Politik

Reisners Blick auf die Front "Russen greifen entlang der gesamten Front intensiv an"

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Am Morgen des 1. Juni sind bei Lwiw Feuer zu sehen, wo zuvor russische Raketen einschlugen.

Am Morgen des 1. Juni sind bei Lwiw Feuer zu sehen, wo zuvor russische Raketen einschlugen.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Nach der Freigabe durch die USA greift die Ukraine auch russisches Territorium mit westlichen Raketenwerfern an. So solle eine weitere Offensive im Norden abgewehrt werden, erklärt Oberst Markus Reisner im Interview mit ntv.de. An anderen Frontabschnitten ist Russland demnach erfolgreich.

ntv.de: Wie hat sich die Lage an der Front in den vergangenen Tagen entwickelt?

Markus Reisner: Die russische Offensive nördlich von Charkiw ist durch ukrainische Einheiten zum Halten gebracht worden. Die ukrainischen Streitkräfte haben in den letzten 14 Tagen aus unterschiedlichen Armeeeinheiten Teileinheiten herausgelöst und sie zusammen mit verfügbaren Reserven in den Norden geschickt. So ist es gelungen, diesen Vorstoß zu bremsen. Hinzu kommen lokale ukrainische Gegenangriffe, die aber noch keinen Raum gefasst haben.

Hat sich die Freigabe westlicher Waffen für den Einsatz auch gegen russisches Territorium bereits bemerkbar gemacht?

Ja. Ukrainische Offizielle erwarten eine Ausweitung der russischen Offensive, und zwar nordwestlich von Charkiw, im Raum Graiworon zwischen Sumy und Charkiw. Die Russen ziehen dort Kräfte für einen Einsatz zusammen. Und gegen ebenjenen Bereitstellungsraum setzen die Ukrainer HIMARS-Systeme ein. Das ist ein Versuch, die erwartete Offensive abzuwenden. Sollte es nun tatsächlich nicht zu einem Einsatz russischer Kräfte im besagten Raum kommen, kann man davon ausgehen, dass der Einsatz dieser Waffensysteme auf russischem Territorium ein Erfolg ist. Man muss im Moment abwarten.

Gibt es Erkenntnisse zur Wirksamkeit und verwendeten Munition bei den HIMARS?

In den sozialen Netzwerken finden sich Bilder von Verpackungskörpern dieser GMLRS-Raketen, die HIMARS verschießt. Demnach sind zumindest mehrere Dutzend, wenn nicht sogar mehr als hundert davon abgefeuert worden. Es fehlen aber Bilder der Einschläge. Im Sommer 2022 wurde das Internet regelrecht geflutet mit Bildern von zerstörten russischen Munitionsdepots und anderen Einschlägen westlicher Waffen in russische Ziele. Wir müssen abwarten, ob diesmal noch was kommt. Vor kurzem wurden erste Bilder einer zerstörten russischen S300/S400-Fliegerabwehrbatterie sichtbar.

Gelingt es Russland besser als damals, den Informationsraum zu kontrollieren?

Auf beiden Seiten hat man das besser im Griff. Die Zahl der Handyaufnahmen von Einschlägen in den sozialen Medien hat deutlich nachgelassen. Im Fall der Ukraine erfahren wir oft erst von Treffern auf Kraftwerke, weil die Energieversorger hernach Stromverknappungen ankündigen.

Die Freigabe der westlichen Waffen auch gegen russisches Territorium ist erst Ende vergangener Woche bekannt geworden. Die Ukrainer haben davon offenbar umgehend Gebrauch gemacht. War das also vorbereitet?

Davon kann man ausgehen. Die Veröffentlichung dieser Bilder der GMLRS-Verpackungen ist sicher kein Zufall. Das ist ein Zeichen an den Informationsraum: "Wir haben begonnen."

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Gibt es Erkenntnisse zu weiteren genehmigten Waffensystemen? Am Freitag wurde noch gerätselt, was die Ukraine alles gegen russisches Territorium einsetzen darf.

Infrage kommt einmal alles, was der HIMARS verschießt. Das sind zum einen die GMLRS und zum anderen die ATACMS. Beides sind Raketen. Hinzu kommt Rohrartillerie, wozu auch die deutsche Panzerhaubitze 2000 gehört. Das Dritte sind Luftabwehrsysteme wie die vor allem von Deutschland bereitgestellten Patriot-Systeme, die an der Grenze stationiert werden könnten, um russische Kampfflugzeuge daran zu hindern, aus sicherer Entfernung Gleitbomben in Richtung Ukraine abzufeuern.

Wo gab es weitere wichtige Gefechtsbewegungen?

Die Russen greifen weiter entlang der gesamten Front intensiv an. Dabei sind sie in zwei Räumen erfolgreich, wie Videoaufnahmen belegen: In Tschassiw Jar wird um den Siverskij-Donezk-Donbass-Kanal intensiv gekämpft. Von drei Übergangsstellen dürfte es den Russen gelungen sein, einen in Besitz zu nehmen und auf der anderen Seite des Kanals Fuß zu fassen. Das eröffnet ihnen den Zugang zu den Höhen von Tschassiw Jar. Zweitens ist es den Russen offensichtlich gelungen, südlich von Oscheretyne in der zweiten Verteidigungslinie der Ukrainer weiter vorzustoßen. Das taktische Vorgehen ist dabei interessant.

Wieso?

Die Russen gehen hier ähnlich vor wie im Zweiten Weltkrieg: Zuerst erfolgen Luftangriffe, darunter der Einsatz von Gleitbomben. Dann stoßen schwer gepanzerte Fahrzeuge wie "Sturmgeschütze" vor, zum Teil mit Minenräumern an der Spitze. So gelingt es den Russen immer wieder, durchzubrechen. Hier könnte die Freigabe von Angriffen auf russisches Gebiet helfen: Wenn die von Deutschland gelieferten Patriot-Systeme an die ukrainisch-russische Grenze verlegt würden, könnten sie die russischen Kampfflugzeuge am Abwurf von Gleitbomben unmittelbar hinter der Grenze hindern.

Jenseits des Frontgeschehens gab es am Wochenende erneut schwere Luftangriffe auf die Ukraine.

Richtig. Schon im Mai gab es drei schwere Angriffe, nun erneut einen Anfang Juni. Die Ukraine selbst gibt an, beim letzten Angriff von 53 Raketen und Marschflugkörpern 35 abgeschossen zu haben. Eine Abschussquote von 66 Prozent ist keine hohe Zahl. Sie lag mit Raten von 80 bis 90 Prozent schon mal höher. Von den Drohnen haben die Ukrainer 46 von 47 abgeschossen. Dass aber 34 Prozent der Raketen und Marschflugkörper ihr Ziel treffen, ist fatal. Die Wasser- und Heizkraftwerke sind zunehmend beschädigt, weshalb die Energieversorgung abgeschaltet werden muss.

Was ist der militärische Wert dieser Kampagne?

Das ist Teil der strategischen Ebene der russischen Kriegsführung. Sie zielt auf die Fähigkeit der Ukraine, den Krieg lange Zeit durchhalten zu können. Die Angriffe auf die kritische Infrastruktur sollen einerseits die militärisch-industriellen Produktionsfähigkeiten der Ukraine minimieren und andererseits Druck auf die Bevölkerung ausüben und die Unterstützung für die ukrainische Regierung brechen.

In der Ukraine wird eine weitere Mobilisierungswelle seit Monaten diskutiert. Laut "Washington Post" werden Rekruten inzwischen direkt an der Front ausgebildet. Wie interpretieren Sie diese Berichte?

Es geht immer um die Frage: Wie bringe ich den Rekruten in sehr kurzer Zeit das bei, was Sie zum Überleben auf dem Gefechtsfeld brauchen? Für die Kommandeure ist die Ausbildung an der Front eine zusätzliche Herausforderung, weil sie hierfür Personal abstellen müssen. Die ukrainische Regierung steht unter Druck, mehr Männer und Frauen an die Front zu bringen. Es häufen sich Bilder aus der Ukraine von jungen Männern, die auf der Straße angesprochen werden und zum Teil mit Gewalt in die Ausbildungsstellen gebracht werden.

Was bringen der Armee Soldaten, die gar nicht in den Krieg wollten? Ist deren Kampfmoral nicht ungleich schlechter als bei den Freiwilligen aus den ersten Kriegsmonaten?

Das ist richtig, doch die schon eingesetzten Kräfte werden sonst überlastet. Viele sind seit Kriegsbeginn im Einsatz. Hinzu kommen die vielen Verluste, auch wenn die Zahl niedriger ist als auf russischer Seite. Die brauchen also Ersatz, der nicht leicht aufzustellen ist. Man geht in der Ukraine - nach Abzug der Geflüchteten - von 33 Millionen Menschen mit Wehrpotenzial aus. In Russland leben 150 Millionen Menschen und die Russen generieren aus dem Wehrpflichtigensystem heraus immer neue Vertragssoldaten. Die Russen haben mit bis zu 520.000 zweieinhalbmal so viele Soldaten im Einsatz wie zu Beginn der Invasion. Die Ukraine hat etwa 880.000 Soldaten im Einsatz, davon 400.000 an der Front.

Wie wirkt sich nach einem Jahr andauernder Defensive die fehlende Perspektive auf Besserung auf die Truppenmoral aus?

Sie dürfen nicht vergessen, dass man in der Ukraine die Diskussionen im Westen über Sinn und Machbarkeit einer fortgesetzten militärischen Unterstützung verfolgt. Dieses Zaudern des Westens schlägt sich natürlich auf die Moral der Soldaten nieder. Mir sagen Soldaten aber oft, dass es ja keine Alternative gebe. Ihr Land soll zerstört werden! Auch in der Zivilbevölkerung sehen wir keine Proteste oder anderweitigen Widerstand. Aber seit dem Einmarsch der Russen sind nun 831 Tage vergangen, hinzu kommen die acht Jahre seit der Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbass. Die Menschen in der Ukraine sind zunehmend einfach kriegsmüde. Doch an der Front sind sie permanent gefordert. Wenn die zusätzliche russische Offensive bei Sumy kommt, verlängert das die Front zusätzlich. Es braucht dann noch mehr Soldaten. Das zermürbt.

Kann durch die Freigabe von Angriffen mit westlichen Waffen auf russisches Territorium vielleicht ein neues Momentum entstehen?

Das kann man erst sagen, wenn sich diese Angriffe in Ergebnissen messen lassen. Die müssten sich aber auch in absehbarer Zeit zeigen, weil die Zahl der gegen russisches Territorium zusätzlich verfügbaren Waffensysteme begrenzt ist. Denken Sie an die Situation bei der Artillerie, Munition und so fort: Selbst wenn man wollte, kann man nicht mehr liefern. Bei der Produktion fehlten inzwischen zum Teil Grundrohstoffe wie Sprengstoff. Derweil kann Russland immer weiter Material aus Nordkorea und China beziehen. Dieser Abnutzungskrieg wird über Ressourcen entschieden.

Frankreichs Pläne für die Entsendung von Militärausbildern in die Ukraine sind noch nicht offiziell vorgestellt worden. Was wäre der Mehrwert im Vergleich zur Ausbildung von Ukrainern auf EU-Boden?

Die Kommandeure an der Front würden um diese Aufgabe der Ausbildung entlastet. Logistisch ist es auch einfacher, wenn nicht Hundertschaften ukrainischer Soldaten hin und her reisen müssen. In der Ukraine gelten in der Ausbildung auch nicht die gleichen engen Regularien, etwa beim Einsatz von Drohnen. Und natürlich wäre die Entsendung von Ausbildern ein weiteres Signal der Unterstützung.

Haben die Europäer den Ukrainern überhaupt noch etwas beizubringen?

Ukrainische Soldaten sind von der Ausbildung im Westen oft enttäuscht, weil die Lehrgänge nicht ihre Erfahrung im Gefechtsfeld spiegeln. Drohnen etwa werden in der Ukraine in ganz anderem Umfang eingesetzt und man fragt sich, wozu man etwa ein Bordbuch für Drohnen anlegen und führen soll, wenn die meisten bereits nach einem Einsatz zerstört sind. Im Irak und Afghanistan haben auch die europäischen Streitkräfte viel Erfahrung gesammelt. Aber das ist nicht vergleichbar mit dem, was in der Ukraine passiert. Dort stehen sich Gegner mit gleichwertigen Waffensystemen auf hohem Niveau gegenüber. Für westliche Soldaten ist gar nicht vorstellbar, was dort an der Front passiert. Ich kann mich auch nur auf Gespräche mit den ukrainischen Kameraden stützen. Das erinnert dann oft an die Romanverfilmung "Im Westen nichts Neues", also an Kriegsszenen wie aus der Zeit des Ersten oder Zweiten Weltkrieges: dieses transparente Gefechtsfeld, die Schützengräben. Permanent beobachten Drohnen vom Himmel aus jede Bewegung, First Person View Drohnen stürzen auf die Soldaten herab. Es ist wirklich schrecklich. In Afghanistan hatten wir Angst vor Sprengfallen und Hinterhalten, aber wir mussten kein Artilleriefeuer wie im Ersten Weltkrieg ertragen.

Quelle: ntv.de

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