Politik

Reisners Blick auf die Front "Russland hat die Front um 200 Kilometer verlängert"

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Seit Wochen schlagen in der Region Charkiw vermehrt russische Geschosse ein. Zur Vorbereitung eines neuen Angriffs?

Seit Wochen schlagen in der Region Charkiw vermehrt russische Geschosse ein. Zur Vorbereitung eines neuen Angriffs?

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Russland stößt von Norden her in Richtung der ukrainischen Metropole Charkiw vor. Im Interview mit ntv.de erklärt Oberst Reisner die russischen Erfolge - und die Strategie dahinter. Und: Die Abberufung des russischen Verteidigungsministers Schoigu sei "keine gute Nachricht".

ntv.de: Wir lernen den Namen der nächsten ukrainischen Stadt, die von Russland angegriffen wird: Wowtschansk, nördlich von Charkiw. Die russischen Streitkräfte rücken auf die Stadt vor. Was passiert da genau?

Markus Reisner: Eine neue russische Kräftegruppierung namens "Sever", zu Deutsch "Nord", hat nördlich von Charkiw an mindestens zwei Stellen die Grenze überschritten und marschiert vorwärts. Mindestens fünf Kilometer weit sind diese Kräfte in knapp drei Tagen vorgestoßen. Die Russen verfolgen mit dem Einmarsch der Truppen im Norden von Charkiw drei Absichten. Die erste ist der Versuch der Russen, eine Art Pufferzone zu bilden. Das folgt aus den zunehmenden Angriffen auf russische Städte in der Nähe der Grenze wie etwa Belgorod. Die Russen sagen, die Ukraine würde diese russischen Ortschaften beschießen. Die Ukrainer sagen, das seien die Russen selbst.

Und die zweite Absicht?

Zweitens hat Russland so die Frontlinie noch einmal um 200 Kilometer verlängert. Das setzt die Ukraine unter Druck, denn sie muss jetzt ihre kostbaren Reserven nicht nur im Donbass, sondern mittlerweile auch nördlich von Charkiw einsetzen. Damit kommt eine Taktik des Abnutzungskrieges zur Anwendung: Die Russen binden die Ukrainer an zusätzlichen Stellen, was es für sie schwieriger macht, die ganze Front zu bewirtschaften. Die dritte Absicht ist, ein Aufmarschgebiet für künftige Angriffe zu schaffen, eine Art Bereitstellungsraum, aus dem heraus dann die Russen theoretisch auch in Richtung Charkiw angreifen können.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Steht ein Angriff auf die einstige Millionenmetropole bevor?

So weit ist es im Moment noch nicht. Es sind drei Gruppierungen in dem Gebiet zu erkennen: Sie heißen räumlich zugeordnet "Kursk", "Brjansk" und "Belgorod". Zusammen verfügen diese über 50.000 bis 70.000 Soldaten. Das ist zu wenig, als dass ein Angriff auf Charkiw unmittelbar bevorstünde. Und man darf nicht vergessen: Die Russen stehen noch vor den ersten ukrainischen Verteidigungslinien, die sie in den nächsten 48 Stunden vermutlich erreichen werden. Direkt an der Grenze gab es kaum ukrainische Verteidigungsstellungen, weil diese unter permanentem russischem Beschuss gestanden hätten. Die Frage ist, ob die Ukraine in der Lage sein wird, die erste Verteidigungslinie dauerhaft zu halten.

Gibt es Erkenntnisse darüber, inwiefern die Ukraine bereits Menschen und Material in die Region verlegt hat?

Man hat bereitstehende Kräfte in der Tiefe alarmiert, die sofort an die Grenze marschiert sind, um diese vorbereiteten Verteidigungsstellungen zusätzlich zu bemannen. Und man erkennt auch, dass von anderen Abschnitten der Front Kräfte in Marsch gesetzt werden, etwa aus Richtung Saporischschja. Jetzt hängt alles ab von der Kunst des ukrainischen Oberkommandierenden, General Syrskyi, eine gute Balance zwischen den Kräften zu finden, die man einerseits im Donbass einsetzen muss, aber andererseits jetzt im Raum Charkiw bereitstellen muss.

Sind die Ukrainer im Norden überrascht worden?

General Bugdanow und sein Stellvertreter, General Skitbitski, haben in den vergangenen Wochen immer wieder darauf hingewiesen, dass man mit einem neuen Angriff auf den Raum Charkiw rechnen muss. Die Vorbereitungsphase dessen war gut erkennbar: Die Russen haben über zwei Monate versucht, Ziele aufzuklären. Sie haben in Folge die erkannten ukrainische Artillerie- und Abwehrstellungen gezielt angegriffen. Dazu kommt der Versuch, die Bevölkerung aus der Stadt Charkiw herauszutreiben, indem man die kritische Infrastruktur der Stadt zu fast 80 Prozent zerstört hat.

Einen russischen Ablenkungsangriff, um dann anderswo massiv durchzubrechen, schließen Sie aus?

Das könnte durchaus sein. Aber ich beobachte hier vor allem die Strategie des Abnutzungskrieges, also den Versuch, die Ukraine entlang einer immer längeren Front zu binden. So werden die ukrainischen Kräfte abgenutzt und daran gehindert, eigene Manöver zu unternehmen. Abhängig von ihrem Erfolg bei Charkiw werden die Russen dann über die nächsten Schritte entscheiden. Es kann sein, dass die Front dort in den nächsten Tagen wieder einfriert, weil die Russen an den ukrainischen Verteidigungsstellungen hängen bleiben. Es kann aber auch sein, dass eine Dynamik entsteht, die dazu führt, dass die Ukrainer mehr Gelände preisgeben müssen. Der russische Einmarsch im Norden könnte auch einen ukrainischen Rückzug an anderen Frontabschnitten nötig machen, weil die Ukraine Kräfte bündeln muss.

Weil es der Ukraine nicht nur an Waffen, sondern auch an Soldaten fehlt?

Ja, und weil sich die Russen in den letzten beiden Jahren immer signifikanter aufgestellt haben. Nach ukrainischen Angaben haben die Russen 514.000 Mann im Einsatz. Hinzu kommen die bis zu 70.000 Mann, die nördlich von Charkiw bereitstehen beziehungsweise im Einsatz sind. Dem muss die Ukraine etwas entgegensetzen. Dort aber ist die Diskussion über eine weitere Mobilisierung noch im Gange. Es ist offen, wann diese zusätzlichen Soldaten an die Front kommen, die ja auch noch ausgebildet werden müssen.

Die Zahl ist beeindruckend, aber die russischen Soldaten sind ja nicht alle gleichermaßen kampfstark. Bietet sich der Ukraine die Chance, nun anderswo selbst Offensiven zu wagen, um Druck auf die Russen auszuüben?

In der vergangenen Woche haben die Ukrainer in der Region Cherson versucht, bei Krynky weitere Brückenköpfe über den Fluss Dnjepr zu bilden. Sie wollten so die Russen zwingen, weitere Kräfte in Richtung Süden zu verschieben.

Sie haben drei Absichten hinter der Invasion im Norden genannt. Inwiefern spielt es eine Rolle, dass die 180.000 Schuss Munition aus Tschechien für Juni angekündigt sind und auch das Material aus dem US-Hilfspaket noch nicht in Gänze überstellt wurde? Will Russland möglichst viel erobern vor dem Eintreffen dieser Waffenpakete?

Das spielt als viertes Element sicherlich auch eine Rolle. Aufgrund mangelnder Ressourcen tut sich die Ukraine im Moment schwer damit, Angriffe abzuwehren. Wenn Ende Juni die ersten 180.000 Granaten aus Tschechien kommen, reicht das bei 6000 verschossenen Granaten pro Tag für 30 Tage. Die Russen aber verschießen 20.000 bis 25.000 Granaten am Tag. Wenn Sie so wollen, gibt es aber auch ein fünftes Motiv.

Nämlich?

Anlässlich von Putins Vereidigung als Präsident am 7. Mai und dem russischen Tag des Sieges am 9. Mai hat die politische Führung Druck auf das Militär ausgeübt, vorzeigbare Ergebnisse zu erzielen. Das konnte man sehr gut daran erkennen, dass es im russischen Medienraum zuletzt mehr Videos davon gab, wie in eroberten Ortschaften russische Flaggen gehisst wurden.

In der vergangenen Woche sprachen wir auch über die von den USA bereitgestellten Raketen ATACMS. Hat deren Einsatz inzwischen einen erkennbaren Effekt?

Messbare Erfolge sind weiterhin nicht zu erkennen. Das ist überraschend, weil die Bereitstellung vorbereitet war und schon zwei oder drei Wochen her ist. Das ist aus meiner Sicht kein gutes Signal.

Was wären denn erfolgreiche Einsätze?

Man hätte Angriffe auf russische Gefechtsstände und Logistikknotenpunkte sehen müssen, auch wenn es diese nicht mehr in so großer Ausprägung gibt, wie zu Beginn des Krieges. Das haben die Russen dazugelernt und als Folge der Angriffe mit den aus den USA gelieferten HIMARS-Raketenwerfern ihre Strukturen stärker dezentralisiert. Dennoch gibt es diese Gefechtsstände weiterhin genauso wie die potenziellen Ziele Logistik und Nachschublinien. Denken Sie etwa an die Eisenbahnlinien, die die Brücke über die Straße von Kertsch kompensieren. Derartige Ziele lassen sich auch nicht verlagern. Die Frage ist, ob da noch etwas kommt. Oder sind die Russen so anpassungsfähig geworden, dass der ATACMS-Effekt verpufft?

Während die Russen also erfolgreich den Luftraum in den besetzten Gebieten verteidigen, sind sie im eigenen Territorium angreifbar. Was bringen die vielen ukrainischen Angriffe auf Ölanlagen in Russland?

Für einen spürbaren Effekt bräuchte es eine Kampagne über mehrere Wochen und Monate. Aber nachdem sich die offiziellen Vertreter der USA wegen steigender Weltmarktpreise in Kiew beschwert haben, hat die Intensität dieser Angriffe nachgelassen. Das ist ein Treppenwitz der Geschichte! Zugleich hat Russland Flugabwehrsysteme ins Inland verlegt und Erfolge bei der Abwehr ukrainischer Angriffe erzielt, über die Sie nichts in den ukrainischen Medien lesen. Die erfolgreichen ukrainischen Angriffe dagegen waren vor allem spektakulär in der Wirkung und ließen sich gut für den Informationsraum nutzen. Messbare Erfolge sehen wir da aber nicht. Die Angriffsbewegungen der russischen mechanisierten Truppen werden nicht weniger wegen Spritmangels. Im Gegenteil: Im Norden von Charkiw hat Russland nun zusätzlich 400 Kampfpanzer, 1000 Schützenpanzer, 150 Raketenwerfer und Artilleriesysteme bereitgestellt.

Gestern Abend überraschte Wladimir Putin mit einer Personalrochade. Verteidigungsminister Sergej Schoigu wird Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats. Putins Wirtschaftsberater Andrej Beloussow übernimmt das Verteidigungsministerium. Wie interpretieren Sie den Vorgang?

Wir müssen hier drei Namen betrachten: Sergej Schoigu, dann Nikolai Patruschew, der bisher Sekretär des russischen Sicherheitsrats war, und Andrej Beloussow als neuen Verteidigungsminister. Beloussow ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler, spezialisiert auf Wirtschaftsplanung und Analyse. Die Russen versuchen mit ihm, die Kriegswirtschaft zentralisiert und strategisch auf diesen Abnutzungskrieg auszurichten. Beloussow soll das mit seinem Wissen und seinem Netzwerk für Putin umsetzen. Schoigu wird aber nicht abgeschoben. Der Sekretär des Sicherheitsrats ist eine wichtige Position, die bislang Patruschew innehatte. Der war aber aus meiner Sicht angezählt, weil er die Lage zu Beginn des Einmarsches in die Ukraine geschönt und einen schnellen Erfolg in Aussicht gestellt hatte. Jetzt bekommt Patruschew eine neue Funktion oder wird pensioniert.

Wie bewerten Sie den Stühletausch hinsichtlich der Ukraine?

Aus meiner Sicht sind das keine guten Nachrichten. Man kann davon ausgehen, dass die Russen versuchen, sich ökonomisch auf einen langen Krieg einzustellen. Und hier stellt sich die Frage: Ist dieser Krieg dann nur begrenzt auf die Ukraine oder geht es bereits weiter im Sinne eines strategischen, nachhaltigen Aufrüstens der Streitkräfte der Russischen Föderation? Putin, Schoigu als Sekretär des Sicherheitsrats, Beloussow als Verteidigungsminister und Generalstabschef Waleri Gerassimow bilden eine Quadriga. Wir müssen davon ausgehen, dass die Russen in der Lage sind, ihre Ziele weiter sehr nachhaltig umzusetzen.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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