"Es wird immer schlimmer" Wo der Rabbi mit dem palästinensischen Farmer raucht


"Es ist ja total offensichtlich, dass wir gescheitert sind", sagt Shaul über die Organisation, die er zusammen mit Khaled gegründet hat.
(Foto: Max Borowski)
Auf einem kleinen, palästinensischen Bauernhof zwischen israelischen Siedlungen und Checkpoints versuchen ein Siedler-Rabbi und ein Palästinenser, die verfeindeten Bevölkerungsgruppen zusammenzubringen. Über die Erfolgsaussichten machen sie sich keinerlei Illusionen. Aufgeben können sie nicht.
"Es ist ja total offensichtlich, dass wir gescheitert sind", sagt Shaul und zieht an einer Zigarette, die sein Freund Khaled ihm reicht. Shaul Judelman, ein Rabbi aus der nahe gelegenen - laut internationalem Recht illegalen - israelischen Siedlung Tekoa, und Khaled Abu Awwad, ein palästinensischer Farmer aus dem Dorf Beit Ummar, arbeiten seit Jahren zusammen. Sie wollen jüdische Israelis und Palästinenser genau dort zusammenzubringen, wo Verständigung und Frieden am aller unmöglichsten erscheint. Im Westjordanland auf Khaleds Farm, die zugleich ein kleines Begegnungszentrum ist, veranstalten sie mit der von ihnen ins Leben gerufenen Organisation Begegnungen, Gesprächskreise und Kinderferienlager.
Während Shaul und Khaled erzählen, kräht im Hintergrund ein Hahn. Das Blöken der Schafe im Stall ist zu hören. Mehrere hundert Jugendgruppen aus ganz Israel waren in den vergangenen zehn Jahren hier auf diesem kleinen, idyllischen Bauernhof mitten im hochgesicherten jüdischen Siedlungsblock Gush Etzion zu Besuch. Viele setzten dabei erstmals einen Fuß in das Westjordanland, sprachen erstmals mit einem Palästinenser.
Stundenlang könnten Shaul und Khaled herzerwärmende Anekdoten aus den vergangenen Jahren erzählen: von israelischen Soldaten beispielsweise, die berichtetet hätten, ihre Begegnung mit Khaled auf seiner Farm hätte nicht nur ihre Sicht auf die Palästinenser grundlegend geändert, sondern sei der Grund, dass sie selbst während ihres Dienstes an den Checkpoints im Westjordanland nicht zu "Monstern" geworden seien und ihre Macht missbraucht hätten.
Todesangst vor den jeweils anderen
Oder die Geschichte von einer jüdischen Oberschule in Jerusalem. Eine Lehrerin hatte einen jüdischen und einen palästinensischen Friedensaktivisten zu einem Gespräch mit Schülern eingeladen. Nach Protesten der mehrheitlich rechtsgerichteten Eltern- und Schülerschaft, die unter anderem vom - damals noch oppositionellen - Rechtsextremisten Itamar Ben Gvir unterstützt wurden, wurde die Veranstaltung abgesagt. Die Lehrerin wandte sich daraufhin an Shaul. Sie organisierten für ihre Klasse einen Ausflug - offiziell zu Siedlern in Judäa, der israelisch-jüdischen Bezeichnung für den südlichen Teil des Westjordanlands. Nach einer zuvor nicht angekündigten mehrstündigen Begegnung mit Khaled auf seiner Farm veränderte sich die Stimmung in der Klasse komplett. Einer der Jungen, der sich zuvor besonders mit rassistischen Parolen hervorgetan hatte, habe Khaled zum Präsidenten eines gemeinsamen Staates für Juden und Araber machen wollen, erzählt Shaul lächelnd.
Solche Anekdoten geben Hoffnung, dass Frieden möglich ist. "Tatsächlich müssen wir uns aber eingestehen, dass es hier schon seit Jahren nicht besser wird, sondern schlimmer", sagt Shaul. Der Raum für die Palästinenser vor Ort sei immer weiter geschrumpft, die Restriktionen durch das Militär, Gewalt und Terror hätten zugenommen. Khaled ist nicht Präsident geworden, der Rechtsextremist Ben Gvir dagegen Sicherheitsminister in der Regierung von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
2022 sei bereits ein Tiefpunkt in Hinsicht auf Gewalt, Polarisierung und gegenseitigen Hass gewesen. "Jedenfalls dachten wir das", sagt Shaul. Dann kam der 7. Oktober 2023. Der Terrorangriff der Hamas habe auch die Aktivisten von Khaleds und Shauls Organisation so tief erschüttert wie kein Terroranschlag und Krieg zuvor. Die Arbeit in der bisherigen Form fortzusetzen, sei nicht mehr möglich gewesen. Auf beiden Seiten, in den jüdischen Siedlungen und in den palästinensischen Dörfern, lebten die Menschen in Todesangst vor den jeweils anderen. Viele Palästinenser in der Region haben ihre Jobs verloren, da Israel fast alle Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen annulliert hat. Aus Angst vor Anschlägen lassen auch die meisten jüdischen Siedlungen keine Palästinenser, die dort zuvor gearbeitet haben, herein. Gemeinsame Feriencamps oder Begegnungen für Kinder und Jugendliche - völlig undenkbar in dieser Situation.
Lebensweg voller Verlust und Gewalt
Die Angst ums eigene Leben ist real. An diesem Nachmittag wird nicht weit von Khaleds Farm wieder einmal ein von Terroristen ermordetes Kind jüdischer Siedler beerdigt. Tödliche Zwischenfälle an Checkpoints sind in den vergangenen Monaten fast alltäglich geworden. Vor einigen Monaten seien mit Messern bewaffnete Palästinenser in die Siedlung eingedrungen, in der er mit seiner Familie lebt, berichtet Shaul. Seine Tochter habe zu dem Zeitpunkt bei Nachbarn im Garten gespielt. Einer der mutmaßlichen Attentäter sei nur wenige Meter von den Kindern entfernt gestoppt und getötet worden. Shaul weist darauf hin, dass Umfragen zufolge eine überwältigende Mehrheit der Palästinenser die Hamas unterstützt und den Anschlag vom 7. Oktober rechtfertigt oder aber das Ausmaß des Terrors bestreitet. "Für gemeinsame Gespräche fehlt im Moment jede Grundlage."
Auch Khaleds Lebensweg ist durchzogen von Verlust und Gewalt durch den Konflikt mit Israel. Vor mehr als 20 Jahren töteten israelische Soldaten seinen Bruder. Ein Sohn wurde in der zweiten Intifada schwer verletzt, ein anderer Sohn verbrachte Jahre in israelischen Gefängnissen. Der Tod seines Bruders und ein anschließender Besuch israelischer Familien, deren Kinder bei palästinensischen Anschlägen getötet worden waren und die Trauer und Leid mit ihm teilten, hätten ihn zum Friedensaktivisten werden lassen. Derartige Begegnungen mit Israelis und Jahre später auch mit vermeintlich rechtsradikalen Siedlern wie Shaul hätten ihm gezeigt, "dass wir alle viel gemeinsam haben, dass Verständigung möglich ist, wenn wir uns auf den anderen einlassen und die andere Seite besser kennenlernen".
Doch derzeit wird auch das Leben von Friedensaktivisten wie Khaled und Shaul von der Logik des Konflikts bestimmt. So wird Khaled seine eigene Farm auch heute spätestens um 17 Uhr verlassen müssen, um rechtzeitig sein Wohnhaus in Beit Ummar zu erreichen. Denn bei Sonnenuntergang schließen die Soldaten seit dem 7. Oktober die Straßensperren um alle palästinensischen Dörfer der Umgebung. Die gesamte palästinensische Bevölkerung steht dann praktisch unter Hausarrest. "Khaled und ich wissen in diesen Tagen nie, ob wir uns am nächsten Tag wiedersehen", sagt Shaul. "Ein Palästinenser im Auto braucht nur eine falsche Bewegung zu machen und die Soldaten am Checkpoint eröffnen das Feuer."
"Das ist unser Leben hier"
Bei aller Desillusion und Lebensgefahr: Der Gedanke, einfach aufzugeben, selbst auf Gewalt, statt auf Verständigung zu setzen, oder wegzuziehen, ist weder Khaled noch Shaul jemals gekommen. Ihre Organisation heißt nicht von ungefähr Roots/Shoreshim/Dschusur, zu Deutsch: Wurzeln. "Das ist unser Leben hier", sagt Khaled. Wer glaubt, man könne die eine oder andere Seite mit Überredung oder Gewalt dazu bewegen, ihre Heimat im Westjordanland zu verlassen, der habe weder etwas von der palästinensischen Bevölkerung verstanden noch davon, was die jüdischen Siedler hier antreibt.
Auch wenn viele Aktivitäten ihrer Organisation zunächst ruhen, gibt es viel zu tun für die Friedensaktivisten. Derzeit organisieren sie vor allem praktische Hilfe bei Arbeitslosigkeit für palästinensische Familien in der Umgebung oder vermitteln bei Problemen mit dem israelischen Militär. Shaul schaltet sich zudem immer wieder ein, wenn gewalttätige Siedler Palästinenser angreifen. Seit dem 7. Oktober haben solche Angriffe auf palästinensische Dörfer im Westjordanland zugenommen, bei denen teilweise Bewohner getötet oder vertrieben wurden. Als Siedler und Rabbi versucht Shaul in diesen Fällen, auf gewaltbereite Siedler einzuwirken, und drängt die israelischen Sicherheitskräfte, durchzugreifen und die palästinensischen Dörfer besser zu schützen.
Khaled und Shaul hoffen, dass sich die Situation im Laufe der kommenden Monate wieder beruhigt und sie in Zukunft wieder jüdische Siedler und Palästinenser aus der Umgebung zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenbringen können. Aus seiner Erkenntnis, bisher gescheitert zu seinen, ziehen sie die Konsequenz, ihre Anstrengungen noch verstärken zu wollen. "Wir müssen neue Wege finden, um noch viel mehr Menschen zu erreichen", sagt Shaul.
Heute macht Shoreshim einen Schritt, die Verständigungsaktivitäten wieder aufzunehmen. Zum zweiten Mal seit vier Monaten kommt eine Gruppe junger Israelis zu Besuch auf die Farm. Shaul und Khaled wissen nicht, wie die 17- bis 18-jährigen Schulabgänger, die demnächst ihren Wehrdienst antreten, reagieren werden. Shaul drückt seine Zigarette aus und tritt hinaus aus dem kleinen Schuppen, um die Besucher in Empfang zu nehmen. Nach einem Einführungsvortrag lässt er die Jugendlichen mit Khaled allein diskutieren. Die Diskussion dauert über eine Stunde, so lange, bis alle eilig aufbrechen müssen - Khaled, um vor Sonnenuntergang sein Dorf zu erreichen, die Gruppe, um den Heimweg Richtung Tel Aviv anzutreten. Shaul ist erleichtert, dass die Jugendlichen so viel Interesse gezeigt haben, "das ist ein gutes Zeichen".
Quelle: ntv.de