Mit West-Waffen gegen Russland Sechs Gründe, warum die Entscheidung richtig ist


Jüngst griffen die Russen einen Baumarkt in Charkiw an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht darin "eine weitere Manifestation des russischen Wahnsinns".
(Foto: -/Ukrinform/dpa)
Die Ukraine darf nun auch Waffen aus den USA und Deutschland für Angriffe auf Russland nutzen. Das ist ein weiterer Schritt in diesen Krieg hinein. Doch er ist folgerichtig und keine Eskalation.
Leicht war diese Entscheidung nicht, das muss man US-Präsident Joe Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz zugutehalten. Doch nun haben sie sich durchgerungen: Sie erlauben es der Ukraine, deutsche und amerikanische Waffen auch für Angriffe in Russland zu verwenden. Das ist historisch. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Die Amerikaner erlauben es einem anderen Land, mit amerikanischen Waffen Schläge gegen eine Atommacht zu führen. Es ist ein Moment, um den Atem anzuhalten und zu fragen: Geht das zu weit? Ist das der nächste Schritt in eine Eskalation? Die Antwort ist sicher nicht leicht, es steht viel auf dem Spiel. Doch am Ende spricht mehr dafür als dagegen. Biden und Scholz tun das Richtige. Aus sechs Gründen.
Da ist, erstens, die Lage in Charkiw, der Anlass für die Entscheidung. Die Russen tun gerade ihr Bestes, die Millionenstadt im Osten der Ukraine in Schutt und Asche zu legen. Dabei hatten sie bisher einen Vorteil: Sie konnten aus sicheren Artilleriestellungen hinter der Grenze auf die Stadt feuern. Für die Ukrainer war das bitter: Sie hat eigentlich die Waffen, um sich zu wehren, darf sie aber nicht einsetzen. Bis jetzt. Mit westlichen Systemen wie dem weitreichenden Raketenwerfer HIMARS oder der Panzerhaubitze 2000 können sie diese Stellungen erreichen. Im besten Fall hätte allein die Möglichkeit dazu schon einen Effekt. Russland könnte sich gezwungen sehen, die Artillerie weiter zurückzuziehen. Die Erlaubnis ist auf solche Stellungen begrenzt: Die Ukraine darf nur Stellungen ins Visier nehmen, von denen sie angegriffen wird oder von denen Angriffe vorbereitet werden. Sie darf also nicht wahllos nach Russland hineinfeuern.
Alles, was Last von den Menschen in Charkiw nimmt, ist eine gute Sache. Das ist das humanitäre Argument. Es gibt aber auch, zweitens, ein strategisches: Sollte Russland es schaffen, die Stadt sturmreif zu schießen und einzunehmen, wäre das ein Riesen-Erfolg für Putin - auch propagandistisch. Das ließe sich auch nicht mehr schönreden. Verteidigen ist aber immer leichter als (Zurück-)Erobern. Insofern ist es sinnvoll, die Stadt gar nicht erst aus der Hand zu geben.
Völkerrecht erlaubt es
Die neue Erlaubnis stärkt die Ukraine und macht damit, drittens, die westliche Waffenhilfe effizienter. Die Ukrainer müssen nun nicht mehr mit einem am Rücken festgebundenen Arm kämpfen, wie es manche ausdrücken. Das bedeutet auch: Die westlichen Waffen können größere Wirkung entfalten. Die liefernden Staaten bekommen mehr für ihr Geld.
Das vierte Argument betrifft das Völkerrecht. Das erlaubt ausdrücklich das, was jetzt passieren wird. Ein angegriffenes Land darf sich verteidigen, indem es Stellungen im Land des Aggressors angreift. Was für Waffen es dabei verwendet, spielt keine Rolle. Deutschland und die USA bewegen sich hier also weiterhin in diesem Rahmen. Insofern ist das keine Eskalation.
Andererseits: Putin ist das Völkerrecht vollkommen egal. Aber auch in einer Welt ohne Regeln wäre diese neue Erlaubnis keine Eskalation. Denn, fünftens, die Ukraine hat die Waffen ja bereits. Sie setzt sie auf ihrem eigenen Territorium schon gegen die Russen ein. Und mit ihren eigenen Waffen, beispielsweise Drohnen, greift sie schon seit längerem Stellungen in Russland an. Eine neue Qualität auf militärischer Ebene ist also nur in engen Grenzen zu erkennen.
Auch das Dauerbrenner-Argument gegen Waffenlieferungen zieht nicht. Ist das eine Provokation? Führt das zu einer weiteren Eskalation? Putin selbst stellt es so dar. Aber auf dem Schlachtfeld kann Russland konventionell kaum noch weiter eskalieren. Es kämpfen ja bereits Hunderttausende Soldaten im Nachbarland. Die ganze Wirtschaft wurde auf Krieg umgestellt. Die Russen könnten kaum grausamer und härter vorgehen. Wer erst Turnhallen, Baumärkte oder Kirchen bombardiert und etwas später noch einmal feuert, um die Sanitäter zu treffen, hat sämtliche Hemmungen, jedes Gewissen verloren.
Eskalation Richtung Atomkrieg?
Und ja, Russland ist eine Atommacht. Ja, Russland droht unterschwellig damit, diese Waffen einzusetzen. Nein, das sollte man nicht leichtfertig beiseite wischen. Aber, so sagen es viele Experten mit Erfahrung in Zeiten des Kalten Kriegs immer wieder: Man darf sich davon nicht einschüchtern lassen. Putin spielt mit diesen Ängsten und hat bisher jede Waffen-Debatte damit beeinflusst. Das war bei den Leopard-Panzern so und beim Marschflugkörper Taurus nicht anders. Passiert ist bislang nichts. Auch weil die Amerikaner sich klar positioniert haben und - ebenso wichtig - China ebenfalls. Ein Risiko bleibt dennoch, das Eis ist dünn.
Welches Signal aber hätte der Westen gesendet, wenn er diese Erlaubnis nicht gegeben hätte? Für Putin wäre klar gewesen: Die trauen sich nicht. Entschlossenes Dagegenhalten ist die einzige Sprache, die Putin versteht. Das ist das sechste Argument.
Wenn es stimmt, dass die Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt, ist diese Erlaubnis folgerichtig. Und doch ist sie auch Eingeständnis eines Scheiterns. Darin, dass die bisherigen Bemühungen nicht ausgereicht haben. Nun geht der Westen einen Schritt weiter in diesen Krieg hinein. Einen kleinen Schritt, aber es ist einer. So etwas tut man auch, um all die bisherigen Bemühungen nicht zunichtezumachen. Auch das ist konsequent. Aber natürlich, es stellen sich wieder diese Fragen: Was kommt als Nächstes? Wie soll das weitergehen? Wie soll das enden? Diese Fragen stellen sich alle. Nur, was kommt als Nächstes, wenn man nichts weiter tut? Auch Nichthandeln kann zur Eskalation führen. Bei Putin ist unbedingt damit zu rechnen.
Quelle: ntv.de