Politik

Interview mit Oberst Reisner "Russland will die Ukraine zum Angriff zwingen"

Ukrainische Soldaten feuern in der Nähe von Bachmut auf russische Stellungen.

Ukrainische Soldaten feuern in der Nähe von Bachmut auf russische Stellungen.

(Foto: AP)

Oberst Markus Reisner geht davon aus, "dass die Ukraine über den Winter versuchen wird, weiter in die Offensive zu gehen, soweit das möglich ist, während Russland sich eher defensiv verhalten wird". Die Russen würden darauf setzen, dass die ukrainische Armee dann im Frühjahr geschwächt ist, sagt er im Interview mit ntv.de. "Bis dahin werden auch die mobilisierten Kräfte in Massen an der Front angekommen sein." Die bisherigen Waffenlieferungen des Westens seien für die Ukraine "zu viel, um zu sterben, und zu wenig, um zu leben".

ntv.de: Von dem Gebiet, das die Russen seit Beginn ihrer Invasion seit dem 24. Februar erobert hatten, hat die Ukraine mehr als die Hälfte befreit. Hätten Sie das vor zehn Monaten für möglich gehalten?

Markus Reisner: Diese Frage kann ich im Chor mit vielen anderen Experten beantworten, die sich in den vergangenen Monaten immer wieder korrigieren mussten. Unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion war unisono die Auffassung vorherrschend, dass die Ukraine diesen Krieg nicht lange würde führen können. Selbst das Pentagon, das vorher ja noch vor dem Überfall gewarnt hatte, glaubte nicht daran, dass die Ukraine lange durchhalten würde. Westliche Geheimdienste gingen am 24. Februar davon aus, dass Kiew binnen Stunden an die Russen fällt.

Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.

(Foto: Screenshot)

Ganz so erfolgreich war Putins Blitzkrieg nicht.

Die Ukrainer haben alle überrascht. Aber man muss auch klar sagen: In den ersten Tagen des Krieges stand es auf der Kippe. Die Russen hatten alles auf einen Enthauptungsschlag aufgebaut - sie wollten Kiew erobern und Präsident Selenskyj absetzen. Aber das hat nicht funktioniert. Seither ist es ein Hin und Her. Mal überraschen die Ukrainer mit einer erfolgreichen Offensive, mal rücken die Russen vor. Jetzt, im Winter, sehen wir eine Pattsituation. Beide Seiten verbuchen Erfolge und Rückschläge, aber wie der Krieg ausgehen wird, ist nicht klar.

Was war aus Ihrer Sicht bisher die größte militärische Leistung in diesem Krieg?

Das war der durch den überraschenden Abwehrerfolg der Ukrainer erzwungene Abzug der Russen aus dem Raum Kiew in Richtung Donbass. Auch wenn der Abzug der Russen geordnet stattfand, war damit klar, dass Plan A der Russen gescheitert war. In diesem Moment wurde der Widerstand der Ukraine erkennbar: Wir haben Kiew befreit, wir werden auch den Donbass befreien und uns sogar die Krim zurückholen. Bis heute ist der Rückzug der Russen aus dem Großraum Kiew für den ukrainischen Widerstand tonangebend.

Der russische Plan B war dann, sich auf die Front im Donbass zu konzentrieren.

Russland hat sich mit seinem Einmarsch verkalkuliert. Es hat eine Zeit gebraucht, bis es das erkannt hat. Aber schlussendlich haben die Russen darauf reagiert. Die erste Reaktion war das Zusammenziehen der Kräfte im Donbass und der Versuch, dort eine Entscheidung herbeizuführen. Damit ging der anfängliche Erfolg der Ukrainer im Sommer in eine Pattsituation über. Sie erinnern sich sicher an die Kesselschlacht von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk, die die Russen im Juli für sich entschieden haben. Zwar nicht so groß, wie sie es geplant hatten, also mit einem Vorstoß von Isjum Richtung Süden, vielleicht gar bis zum Dnipro. Aber sie haben den Kessel dafür verwendet, um immer wieder ukrainische Reserven und auch Waffenlieferungen aus dem Westen zu zerstören.

Waffenlieferungen, die ohnehin nur langsam in Gang kamen.

Es hat ein bisschen gedauert, bis der Westen verstanden hat, wie massiv die Ukraine unterstützt werden muss. Das lag zum Teil auch an der Art, wie die ukrainische Regierung den Informationskrieg führte: Sie suggerierte, dass die Ukraine die Russen nicht nur abwehren, sondern auch erfolgreich gegen sie kämpfen konnte.

Erst nach dem Eintreffen der ersten Waffensysteme in der Ukraine wurde die ukrainische Armee in die Lage versetzt, die Russen zumindest auf eine gewisse Distanz zu halten. Vor allem das Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem HIMARS war für die Ukraine wertvoll. Damit konnte sie Munitionslager der Russen und auch die Brücken in Cherson zerstören. Nach ihrem Scheitern bei Kiew waren die Russen ja auf ein anderes Vorgehen umgeschwenkt: nicht mehr schnell und tief vorstoßen, sondern langsam mit massiver Artillerieunterstützung. Die HIMARS haben der Ukraine geholfen, dieses Vorgehen der Russen zu stören, so dass sie in der dritten Phase des Kriegs selbst in die Offensive kommen konnten.

Die dritte Phase begann Anfang September mit dem Durchbruch bei Balaklija in der Region Charkiw.

In dieser Phase hat die Ukraine nicht nur die Region Charkiw zurückerobert, sondern im November auch die Stadt Cherson und das Gebiet ringsum, nördlich des Dnipro.

Klingt nach einer guten Ausgangslage für die nächste ukrainische Offensive.

Jein. Denn erstens braucht die Ukraine weiter die massive Unterstützung des Westens, vor allem durch Waffenlieferungen und nachrichtendienstliche Aufklärung. Und zweitens hat Russland erkannt, dass die Felle davonschwimmen, und versucht erneut, sich entsprechend anzupassen. Die erste große Entscheidung, die wir hier gesehen haben und die Russland eigentlich vermeiden wollte, war die Mobilmachung. Die neu mobilisierten Kräfte füllen jetzt die Lücke, die den Russen schon am Anfang Schwierigkeiten gemacht hatten.

Im Moment sind sie vor allem damit beschäftigt, die Energieinfrastruktur der Ukraine zu zerstören und zivile Ziele anzugreifen.

Diese massiven Angriffe auf die kritische Infrastruktur fingen am 10. Oktober an. Zum einen geht es bei den Angriffen um das, was man "Shaping" nennt, also die Vorbereitung einer Schlacht durch Angriffe auf die Infrastruktur. Zum Beispiel erschweren sie so die Lieferung des von der Ukraine dringend benötigten Nachschubs aus dem Westen. Und natürlich geht es den Russen auch darum, die Moral der Bevölkerung zu zerstören.

Kann so etwas funktionieren?

Wir wissen, dass die Bombardements von Städten im Zweiten Weltkrieg die Moral der Bevölkerung nicht geschwächt haben, eher im Gegenteil. Gefährlich für die Ukraine ist allerdings die strategische Abnutzung - die Zerstörung der Umspannwerke, der Kraftwerke, des Stromnetzes insgesamt. Die Ukraine reagiert, indem sie versucht, Russland in der Tiefe zu treffen - durch Angriffe auf Flugplätze und auf die Schwarzmeerflotte, denn von den Schiffen werden die Marschflugkörper abgefeuert. Es gab da zwei oder drei spektakuläre Angriffe mit unbemannten Oberwasser-Systemen auf Sewastopol und mit Drohnen auf strategische Luftwaffenbasen in Russland. Aber um wirklich einen Unterschied zu machen, müssten solche Angriffe im großen Stil passieren. Das sehen wir bislang nicht.

Welchen Unterschied macht die Lieferung eines Patriot-Luftabwehrsystems der USA an die Ukraine?

Zum Game-Changer taugt ein solches System alleine nicht. Zu einer Patriot-Batterie gehören bis zu sechs Werfer, die gleichzeitig Munition abfeuern können. Insgesamt sind bis zu 24 Schüsse gleichzeitig möglich, dann muss nachgeladen werden. Für einen Angriff mehrerer Marschflugkörper und Drohnen bedeutet das: Die Patriot kann nur eine begrenzte Zahl abwehren, alle anderen treffen ihre Ziele.

Halten Sie es für vorstellbar, dass Russland aufgibt, wenn es feststellt, dass es mit den bisherigen Strategien nicht weiterkommt?

Ich glaube, ein Aufgeben Russlands ist fast unvorstellbar. Die jetzige Führung hat sich so in diesen Krieg verrannt, dass sie nicht einfach aufgeben kann. Also müsste die Führung entfernt und einer anderen Führung die Möglichkeit gegeben werden, dieses Aufgeben durchzuführen. Die Frage ist, wer das wäre. Die nächste Ebene hinter Putin? Da gibt es einige, die sich noch radikaler geben als er. Wir sehen das ja im russischen Staatsfernsehen, da fordern einige der möglichen Kronprinzen, dass Kiew in Schutt und Asche gelegt wird. Oder die Bevölkerung ringt sich durch, eine Revolution durchzusetzen. Derzeit sieht es allerdings nicht danach aus.

Gibt es keine Anzeichen für Verhandlungen?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es vor dem Abzug der Russen aus Cherson im Hintergrund Gespräche gab. Das konnte man an zwei Dingen erkennen: erstens an der Reise des Sicherheitsberaters von US-Präsident Biden, Jake Sullivan, Anfang November nach Kiew, also kurz vor der Befreiung von Cherson. Dort wurde möglicherweise auch der Abzug der Russen besprochen. Denn der hatte ganz klar einen Beigeschmack: Trotz der zerstörten Brücken über den Dnipro und obwohl sie unter ukrainischem Dauerbeschuss standen, ist es den Russen gelungen, 30.000 Mann inklusive Gerät in wenigen Tagen auf die andere Seite des Flusses zu holen. Warum hat die Ukraine das zugelassen? Diese Kräfte kann Russland nun im Donbass oder in der Gegend von Melitopol im Süden der Ukraine einsetzen.

Sie glauben, dass Sullivan den Abzug vermittelt hat?

Ja. Ein zweites Indiz dafür sind die Aussagen von US-Generalstabschef Mark Milley. Der sagte im November, dass die Russen 100.000 Verluste erlitten haben dürften, also Tote und Verwundete. Und jetzt kommt's: Er fügte hinzu, dass die Verluste auf ukrainischer Seite ähnlich hoch seien. Das hatte vorher noch niemand so deutlich gesagt. Dazu kämen noch einmal rund 40.000 ukrainische Zivilisten, die ums Leben gekommen seien, so Milley. Außerdem sagte er wenige Tage nach dem Triumph der Ukraine in Cherson, dass es die Möglichkeit einer politischen Lösung gebe und dass die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges, "definiert als Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim", nicht hoch sei.

Aber weder die Ukraine noch Russland scheinen die von Milley angesprochene politische Lösung zu wollen. Präsident Selenskyj forderte von Russland den Abzug der Besatzungstruppen ab Weihnachten, und Russland bezeichnete als Voraussetzung für Friedensverhandlungen die Anerkennung der annektierten Gebiete durch die Ukraine - also auch von Gebieten, die Russland derzeit gar nicht kontrolliert.

Sowohl die Ukraine als auch Russland gehen davon aus, dass sie auf dem Gefechtsfeld derzeit mehr zu gewinnen haben als am Verhandlungstisch. Russland hat damit begonnen, sich einzugraben. Sie haben die Wagner-Linie und die Surowikin-Linie angelegt. Die Surowikin-Linie, benannt nach dem Kommandeur der russischen Armee in der Ukraine, verläuft in Russland, in den Regionen Belgorod und Kursk, die Wagner-Linie in der ukrainischen Region Luhansk. Die Russen verlegen dort Drachenzähne - so nennt man diese Betonpyramiden -, Sperranlagen und hunderttausende Minen. Sie wollen eine Situation schaffen, in der die Ukraine zum Angriff gezwungen ist.

Die Russen wollen die Ukraine in die Offensive kommen lassen?

Mich erinnert die Situation an den Sommer, an den Kessel von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk. Wie dort wollen die Russen wieder für eine Situation sorgen, in der die Ukraine Soldaten und Geschütze genau dorthin bringt, wo sie sie haben wollen - in die Reichweite ihrer Artillerie.

Im Moment wird viel davon gesprochen, ob der Krieg im Winter pausieren oder eskalieren wird. Mit welcher Art der Kriegführung rechnen Sie in den nächsten Monaten?

Beide Seiten werden immer darauf achten, gute Möglichkeiten zu nutzen, wenn sie sich ergeben. Der russische Ansatz wird eher ein defensiver sein, um sich hinter den für sie momentan günstigen Linien zu konsolidieren und gleichzeitig weiter die kritische Infrastruktur der Ukraine zu zerstören. Im Frühjahr werden sie dann eine Bestandsaufnahme machen und sehen, was noch möglich ist.

Und die Ukraine?

Die Ukraine wird versuchen, Entscheidungen herbeizuführen. Neben Charkiw und Cherson derzeit wenig beachtet versucht die Ukraine, aus dem Raum Saporischschja Richtung Melitopol vorzustoßen, wo sie aber auf den erbitterten Widerstand der Russen trifft. Eine Einnahme von Melitopol, verbunden mit einem nochmaligen Angriff auf die Brücke von Kertsch, hätte für die Ukraine den Vorteil, dass sie die russische Armee komplett von ihrem Nachschub auf der Krim abschneiden würde. Das würde die Russen im Winter in eine sehr prekäre Versorgungslage bringen. Bisher ist der Ukraine dieser Durchbruch allerdings nicht gelungen.

Unterm Strich tendiere ich zu der Annahme, dass die Ukraine über den Winter versuchen wird, weiter in die Offensive zu gehen, soweit das möglich ist, während Russland sich eher defensiv verhalten wird. Im Frühjahr, wenn die ukrainische Armee durch ihre eigenen Angriffe während des Winters sowie durch die Folgen der russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur geschwächt ist, werden die Russen versuchen, in die Offensive zu gehen. Bis dahin werden auch die mobilisierten Kräfte in Massen an der Front angekommen sein.

Mit anderen Worten, Sie sehen die Russen mittelfristig im Vorteil.

Dass die Russen ihren Blitzkrieg im Februar nicht gewonnen haben, sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass sie zu schlagen sind. Langfristig liegt das Übergewicht bei Russland. Da kämpft ein Land von knapp 145 Millionen Menschen gegen einen weitaus kleineren Nachbarn. Gegen die höhere Kampfmoral der Ukrainer setzen die Russen ihre Skrupellosigkeit im Umgang mit den eigenen Rekruten. Beispielsweise werden Milizen aus den annektierten "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk als Kugelfänger vorgeschickt. Erst dann erfolgt der Angriff der regulären russischen Streitkräfte oder von Söldnergruppen wie Wagner. Am Ende wird der Ausgang des Kriegs stark davon abhängen, ob die russische Bevölkerung ruhig bleibt. Ich würde meine Hoffnung allerdings nicht darauf richten. Traditionell ist es so, dass die Russen Kriege und Krisen stoisch hinnehmen.

Können die westlichen Waffenlieferungen dieses Übergewicht der Russen nicht ausgleichen?

Sie könnten es, aber sie tun es nicht. Aus meiner Sicht kann die Ukraine diesen Konflikt nur fortführen, wenn der Westen sich dafür entscheidet, die Ukraine vorbehaltlos zu unterstützen, mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen. Die Alternative ist, dass wir uns eingestehen, dass wir nicht bereit sind, das zu tun. Dann sollten wir der Ukraine das aber bald mitteilen.

Bundeskanzler Scholz hat erst kürzlich wieder im Bundestag betont, Deutschland werde die Unterstützung der Ukraine fortsetzen, "und zwar genau so lange, wie sie benötigt wird".

Das sind vollmundige Erklärungen, die nicht zur Realität passen. 14 Panzerhaubitzen 2000 hat Deutschland zusammen mit den Niederlanden der Ukraine zur Verfügung gestellt. Also bitte, das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Was der Westen der Ukraine liefert, ist zu viel, um zu sterben, und zu wenig, um zu leben. Das gilt auch für die HIMARS-Systeme. Warum haben die Amerikaner nicht 50 oder 100 geliefert, sondern nur 20 und 18 über die nächsten zwei Jahre zugesagt? Das fragt sich auch die Ukraine. Für mich sieht es so aus, als wollten die Amerikaner eine Konfliktlösung oder zumindest ein Einfrieren erreichen - auch, um den Ukrainern die Möglichkeit zu geben, sich neu aufzustellen.

Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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