anderem auf "lokalisierbare Video-Aufnahmen", die ukrainische Soldaten bei Pojma zeigen sollen. Zu sehen sind in den fraglichen Bildern jedoch nur schemenhafte Soldaten, die sich an einem markanten Bahnübergang bei Pojma demonstrativ aus der Deckung wagen. Warum die russischen Blogger den Weg über die breite Öffentlichkeit gehen, ist unklar.

Die Aufnahmen stammen allem Anschein nach ebenfalls aus russischer Quelle. Immerhin lassen sich der Bahnübergang und die Umgebung in öffentlich verfügbaren Satellitenbildern ausfindig machen. Der Schauplatz liegt am nördlichen Ortsrand von Pojma südwestlich von Pischtschaniwka an der Bahnstrecke von Cherson Richtung Krim. Pojma selbst besteht aus nicht mehr als ein paar verlassenen Wohnhäusern und einer Verladestation an den Gleisen.

Ideales Panzergelände

Auf den ersten Blick scheinen Pojma und Pischtschaniwka wenig strategische Bedeutung zu haben. Das Flussufer und die beschädigte Eisenbahnbrücke über den Dnipro sind von hier aus knapp vier Kilometer entfernt. Die Orte markieren den Rand der Dnipro-Niederungen: Dahinter beginnt unübersichtliches, sandiges Steppengelände, durch das sich mit der Fernstraße M-14 eine wichtige Route des russischen Nachschubs zieht. In einem breiten Streifen wechseln sich hier Brachflächen mit aufgeforsteten Waldgebieten ab.

Blick aus dem All auf den Dnipro bei Cherson: Im roten Kreis liegen Pojma, Pischtschaniwka und die Bahntrasse Richtung Krim.

Blick aus dem All auf den Dnipro bei Cherson: Im roten Kreis liegen Pojma, Pischtschaniwka und die Bahntrasse Richtung Krim.

(Foto: © ESA / Sentinel Hub)


Sollten die Ukrainer hier jedoch eines Tages mit Kampfpanzern auftauchen, wäre ein weiterer Vormarsch und eine Befreiung der Südukraine nur schwer aufzuhalten: Der Dnipro ist das letzte natürliche Hindernis vor der Landenge zur Krim. Die offenen Agrarlandschaften der südukrainischen Ebene bieten wenig Deckung für Verteidiger, dafür festen Boden und freie Sicht: beinahe ideales Panzergelände.

Vorbereitungen der Ukrainer unterschätzt?

Die Aussicht auf eine Offensive in der Cherson-Flanke muss den russischen Militärplanern enormes Kopfzerbrechen bereiten. Sollte den Ukrainern der Sprung über den Dnipro gelingen, wäre nicht nur ein neuer Brennpunkt weitab der bisherigen Truppenansammlungen entstanden, sondern zugleich auch der Weg Richtung Krim weit offen. Das Problem: Alle Straßenbrücken über den Dnipro in der Region sind zerstört.

Die russischen Beobachter reagierten auf die angeblichen ukrainischen Vorstöße in der Region dennoch zunehmend nervös, fasste das ISW die Stimmung in der Militärblogger-Szene zusammen. Dem Verteidigungsministerium in Moskau werde dort mittlerweile vorgeworfen, die Vorbereitungen der Ukrainer am Unterlauf des Dnipro zu unterschätzen und nicht ausreichend auf eine amphibische Landungsoperation vorbereitet zu sein.

Riskanter Einsatz: ohne Deckung über den Fluss.

Riskanter Einsatz: ohne Deckung über den Fluss.

(Foto: AP)

Dabei ist noch vollkommen unklar, ob es auf ukrainischer Seite überhaupt solche Pläne gibt und inwieweit die ukrainischen Bewegungen bei Cherson über die bisher verfolgte Strategie der Nadelstiche hinausgeht. In den vergangenen Monaten war es bei Cherson bereits mehrfach zu ukrainischen Vorstößen über den Fluss gekommen. Ziel der Überfälle waren bisher exponierte Stellungen und russische Vorposten nah am Wasser oder entlang der Nebenarme des Dnipro.

Bekannt sind etwa Aktionen im Dnipro-Delta, in den Dnipro-Nebenarmen bei Oleschky oder der Vorstoß auf Kosatschi Laheri. An der Antoniwka-Brücke bei Cherson konnten ukrainische Stoßtrupps zeitweise sogar einen größeren Brückenkopf am linken Ufer halten. Neu wäre diesmal lediglich das weiter im Inland gelegene Angriffsziel und auch die Stärke des Stoßtrupps, mit der die Ukrainer über den Fluss vorgedrungen sein sollen. (Nachtrag: Im Laufe des Donnerstags soll es nach russischen Angaben auch zu Gefechten bei Krynky gekommen sein.)

Putin äußert sich in Peking

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Eine offizielle Stellungnahme aus Kiew stand zunächst noch aus: Das ukrainische Militär schwieg sich zu den Vorgängen am Dnipro aus. Als indirekte Bestätigung wurde am Tag nach den Vorfällen lediglich gewertet, dass die Ortschaft Pischtschaniwka kommentarlos und wie aus dem Nichts in der "Beschussliste" des ukrainischen Generalstabs auftauchte und somit also als befreiter Ort aufgezählt wurde, der von russischer Seite beschossen worden sei.

Von unverhoffter Seite gelangte dann doch noch eine Art Bestätigung an die Öffentlichkeit. Russlands Machthaber erwähnte die angeblichen ukrainischen Truppenbewegungen am Rande seines Staatsbesuchs in Peking. Die Ukrainer hätten die "lang erwartete nächste Gegenoffensive bei Cherson gestartet", erklärte Putin beiläufig vor Journalisten. Damit ist klar: Die Nervosität in den Reihen des russischen Militärs hat mittlerweile auch den Kreml erfasst. Putin selbst geht davon aus, dass der ukrainische Großangriff über den Dnipro bereits auf vollen Touren läuft.

Quelle: ntv.de

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