Westwaffen auf Ziele in Russland Was bringt die Entscheidung für das Schlachtfeld?
31.05.2024, 18:51 Uhr Artikel anhören
Mit dem Raketenwerfer HIMARS konnte die Ukraine 2022 einen Überraschungserfolg erzielen. Einen "HIMARS-Effekt" darf man bei der Entscheidung von heute nicht erwarten.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Mit langem Anlauf fällt die Entscheidung: Westliche Staaten erlauben der Ukraine, ihre Waffen auch in und über Russland einzusetzen. Doch hilft das der Ukraine tatsächlich im Gefecht? Denn noch gilt die Erlaubnis nicht für alle Waffen und alle Gebiete. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Welche Veränderungen bringt die Einsatzerlaubnis für Charkiw?
"Durch den Einsatz weitreichender Waffensysteme könnte man russische Kommandostrukturen, Logistikknotenpunkte, Nachschublinien, Artilleriegruppierungen sowie Raketenstellungen nördlich von Charkiw angreifen", sagt Oberst Markus Reisner ntv.de. Solche Attacken könnten die Kampfkraft der russischen Truppen, die dort mit immensem Druck vorgehen, eindämmen, ausgeführt etwa mit Boden-Bodenraketen, Luft-Bodenraketen oder Artillerie. "Aus deutschen Lieferungen würde sich hier der MARS II-Raketenwerfer eignen, den die Ukraine bereits in ihrer erfolgreichen Offensive in Charkiw im Herbst 2022 eingesetzt hat", so der Militärexperte. Auch die von Deutschland recht früh gelieferte Panzerhaubitze 2000 ist eine Option.
Sehr effektiv wäre der Einsatz westlicher Fliegerabwehrsysteme nah an der Grenze. Im Falle deutscher Waffenlieferungen betrifft das vor allem IRIS-T SLM und Patriot. "Mit diesen könnte man die russischen Kampfflugzeuge abschießen, welche derzeit mit ihren schweren Gleitbomben enorme Schäden anrichten", sagt Reisner. Gleitbomben können Dank eines eigenen Antriebs bis zu 70 Kilometer weit fliegen und ihr Ziel mit Präzision anpeilen. Vom Radar sind sie nur schwer zu orten. Der verheerende Angriff vom vergangenen Wochenende auf ein Einkaufszentrum in Charkiw wurde durch eine Gleitbombe erzielt.
Diese Waffen, die über russischem Grund losgeschickt werden, dürfen westliche Abwehrsysteme also in Zukunft schon über Russland abschießen. Doch die Sache hat einen Haken: Die Ukraine hat in den letzten Monaten immer wieder Patriot für den eigenen Luftraum genutzt, wurde dabei allerdings von den Russen aufgeklärt und verlor mindestens zwei Patriot-Werfer. Daraus ergibt sich ein großes Problem für den Einsatz dieser Waffen, die gerade jetzt und gerade gegen die Gleitbomben so gute Dienste leisten könnten. "Die russische Aufklärung mit Drohnen ist derzeit so dicht rund um Charkiw, dass es zu gefährlich ist, Patriotsysteme dort zu nutzen", sagt Sicherheitsexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations. "Würden die russischen Truppen mitkriegen, dass dort ein Patriot steht, würde in jede Bereitstellungshalle oder Feuerstellung eine russische Iskander-Rakete gehen." Gegen die Gleitbomben hilft die heutige Entscheidung also erstmal nicht weiter.
Welchen Effekt hat die Einsatzerlaubnis für die Lage rund um Charkiw?
Laut Reisner lässt sich ein Effekt dieses Politikwechsels erst mit einem sichtbaren Ergebnis messen. Vor einigen Monaten beispielsweise trafen westliche Waffensysteme sehr erfolgreich russische Ziele, konnten den russischen Vormarsch aber trotzdem nicht stoppen. "Zudem sind die Angriffe mit westlichen weitreichenden Waffensystemen immer weniger effizient, da die russischen Störmaßnahmen massiv zunehmen", so der Oberst. "Die Russen haben das Momentum, sie bestimmen, wo sie angreifen, und die Ukrainer sind gezwungen zu reagieren. Diesen Teufelskreislauf muss die ukrainische Armee unbedingt durchbrechen, sonst wird sie stetig abgenutzt."
Doch dafür reicht das derzeitige Waffenarsenal auch mit Erlaubnis, es auf russischem Boden einzusetzen, kaum aus. Zumal noch nicht klar scheint, ob sie für alle Waffen gelten wird. Offenbar haben sich die USA noch nicht festgelegt, welche Waffensysteme sie in ihre Einsatzerlaubnis für russisches Territorium einbeziehen wollen. Bleiben die ATACMS davon ausgeschlossen, dann bleibt den Ukrainern auch eine weitere wichtige Möglichkeit verwehrt, sich gegen russische Gleitbomben zu wehren.
"Wenn der Gleitbomben-Beschuss sich fortsetzt, hat die Ukraine ein massives Problem", erklärt Gressel. Das probate Mittel sei aus seiner Sicht, die Luftwaffen-Basen anzugreifen, von denen aus die Kampfjets mit Gleitbomben starten. Doch das wäre nur mit ATACMS möglich, da diese Raketen nicht nur weit fliegen, sondern auch Streumunition verschießen können. Die streut ihre Sprengkörper weit und kann so ihre Zerstörungskraft auch noch entfalten, wenn sie von einem russischen Störsender abgelenkt wurde. Dürfen die Ukrainer diese Raketen nicht nutzen, dann sieht Gressel kaum einen Effekt durch die Entscheidung von heute. "Dann können die Ukrainer dank dieser Erlaubnis Artillerieduelle an der Grenze gewinnen", sagt der Wissenschaftler. "Aber selbst das Überleben der Nordfront stelle ich dann infrage."
Wie können die Russen reagieren, um sich vor den westlichen Waffen zu schützen?
Die Russen haben in den letzten beiden Jahren viel dazugelernt. Vor allem aus dem Sommer 2022 sieht Markus Reisner einen großen Lerneffekt. Damals gelang es den Ukrainern, mit aus den USA gelieferten HIMARS-Raketen die russische Logistik überraschend massiv zu beschädigen. Ein solcher HIMARS-Effekt ist kein zweites Mal mehr herstellbar. "Die Russen haben bereits jetzt Abwehrmaßnahmen platziert", sagt Reisner. "Sie haben ihre Kommando- und Logistikstruktur aufgelockert und zusätzliche Versorgungswege angelegt. Zudem verfolgen sie erste Reihe fußfrei die zaudernden Diskussionen im Westen", auch befeuert von russischen Drohungen. Zeit zur Vorbereitung auf die Entscheidung der Ukraine-Unterstützer war also mehr als genug.
Auch wenn nicht alle Einrichtungen gesichert werden können, geht Reisner darum davon aus, "dass es keine wirkungsvollen Enthauptungsschläge geben wird". Ohnehin seien moderne Waffensysteme nur so lange erfolgreich, bis der Angegriffene funktionierende Abwehrmaßnahmen entwickelt hat, etwa indem er erbeutete Angriffswaffen analysiert. "Möchte man ein durchschlagendes Ergebnis erzielen, sollte man ohne Ankündigung massiv angreifen und nicht kleckern."
Kann die Richtungsentscheidung von heute die Lage der Ukraine substanziell verbessern?
Für einen solchen Effekt fehlt aus Sicht von Gustav Gressel das komplette Go! der westlichen Partner. Doch derzeit ist noch zu vieles unklar, mit Blick darauf, welche Waffentypen die Erlaubnis umfasst. Vor allem beschränkt sie sich nach derzeitigem Stand auf den Raum Charkiw und gilt nicht für Ziele in der Tiefe Russlands. "Ob die Franzosen und Briten erlauben, mit ihren Marschflugkörpern weiter ins Land zu schießen und hochwertigere Ziele zu treffen, steht alles noch in den Sternen", so Gressel. Diese Zusage jedoch bräuchte es aus seiner Sicht und eine Freischaltung aller gelieferten Waffensysteme.
Erst wenn die Ukrainer auch westliche Waffen mit großem Gefechtskopf einsetzen können gegen militärische Ziele, die in den Krieg verwickelt sind, würde das einen Unterschied machen. "Dazu gehören Kommandostellen, Systeme der elektronischen Kampfführung und Luftwaffenbasen. Dazu gehört auch Logistik - Depots, das Eisenbahnnetzwerk auf der anderen Seite. Das wäre der Effekt, den man eigentlich bräuchte."
Reisner schätzt die Menge an verfügbaren Storm Shadow und SCALP Marschflugkörpern aufgrund des abgehörten Telefonats der deutschen Luftwaffenoffiziere als gering ein. US-Präzisionsbomben werden durch die russischen Störer massiv behindert. "Bleiben noch unterschiedliche Versionen der ATACMS. Diese Raketen werden bereits eingesetzt, aber noch ohne sichtbaren 'ATACMS-Effekt'." Aus militärischer Sicht müsste man massive Angriffe mit unterschiedlichen Waffensystemen kurz hintereinander ausführen, sagt Reisner. Dies würde zur notwendigen Übersättigung der russischen Abwehrmaßnahmen führen. "Dazu benötigte es viele und hochwertige Waffen. Wenn sie nicht verfügbar sind, müssten sie geliefert werden. Dies gilt auch für TAURUS."
Quelle: ntv.de