ISW sieht hybride Kriegsführung Russland setzt NATO an finnischer Grenze unter Druck
21.11.2023, 09:39 Uhr Artikel anhören
Zuletzt versuchten Dutzende Menschen ohne ordnungsgemäße Papiere nach Finnland einzureisen.
(Foto: picture alliance/dpa/Lehtikuva)
Es wirkt wie ein Déjà-vu: Zahlreiche Migranten werden an eine NATO-Grenze verfrachtet und zum Grenzübertritt animiert. Was im Jahr 2021 zwischen Belarus und Polen zu Verwerfungen führte, wiederholt sich jetzt in Finnland. Das ISW sieht darin einen Versuch Russlands, die NATO zu destabilisieren.
Nach Ansicht des Institutes for the Study of War (ISW) wendet Russland eine bekannte Taktik der hybriden Kriegsführung an, um eine Migrantenkrise an der finnischen Grenze künstlich herbeizuführen. Das Vorgehen ähnele demnach den Vorfällen an der polnischen Grenze zu Belarus im Jahr 2021 und ziele wahrscheinlich in ähnlicher Weise auf die Destabilisierung der NATO ab, schreiben die US-Experten in ihrem täglichen Lagebericht zum Krieg in der Ukraine.
Das ISW hat nach eigenen Angaben bereits früher festgestellt, dass der Kreml die künstliche Herbeiführung einer Migrantenkrise an der belarussischen Grenze zu Polen ermöglicht oder möglicherweise direkt gesteuert hat, als belarussische Sicherheitskräfte Tausende Migranten aus dem Nahen Osten beim Überqueren der Grenze halfen. Der Kreml nutzte demnach die inszenierte damalige Krise, um die NATO fälschlicherweise der Aggression gegen Belarus zu bezichtigen. Westliche Länder warfen Belarus seinerzeit eine Vergeltungsmaßnahme für EU-Sanktionen vor.
Die finnischen Behörden schlossen am vergangenen Wochenende vier Kontrollpunkte an der südöstlichen Grenze zu Russland, nachdem der finnische Grenzschutz berichtet hatte, dass seit September ein Zustrom von etwa 300 Asylbewerbern, hauptsächlich aus dem Irak, dem Jemen, Somalia und Syrien, aus Russland an der finnischen Grenze angekommen war. Im April war Finnland der NATO beigetreten, was heftige Reaktionen in Moskau hervorgerufen hatte. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow drohte damals, dass Russland alle "Gegenmaßnahmen" ergreifen werde, die es für notwendig halte, um seine Sicherheit zu gewährleisten.
Der US-Thinktank listet mehrere Medienberichte auf, die die jüngsten Entwicklungen an der finnisch-russischen Grenze beleuchten. Demnach schrieb die Nachrichtenagentur Reuters am Sonntag, dass Dutzende Migranten an den geschlossenen Grenzübergängen Nuijamaa und Vaalimaa angekommen seien und sich bei Minustemperaturen um ein Lagerfeuer versammelt hätten. Die Zeitung "Iltalehti" berichtete am Montag, dass die finnischen Behörden erwägen würden, die gesamte Grenze zu Russland in der Nacht zum heutigen Dienstag zu schließen. Das ist nicht eingetreten. Russland und Finnland teilen eine 1340 Kilometer lange Landgrenze.
Moskau: "Wir lassen derartige Anschuldigungen nicht gelten"
Der finnische Ministerpräsident Petteri Orpo hatte laut ISW vor einer Woche gesagt, dass russische Grenzschutzbeamte Migranten an die finnische Grenze eskortieren oder transportieren. Daraufhin erklärte die finnische Regierung an, es gebe Hinweise darauf, dass "ausländische Behörden oder andere Akteure" eine Rolle dabei gespielt hätten, Menschen beim illegalen Grenzübertritt zu helfen.
Radio Free Europe/Radio Liberty berichtete am Sonntag, dass der Leiter des derzeit noch geöffneten Vartius-Kontrollpunkts, Jouko Kinnunen, erklärt habe, dass russische Grenzbeamte die Migranten auf die finnische Seite der Sperre drängten und dann die russischen Grenzsperren hinter ihnen schlossen. Das ISW kommt zu dem Schluss: "Es ist unwahrscheinlich, dass diese Migranten bei Minusgraden freiwillig an der finnischen Grenze bleiben, nachdem die finnischen Grenzbehörden ihnen die Einreise nach Finnland verweigert haben, was darauf hindeutet, dass Russland wahrscheinlich auf irgendeine Weise in die Situation verwickelt ist."
Russland wies am Montag entsprechende Vorwürfe zurück. "Wir lassen derartige Anschuldigungen nicht gelten", sagte Peskow in Moskau. "Grenzübergänge werden von denen genutzt, die das Recht dazu haben", fügte er hinzu. Die finnischen Vorwürfe bezeichnete er als "an den Haaren herbeigezogen". Er warf Helsinki vor, eine "klare russophobe Haltung" angenommen zu haben. Der russische Vize-Außenminister Alexander Gruschko warnte Finnland davor, die restlichen vier Grenzübergänge zu schließen. Eine derartige Entscheidung würde den "Interessen Finnlands zuwiderlaufen".
Die Beziehungen zwischen den Ländern haben sich seit dem Beginn des Ukraine-Krieges im Februar 2022 deutlich verschlechtert. Im April war Finnland nach jahrzehntelanger Bündnis-Neutralität der NATO beigetreten. Die Führung in Moskau hatte dies als "Angriff auf die Sicherheit" Russlands verurteilt. Bislang sind die finnischen Grenzen vornehmlich mit leichten Holzzäunen gesichert, die primär Viehbestände im Land halten sollen. Das 5,5-Millionen-Einwohner-Land erbaut aber derzeit einen 200 Kilometer langen Zaun entlang eines Teils der finnisch-russischen Grenze. Er soll im Jahr 2026 fertiggestellt sein.
Quelle: ntv.de, fzö/AFP