
MHP-Anhänger feiern ihren Vorsitzenden Bahceli bei einem Wahlkampfauftritt in Ankara.
(Foto: REUTERS)
Die MHP ist auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit. So hieß es vor der Wahl in der Türkei. Doch davon kann nun keine Rede mehr sein. Die Ultranationalisten um Devlet Bahceli sind zurück. Oder waren sie vielleicht nie weg?
Als Devlet Bahceli in der Wahlnacht vor die Presse tritt, nennt er seine MHP eine "Schlüsselpartei". Bahceli sagt: "All jene, die unseren Zusammenbruch herbeigeredet haben, sind jetzt mit der türkischen Wirklichkeit konfrontiert."
Bahceli und die MHP wurden von vielen Beobachtern, n-tv.de inklusive, praktisch schon für tot erklärt. In den vergangenen Jahren revoltierten Parteirebellen rund um die charismatische frühere Innenministerin Meral Aksener. Die ultranationalistische Partei zerbrach, Aksener gründete die Iyi-Partei und erhielt gewaltigen Zuspruch.
Die Iyi-Partei kam bei den Parlamentswahlen am Sonntag aus dem Stand auf 9,96 Prozent. Die MHP allerdings hielt mit 11,1 Prozent trotzdem fast ihr Wahlergebnis von 2015. Es sind doppelt so viele Stimmen wie in diversen Umfragen vor der Wahl vorhergesagt wurde. Wie ist das möglich? Woher bekam Bahceli die Stimmen, die er vermutlich an Aksener verloren hat?
Geklaut sind die Stimmen wohl nicht
Im Istanbuler Stadtteil Arnavutköy holte die MHP ihr bestes Ergebnis in der Metropole am Bosporus: 11,6 Prozent. Auf einem Platz am Wasser sitzt ein Vater mit seinem Sohn. Er will seinen Namen nicht nennen. Das kommt immer häufiger vor in Erdogans neuer Türkei. "Wenn die Wahl fair gewesen wäre, hätte die MHP sicher nicht dieses Ergebnis bekommen", sagt der Mann. Am Wahltag machten unzählige Fotos und Videos in sozialen Netzwerken die Runde. Sie zeigten angebliche Unregelmäßigkeiten beim Urnengang. Vorab gestempelte Stimmzettel, Wahlkarten im Mülleimer, Randale in Wahllokalen. Hat sich die MHP die Stimmen zusammengeklaut?
"Solche Vorfälle und Videos gibt es bei jeder Wahl in der Türkei", sagt Kristian Brakel, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "Rein subjektiv hatte ich den Eindruck, dass es dieses Mal eher weniger Vorfälle waren." Brakel ergänzt: "Wenn es um die Fairness der Wahl geht, sollte man den Blick weniger auf den Wahltag, sondern auf den Wahlkampf davor legen."
Die Wahlbeobachter der OSZE kommen in ihrem vorläufigen Bericht zu einem ähnlichen Urteil. Die Regeln wurden am Sonntag "weitgehend eingehalten", so das Fazit. Unfair sei gewesen, dass Erdogan zuvor Medien dominierte und staatliche Ressourcen für sich ausnutzen konnte. Hinzu kamen die Einschränkungen von Grundrechten im Rahmen des Ausnahmezustands, der in der Türkei seit dem Putschversuch 2016 gilt. Selbst CHP-Kandidat Muharrem Ince erkannte das Ergebnis mit diesen Einschränkungen an. Herbeimanipuliert hat sich die MHP die Stimmen also offenbar nicht.
Warnung an den Mann im Präsidentenpalast
In einer Seitenstraße raucht Ali Osman gerade eine Zigarette. Der 46-jährige Koch ist AKP-Anhänger und hat eine Theorie: "Ich bin mit Erdogan sehr zufrieden", sagt er. "Sollte ich das aber irgendwann nicht mehr sein, werde ich auch zur MHP gehen." So kann er Erdogans Macht einschränken, ohne gleich ins Oppositionslager wechseln zu müssen. Eine kleine Warnung an den starken Mann im Präsidentenpalast?

Der Kapitän Ibrahim spricht von "strategischen" Stimmen von AKP-Anhängern für die MHP.
(Foto: Issio Ehrich)
Die AKP Erdogans hat für diese Wahl eine Allianz mit der MHP gebildet. Nur deshalb hat er nicht nur die Präsidentschaft gewonnen, sondern auch die absolute Mehrheit im Parlament. Dieses kann Erdogan im neuen politischen Ein-Mann-System der Türkei zwar kaum stoppen, aber zumindest etwas bremsen. MHP-Chef Bahceli sagt selbst in seiner kurzen Rede in der Wahlnacht, dass er auch darin seine Aufgabe sieht. "Das Volk hat der MHP ein Mandat gegeben, über die Gewaltenteilung in dieser Regierung zu wachen."
Gut möglich, dass die MHP aus diesem Grund tatsächlich Stimmen von der AKP gewinnen konnte. Die Regierungspartei hat im Vergleich zur Parlamentswahl 2015 ja auch ungefähr 7 Prozentpunkte verloren. Wer sich auf den Straßen Arnavutköys umhört, bekommt aber noch viele andere Theorien zu hören, die alle auch nach Einschätzungen von Türkei-Kennern realistisch wirken.
Ein Geschenk für Bahcelis Hilfe
In einem Hinterhof sitzt die 62-Jahre alte Dürdane und strickt. Auch sie ist AKP-Anhängerin. "Das war ein Dankeschön an die MHP", sagt sie. Dürdane hat für Erdogan als Präsidenten gestimmt. Und weil die MHP dessen Partei in der Wahlallianz unterstützt hat, wurde bei der Parlamentswahl für Bahcelis Truppe gestempelt. "Das haben hier viele so gemacht", sagt Durdane. Ibrahim, ein 58 Jahre alter Koch und ebenfalls AKP-Anhänger, scheint das zu bestätigen. Er spricht von "Strategie".

Der Imbissbesitzer Murat vermutet, dass die MHP ihre Wählerbasis nie wirklich verloren hat.
(Foto: Issio Ehrich)
Und was sagen MHP-Anhänger? Ergün, ein Kellner in einem Fischrestaurant, ist seit 1990 MHP-Mitglied. "Es geht um Nationalismus", sagt er. Der Mitte-Linkspartei CHP wirft er einen großen Fehler vor. Kandidat Ince hat im Wahlkampf den inhaftieren Spitzenpolitiker der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, im Gefängnis besucht. Kemalisten und Kurden näherten sich in den vergangenen Wochen wieder an. Doch die CHP hat einen starken nationalistischen Flügel. Kellner Ergün glaubt, dass viele kurdenkritische CHP-Wähler ins Lager der MHP gewechselt sind.
Keine Hoffnung auf Frieden
Ein Warnsignal an Erdogan, Kritik am kurdenfreundlichen Kurs der CHP - Murat, ein 54 Jahre alter Imbissbesitzer und Hüseyin, ein 59 Jahre alter Hausmeister, haben noch eine weitere Theorie: "Die MHP ist einfach stark. Die Menschen mögen sie." In der Parlamentswahl im November 2015 hatte die MHP massiv Stimmen an die AKP verloren. Schuld daran war vor allem die Unfähigkeit, eine Koalition mit Erdogans Partei zu bilden.
Insbesondere nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 näherten sich die MHP und die AKP dann aber deutlich an. Türkische Gerichte verhinderten zunächst durch fragwürdige Entscheidungen, dass ein Parteitag der MHP stattfinden konnte, auf dem Rebellin Aksener MHP-Chef Bahceli stürzen wollte. Aksener musste die Partei verlassen. Und Bahceli war Erdogan wohl zu Dank verpflichtet. Beim umstrittenen Verfassungsreferendum 2017 warben AKP und MHP dann schon zusammen für das "Ja". Sind deshalb widerspenstige MHP-Anhänger von ihrem Ausflug zur AKP einfach in ihre politische Heimat zurückgekehrt, weil sich der Verdruss über die Unfähigkeit, eine gemeinsame Regierung zu bilden, gelegt hat?
Was am Ende den Ausschlag für das überraschende Ergebnis der MHP gab, werden wohl erst aufwändige Analysen der Wählerwanderungen zeigen. Womöglich kamen aber einfach viele Dinge zusammen. Sicher ist: Devlet Bahceli hat durchaus Recht, wenn er seine MHP jetzt als "Schlüsselpartei" bezeichnet. Sie wird den Kurs der Regierung Erdogan ein Stück weit mitbestimmen. Und das bedeutet wohl vor allem eines: Kein Friedensprozess mit militanten Kurden und eine brachiale Haltung gegenüber den liberalen Vertretern der größten Minderheit im Land.
Am Ende seines Statements in der Wahlnacht dankt Bahceli seinen Anhängern: "Ihr habt die Flagge mit den drei Halbmonden nicht fallen gelassen", sagt er über die Insignien der MHP. "Wie schön es an solch einem Tag doch ist, sich als Türken bezeichnen zu dürfen."
Quelle: ntv.de