
Weihnachtsbaumschmuck im Jahr 2020: Der Weihnachtsmann trägt Maske.
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Der November-Lockdown war so teuer wie vergebens. Täglich sterben hunderte Menschen im Zusammenhang mit Covid-19. Die Bundesregierung und die Länder haben eindeutig Fehler gemacht. Doch wer mit dem Finger auf andere zeigt, richtet auch drei Finger auf sich selbst.
Am Mittwoch wird das Land für mindestens 25 Tage heruntergefahren. Weihnachten darf den Regeln nach nur im kleinen Kreis stattfinden; der Vernunft nach sogar nur im ganz kleinen Kreis. Die Bundesregierung räumt damit ein, dass die Anstrengungen der vergangenen Woche vielleicht nicht umsonst waren, aber auf jeden Fall nicht ausreichend. Hohe Kosten im mittleren zweistelligen Milliardenbereich, Einnahme-Einbußen im Einzelhandel, für Soloselbstständige und ganze Industriezweige wie dem Tourismus, ein darniederliegender Kulturbetrieb, verpasste Bildung und verpasste Lebenserfahrung und - oft vergessen - die enormen psychische Belastungen für Millionen Bürger: All das hat nicht dazu geführt, die Pandemie-Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Heißt: Die Strategie der vergangenen Wochen und Monate war falsch, das Unternommene schlicht zu wenig. Nun mit dem Vorwurf des Versagens auf die Jagd nach Schuldigen zu gehen, ist aber weder angebracht noch zielführend.
Regierungen in Bund und Ländern täten angesichts dieser Bilanz gut daran, nicht länger allenthalben zu verkünden, dass Deutschland ja so viel besser durch diese Pandemie komme als andere Nationen. In Anbetracht der guten Ausgangsbedingungen, insbesondere mit Blick auf die Test- und Behandlungskapazitäten in Deutschland, wurde der im Frühjahr erkämpfte Vorsprung auf die Viruswelle während des Sommers und im Herbst verspielt.
Zweiter Lockdown kaum zu verhindern
Im Nachhinein ist offensichtlich, was alles verpasst worden ist. Das fängt an beim noch immer ungenügenden Schutz für Pflegeheime, die weiter nicht über ausreichend Masken, Testkapazitäten und Personal verfügen, geht über eine nicht effiziente Corona-Warnapp bis hin zu nicht überzeugenden Schutzkonzepten für die Schulen. Den Gesundheitsämtern fehlte es auch im Herbst noch an der adäquaten technischen und personellen Ausstattung. Der in Deutschland entwickelte Impfstoff von Biontech und Pfizer harrt in der EU seiner Zulassung, während Briten und Kanadier schon munter drauflos spritzen.
Die Zahl der Toten in Deutschland hätte wohl niedriger ausfallen können. Dass die Politik aber eine zweite Welle und damit einen zweiten Lockdown gänzlich hätte verhindern können, muss bezweifelt werden. Denn zu den Fehleinschätzungen und Unterlassungen der Regierenden kommt das Verhalten der Regierten. Seit Beginn der Pandemie gab es Zweifel in der Bevölkerung an der Corona-Gefahr, und noch viel größer war und ist die Zahl der Inkonsequenten. Treffen im Freundes- und Familienkreis sowie Freizeitaktivitäten einzuschränken, ist allen Deutschen schwergefallen. Zu abstrakt ist die ewig unsichtbare Covid-Gefahr, die eben nicht nur Pflegeheimbewohnern gilt. Einen lauten Ruf nach strengeren Maßnahmen, den die Politik ignoriert haben könnte, gab es auch nicht.
Gemäßigter Unmut ist nichts schlechtes
Im Gegenteil, der zu lasche November-Shutdown und das Festhalten am Ziel sicherer Weihnachten mit mehreren Hausständen in einer Wohnung war auch Ausdruck der Befürchtung, dass rigorosere Maßnahmen nicht genügend Akzeptanz gefunden hätten. Verständlich, denn selbst die überschaubaren Einschränkungen der vergangenen Wochen wurden nicht ausreichend eingehalten. Sonst hätten sie vielleicht sogar genügt. Wer also ist so frei von Corona-Sünden, dass er nun den Stein des Versagensvorwurfs werfen mag?
Alle anderen mögen sich mit der Form demokratischer Abrechnung begnügen, die das aufziehende Wahljahr bietet. Die Opposition macht schließlich ein Angebot, was in der Pandemie hätte alles anders laufen müssen. Von mehr Eigenverantwortung und gezielteren Maßnahmen, wie es die FDP fordert, bis hin zu weniger Marktwirtschaft und stattdessen mehr Personal im Pflege- und Gesundheitssystem, wie es die Linke formuliert. Die Umfragewerte aber deuten darauf hin, dass viele Wähler bei allen Fehlern das aufrichtige Bemühen der Regierungsparteien insgesamt anerkennen.
Hinter dieser vermeintlichen Anspruchslosigkeit könnte die Einsicht stecken, dass eine im Groben und Ganzen dennoch befriedigende Pandemie-Politik schon viel ist für ein großes, heterogenes Industrieland wie Deutschland, das als liberale Demokratie auf den Ausgleich aller Interessen bedacht ist. Ein derart realistischer Erwartungshorizont, der sich den Versagensvorwurf zugunsten konstruktiver Kritik erspart, mag etwas langweilig-pragmatisch wirken. Aber mit Blick auf die vielen gespaltenen Gesellschaften um uns herum ist die pragmatisch-deutsche Tendenz zum gemäßigten Unmut eine der besseren Nachrichten des Jahres 2020.
Quelle: ntv.de