Gaza-Krieg zerreißt Familie Rückkehr wäre ein "Todesurteil für meine Töchter"
02.02.2024, 11:51 Uhr Artikel anhören
Im Vergleich zur heftig umkämpften Nachbarstadt Chan Junis wurde Rafah bislang weniger zerstört. Nun plant Israel offenbar eine Offensive auch in Rafah.
(Foto: picture alliance / Anadolu)
Mit zwei kranken Töchtern sitzt Familienvater Muhammad Abu Tayour im palästinensischen Westjordanland fest. Drei weitere Kinder harren im umkämpften Gazastreifen aus.
Das kurze Gespräch über Orangen, das sie vor zwei Tagen über Whatsapp führten, könnte das letzte mit seinem 8-jährigen Sohn gewesen sein, fürchtet Muhammad Abu Tayour. Er sei auf das Schlimmste eingestellt, darauf, "dass sie da nicht lebend herauskommen". "Sie", das sind drei von Abu Tayours fünf Kindern im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren. "Da", das ist Rafah im Gazastreifen, wo er die beiden Jungs und ein Mädchen bei den Großeltern Ende September zurücklassen musste.

Eine eindeutige medizinische Erklärung für die Erkrankung seiner Töchter hat Muhammad Abu Tayour bis heute nicht. Die Untersuchungen in Ostjerusalem sollten das eigentlich ändern.
Abu Tayour selbst reiste damals gemeinsam mit seiner Frau über Israel nach Ostjerusalem, wo seine anderen beiden, körperlich behinderten Töchter in einem Krankenhaus untersucht und behandelt werden sollten. Dafür hatte die Familie eine israelische Einreisegenehmigung bekommen. Inzwischen sind die vier in einem Hotel in Ramallah im palästinensischen Westjordanland gestrandet und bangen Tag für Tag um das Leben ihrer Kinder und Geschwister.
Die zwölfjährige Malaak und die fünfjährige Hadaya leiden unter anderem an schweren Missbildungen an den Händen. Welche Krankheit dahintersteckt, ist trotz vieler Krankenhausaufenthalte bis heute nicht eindeutig geklärt. Der lang geplante Besuch im Ostjerusalemer Makased-Krankenhaus sollte das ändern. Nach einem ersten Besuch in der Klinik warteten die Eltern mit den beiden Mädchen in einer Wohnung in Rahat auf die Laborergebnisse. Die Stadt wird hauptsächlich von arabischen Beduinen bewohnt und liegt in Israel, etwa eine Autostunde von Jerusalem entfernt.
Ganz legal sei dieser Aufenthalt nicht gewesen, berichtet Abu Tayour, denn laut ihrer Einreisegenehmigung hätten sie wieder in den Gazastreifen zurückfahren und für eine mögliche Behandlung erneut einen Antrag stellen müssen. Der 32-jährige Familienvater machte sich aber keine Sorgen. "Die israelischen Behörden wussten genau, wo wir waren, und duldeten das."
Mädchen "unter Gottes Schutz"
2022 und 2023 hatte Israel die Vergabe von Aufenthaltsgenehmigungen an Palästinenser sowohl aus dem Westjordanland als auch aus dem von der radikalislamischen Hamas beherrschten Gazastreifen erheblich ausgeweitet. Am 7. Oktober befanden sich rund 18.000 Arbeiter aus Gaza in Israel, dazu weitere Menschen für medizinische Behandlungen. Dann überfielen Terroristen der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen Israel, ermordeten mehr als 1100 und verschleppten mehr als 200 Menschen. Mehr als 130 von ihnen sind immer noch in Geiselhaft. Bei Israels daraufhin begonnener Luft- und Bodenoffensive sind laut Zahlen, die Hilfsorganisationen für realistisch halten, mehr als 26.000 Menschen getötet worden - über ein Prozent der gesamten Bevölkerung im Gazastreifen.
Noch am Tag des Hamas-Massakers widerrief Israel alle Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für Palästinenser. Tausende Arbeiter aus dem Gazastreifen wurden interniert und später in das Kriegsgebiet deportiert. Andere flüchteten in die palästinensischen Autonomiegebiete im Westjordanland. Auch von diesen wurden viele verhaftet und abgeschoben. Mehr als tausend Arbeiter und Patienten sind aber seit inzwischen fast vier Monaten im Westjordanland gestrandet, darunter viele Väter und Mütter - rund hundert Kilometer und in unerreichbarer Ferne von ihren Kindern. So wie Muhammad Abu Tayour.
Die Lage dieser Gestrandeten ist nicht nur emotional schwer erträglich. Die meisten verfügen über keinerlei Einkommen, arbeiten können sie weder in Israel noch im Westjordanland. Zwar ist die Solidarität der Bevölkerung und auch der palästinensischen Behörden im Westjordanland groß, doch die Wirtschaft steht auch dort am Rande des Zusammenbruchs. Aufgrund der Rücknahme aller Arbeitsgenehmigungen durch Israel und weitreichender Restriktionen im Zuge des Krieges dürfte die Arbeitslosigkeit Schätzungen zufolge auf fast 50 Prozent gesprungen sein.
Abu Tayour hatte vergleichsweise noch Glück. Nachdem sich die Familie in Rahat eine Woche kaum auf die Straße gewagt hatte, erhielten sie per SMS die Aufforderung der israelischen Behörden, "zur eigenen Sicherheit" das Haus in Rahat und das Land zu verlassen. Über Ostjerusalem erreichten sie ungehindert Ramallah, wo sie inzwischen von der palästinensischen Autonomiebehörde untergebracht und versorgt werden. "Die Mädchen stehen unter Gottes besonderem Schutz." Das glaubt Abu Tayour über seine behinderten Töchter inzwischen noch mehr als früher.
15 Matratzen für 90 Menschen
Für das Schicksal der anderen Familienmitglieder gilt diese Zuversicht nicht. Über die aufgrund des oft unzuverlässigen Handynetzes und der vielen Stromausfälle unregelmäßigen Whatsapp-Gespräche erfuhr Muhammad Abu Tayour, dass in den vergangenen Monaten mehrere Cousins und deren Familienmitglieder an verschiedenen Orten des Gazastreifens bei Luftangriffen ums Leben kamen. Fast alle der Überlebenden aus seiner Familie haben inzwischen in Abu Tayours kleinem Haus in Rafah Zuflucht gesucht. Zwar hat Israel immer wieder auch Ziele in Rafah bombardiert, im Vergleich zum Norden des Gazastreifens, wo fast alle Häuser beschädigt und ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht wurden, sind die Zerstörungen in der südlichsten Stadt des Palästinensergebiets aber geringer.
Dafür ist Rafah mit Hunderttausenden Flüchtlingen überfüllt. Das gilt auch für Abu Tayours Haus. Etwa 90 Menschen leben in dem vier Zimmer und ein Bad mit Toilette umfassenden Haus - beziehungsweise darauf und darum herum. Um das Haus haben sie Zelte aufgestellt und auf dem Dach eine zweite Küche eingerichtet. Es fehlt an allem: Am dringendsten sei derzeit der Mangel an Decken und Matratzen, sagt Abu Tayour. "Es gibt nur 15 Schlafmöglichkeiten im Haus." Seine Familienmitglieder schliefen abwechselnd auf den wenigen Matratzen oder aber auf dem nackten Boden.
In Rafah nah der Grenze des Gazastreifens mit Ägypten verteilen Hilfsorganisationen ein Mindestmaß an Brot und anderen Grundnahrungsmitteln. Die normalen Wirtschafts- und Handelsstrukturen sind dagegen weitgehend zusammengebrochen. Zu kaufen gebe es praktisch nichts mehr, weiß Abu Tayour von seinen Familienmitgliedern. Nicht einmal Orangen, die sein Sohn sich wünscht. Dabei werden die im Gazastreifen selbst angebaut und sind jetzt während der Erntezeit normalerweise im Überfluss vorhanden.
Abu Tayours Hoffnung, seine Kinder und Familienmitglieder in Rafah wohlbehalten wiederzusehen, ruht auf einem baldigen Ende der Kämpfe. Er setzt alles darauf, seine Kinder dann nachholen zu können. "Wenn der Krieg noch lange weitergeht, werden sie nicht überleben", fürchtet er. Eine Rückkehr in den Gazastreifen zieht der Familienvater dagegen auch im Fall eines baldigen Friedens nicht in Erwägung. Die Zerstörung sei so umfassend, für Malaak und Hadaya, seine beiden behinderten Töchter, wäre das "ein Todesurteil".
Quelle: ntv.de