Politik

Völkermord-Experte im Interview "Russland verübt auch Genozid an Kindern"

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Der ukrainische Präsident Selenskyj am 20. Dezember in der Frontstadt Bachmut.

(Foto: picture alliance / SvenSimon-ThePresidentialOfficeU)

Der Historiker und Genozid-Forscher Eugene Finkel, der im ukrainischen Lwiw zur Welt kam, wirft Russland vor, einen Völkermord gegen die Ukraine zu planen. Im Interview mit ntv.de erklärt er, welche Beweise es dafür gibt, dass Russland selbst an ukrainischen Kindern einen Völkermord begeht. Die Aufarbeitung dieser Verbrechen werde Jahrzehnte dauern. Eine Versöhnung zwischen der Ukraine und Russland sei nur ohne Putin denkbar, der den Krieg laut Finkel längst verloren hat. Finkel lehrt an der Johns Hopkins University in den USA.

ntv.de: Das Jahr neigt sich dem Ende zu, der Krieg in der Ukraine leider nicht. Wenn Sie in ein paar Sätzen zusammenfassen müssten, was Russland der Ukraine angetan hat, was wäre Ihr Urteil?

Eugene Finkel: Mein Urteil wäre, dass Russland damit gescheitert ist, der Ukraine das anzutun, was es ihr antun wollte. Gleichzeitig ist es auch wichtig, darüber zu sprechen, was Russland sich selbst angetan hat. Es hat unglaubliche Zerstörung angerichtet, menschliches Leid, eine Besatzung und Völkermord.

Wie sah Russlands Plan aus und inwiefern ist Russland damit gescheitert?

Der Plan war entweder die Besatzung eines erheblichen Teils der Ukraine und möglicherweise die Teilung des Landes oder nur die Herbeiführung eines Wechsels der ukrainischen Regierung und der Installation einer pro-russischen Regierung. Beide Pläne sind gescheitert. Es ist ganz offensichtlich, dass es nicht die Strategie Russlands war, bis Dezember kämpfen zu müssen, ohne dabei wesentliche Erfolge vorweisen zu können.

Als wir uns im April unterhalten haben, waren die furchtbaren Bilder aus Butscha noch sehr frisch. Gibt es neue Hinweise, dass Putin einen völkermörderischen Krieg gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung führt?

Wir haben nun insgesamt ein besseres Verständnis. Im April waren das größtenteils Spekulationen ohne harte Beweise. Wir haben natürlich damals schon die politische Rhetorik und Geisteshaltung an der Spitze der russischen Regierung beobachtet, sowie in den russischen Staatsmedien. Vor allem die Propaganda, dass die Ukraine nicht existiert oder dass die Ukraine "russifiziert" werden soll und gleichzeitig jeder vernichtet werden muss, der nicht russisch sein will. Damals begann dieser Diskurs sich zu intensivieren: von der Befreiung von Ukrainern zum Töten von Ukrainern. Seitdem sind immer mehr Beweise ans Licht gekommen, und zwar nicht von den Medien, sondern auch von hochrangigen Staatsbeamten. Man kann also sagen: Es gibt nun deutlich mehr Beweise dafür, dass es den tatsächlichen Vorsatz gibt, die ukrainische Nation zu zerstören.

Von wem genau kommen diese Beweise?

Mit Blick auf die Ermordungen haben wir zum Beispiel immer mehr Beweise von desertierten russischen Soldaten bekommen. Weitere Beweise kamen über Recherchen von russischen Journalisten, die sich einige der Soldaten genauer angeschaut haben, die in oder in der Nähe von Kiew waren. Zum Beispiel ein Soldat, der in Butscha war und zugegeben hat, dass er Zivilisten umgebracht hat, aber auch darüber gesprochen hat, welche Motivation es dafür gab. Das waren zum Teil willkürliche Tötungen, aber es gab eben auch Listen, auf denen Menschen standen, die umgebracht werden sollten. Und weiter noch: Ukrainisch zu sprechen oder jegliche Form einer ukrainischen Identität zu zeigen, barg eine große Gefahr für die Menschen. Es gab und gibt konkrete Ziele, die auf einem "Ukrainischsein" basieren. Und wir bekommen auch aus den befreiten Gebieten im Süden immer mehr Informationen darüber, wer dort zum Ziel wurde. Wir sehen also Muster - Butscha war keine Ausnahme.

Ich will auch noch einen weiteren wichtigen Punkt ansprechen: Die Entführung von ukrainischen Kindern in sehr großen Zahlen und die Deportation dieser Kinder nach Russland. Auch das wussten wir im April noch nicht. Laut UN-Definition ist das auch ein Akt von Genozid.

Es gibt einen russischen Genozid an ukrainischen Kindern?

Wenn Sie sich die UN-Völkermordkonvention anschauen, dann gibt es dort verschiedene Handlungen, die als Genozid eingestuft werden. Eine davon ist, Kinder aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu entfernen und sie einer anderen Gruppe hinzuzufügen. Das Ziel: die ursprüngliche Gruppe zu zerstören. Das ist genau das, was wir im Süden der Ukraine gesehen haben. Ukrainische Kinder werden entführt und nach Russland gebracht, damit sie dort umerzogen und zu Russen gemacht werden. Das deckt sich mit meinen Beobachtungen der russischen Medienlandschaft oder der Aussagen von russischen Amtsträgern. Genau das war der Plan.

Wie wichtig ist es, diese Fälle von Völkermord aufzuzeichnen, und wie lang wird es dauern?

Es ist enorm wichtig, diese Fälle aufzuzeichnen. Nicht nur aus historischen, sondern auch aus juristischen Gründen. Wenn wir eine Form der Rechenschaft erreichen wollen, dann müssen wir das tun. Wie lange wird es dauern? Ich bin nicht sicher. Jahre, vermutlich Jahrzehnte.

Gibt es auch Fälle von ukrainischen Soldaten, die Kriegsverbrechen begangen haben?

Die Ukraine ist ziemlich schmallippig, wenn es um ihr Militär geht. Aber es gibt natürlich Beweise. Es hat Fälle von ukrainischen Soldaten gegeben, die Kriegsverbrechen begangen haben. In diesen Fällen verdienen die ukrainischen Journalisten Anerkennung für die Aufdeckung und natürlich auch die ukrainische Zivilgesellschaft, die nicht davor zurückschreckt, über diese Fälle zu sprechen und über sie zu berichten.

Warum haben die Menschen in der Ukraine einen so unglaublichen Kampfes- und Überlebenswillen?

Zum einen hat die Ukraine viel Erfahrung mit Kriegen - insbesondere seit 2014. Für Ukrainerinnen und Ukrainer ist es ein Überlebenskrieg. Sie wissen, dass, wenn sie diesen Krieg verlieren, ihre Identität schwinden würden und sie dazu gezwungen würden, Russen zu werden und wie Russen zu leben. Für sie handelt es sich also um einen existenziellen Kampf.

Außerdem ist die Ukraine in ihrer nationalen Identität heute viel geeinter. In der Ukraine gibt es endlich eine Gesellschaft, in der es nicht mehr so wichtig ist, welche Sprache man spricht oder welcher Religion oder Ethnizität man angehört. Das einzige Kriterium ist, dass man ukrainisch ist und sich ukrainisch fühlt. Das gab es so in der Ukraine früher nicht. Die Ukraine ist keine gespaltene Gesellschaft mehr und das gibt ihr eine enorme Kraft.

Der dritte Grund: Die Ukraine hat einen sehr fähigen Staat mit funktionierenden Institutionen. Und viertens: Die Ukraine hat Erfolg. Ja, sie muss offensichtlich riesige Verluste hinnehmen und erlebt ein großes Leid. Aber letztlich hat Russland diesen Krieg bereits in den ersten zehn Tagen verloren, womöglich sogar in der ersten Woche, als es nicht gelang, Kiew einzunehmen.

Inwiefern ist es überhaupt möglich, ein Ende des Krieges durch Diplomatie und Verhandlungen herbeizuführen?

Natürlich wird es Verhandlungen geben. Es muss Verhandlungen geben. Aber sie sollten zur richtigen Zeit kommen. Wenn man Kriege zwischen modernen Staaten analysiert, dann sieht man, dass ein Deal nur dann möglich ist, wenn eine der beiden Seiten geschlagen ist oder einfach zu erschöpft, um weiterzukämpfen. In solchen Fällen haben Verhandlungen eine Chance. Derzeit sehe ich allerdings keine Indizien dafür. Die Russen haben ihre Ziele nicht aufgegeben und sie sind weiterhin gewillt zu kämpfen. Die Ukraine hat ihre Ziele definitiv nicht aufgegeben. Und laut aktueller Umfragen wollen die Ukrainer nicht nur zurück zu den territorialen Grenzen vom 24. Februar 2022, sondern sie wollen auch einen befreiten Donbass und eine befreite Krim. Verhandlungen wird es geben, aber nicht jetzt.

Welche Auswirkungen wird dieser Krieg auf künftige Generationen von Ukrainern und Russen haben, auch wenn es irgendwann einen Frieden geben sollte?

Das wird stark davon abhängen, wie dieser Krieg endet. Sollte der Konflikt irgendwie eingefroren werden, dann kann jederzeit ein Krieg wieder ausbrechen. Die ukrainische Gesellschaft wird sich militarisieren und sie wird danach streben, die durch Russland besetzten Gebiete zu befreien. Die Menschen werden zum einen aufgrund des an ihnen begangenen Völkermords schwer traumatisiert sein und zum anderen, weil sie keinen Schlussstrich ziehen und somit keine Gerechtigkeit erfahren können.

Und das andere Szenario?

Im Falle eines Sieges der Ukraine wäre die ukrainische Gesellschaft natürlich ebenfalls schwer traumatisiert, aber wenigstens könnten sie diese schlimme Erfahrung hinter sich lassen und es könnte sogar passieren, dass sie dadurch wachsen und neue Helden oder eine neue Identität für sich zementieren. Meine Hoffnung ist, dass auch die dunkleren Seiten der ukrainischen Geschichte in den Schatten gestellt werden, wie etwa die Verehrung von Nationalisten wie Stepan Bandera, die es in den rechtsextremen Bereichen der ukrainischen Gesellschaft gibt. Dieser Krieg könnte es ermöglichen, etwas viel Integrativeres aufzubauen.

Stepan Bandera

Stepan Bandera war einer der wichtigsten Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die 1929 in Wien gegründet wurde und einen unabhängigen ukrainischen Staat erkämpfen wollte. "Die Ideologie dieser Organisation war faschistisch, antisemitisch, antirussisch und antipolnisch", sagt die Historikerin Franziska Davies im Interview mit ntv.de. Milizen, die Bandera nahestanden, haben sich im Zweiten Weltkrieg an der Vernichtung der Juden beteiligt und waren verantwortlich für die Ermordung von 70.000 Polen 1943 und 1944 in Wolhynien. Davies weist darauf hin, dass die Ukraine erst seit den 1990er Jahren die Beteiligung am Holocaust aufarbeitet. Bandera sei in der Ukraine hoch umstritten.

Letztlich haben diese beiden Szenarien unterschiedliche Auswirkungen auf eine mögliche Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine. Wird der Konflikt eingefroren, dann ist eine Versöhnung mit Russland unmöglich. Sollte die Ukraine gewinnen, dann wird so eine Aussöhnung lange dauern. Aber um es klar zu sagen: Ich rede ganz bewusst nicht über die Möglichkeit eines russischen Sieges. Ich denke, dass der gerade ziemlich außer Frage steht.

Ein Sieg Russlands über die Ukraine ist Ihrer Meinung nach ausgeschlossen?

Ja. Ich sehe nicht, wie die Russen einen militärischen Sieg herbeiführen können. Vielleicht schaffen sie es, den Konflikt einzufrieren und dann würden sie es in einigen Jahren nochmal versuchen. Aber aktuell? Nein, ganz sicher nicht.

Ist eine Versöhnung der beiden Länder überhaupt möglich, solange Putin Präsident Russlands ist?

Nein, absolut nicht. Es wird vielleicht Verhandlungen geben und ein Friedensabkommen mit Putin oder dem russischen Staat. Aber nein, eine Versöhnung ist nicht möglich, solange Putin an der Macht ist.

Tut Deutschland Ihrer Meinung nach mittlerweile genug, um die Ukraine zu unterstützen?

Die Deutschen machen viel, allerdings nicht so viel, wie die Ukraine und ihre Verbündeten das gerne hätten. Die deutsche Kommunikationsstrategie - als Außenstehender betrachtet - ist ein Desaster. Um Churchill zu zitieren: Er hat mal über die Amerikaner gesagt, dass sie letztlich das Richtige tun werden, nachdem sie alle anderen Optionen ausgeschöpft haben. Und genau das macht Deutschland mit Blick auf die Ukraine: Sie tun das Richtige, aber erst nachdem alle andere Optionen geprüft wurden. Das heißt, dass Deutschland am Ende zwar das Richtige machen wird, aber sie werden auch Zeit verschwenden und dafür dann auch keine Anerkennung bekommen.

Mit Eugene Finkel sprach Philipp Sandmann

Quelle: ntv.de

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