Imperialismus im 21. Jahrhundert "Man sollte ernst nehmen, was Putin über Peter den Großen sagt"
16.06.2022, 10:56 Uhr (aktualisiert)
Putin stellt sich schon seit Jahren in die Tradition der russischen Herrscher. Hier besucht er 2018 das Grab von Peter dem Großen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der russische Diktator sehe sich "auf einer historischen Mission, die Ukraine wieder russisch zu machen", sagt die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies im Interview mit ntv.de. "Daraus ergibt sich logisch, dass sie aus Putins Sicht auch nicht zur NATO gehören darf. Das hat weniger mit den oft unterstellten 'Sicherheitsinteressen' Russlands zu tun, aber sehr viel mit Putins neo-imperialen Ansprüchen."
Deutschland fehle eine gewisse Empathie für die historische Perspektive der ostmitteleuropäischen Länder, so Davies. "Das fällt auch bei den Diskussionen um die Waffenlieferungen auf: Hierzulande wird gefragt, ob es nicht besser sei, keine Waffen zu liefern, ob die Ukraine nicht lieber aufgeben sollte, weil jeder Frieden besser sei als Krieg. Auch das kann man mit der Geschichte erklären: In Deutschland gibt es keine Erinnerung, dass man gegen einen Feind, der einen vernichten will, kämpfen kann, vielleicht sogar kämpfen muss."
ntv.de: Putin hat eine Reihe von Gründen für den Überfall auf die Ukraine genannt - die NATO-Osterweiterung, die angebliche Unterdrückung von Russischsprachigen in der Ukraine, eine "Entnazifizierung", die notwendig sei. Glauben Sie, dass er einen dieser Gründe ernst gemeint hat?

Franziska Davies ist Osteuropa-Historikerin und arbeitet am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München.
(Foto: privat)
Franziska Davies: Seine Behauptung, dass es ihm um den Schutz der russischsprachigen Ukrainer geht, ist absurd. Sie sind es schließlich, die vor allem unter seinem Angriffskrieg leiden. Das Ziel der "Entnazifizierung" ist ebenfalls lächerlich. Putin hat mehrfach geäußert, unmittelbar vor dem Angriff, aber auch schon vor einem Jahr in einem Essay "Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern", dass die Existenz der Ukraine ein historischer Fehler der Bolschewiki gewesen sei. Aus seiner Sicht gehört die Ukraine zu Russland. Das ist der entscheidende Kriegsgrund, das erklärt auch das Vorgehen der russischen Armee: die gezielte Verfolgung der Eliten, die Russifizierung des Bildungssystems, die Zerstörung ukrainischer Kulturgüter. Putin sieht sich auf einer historischen Mission, die Ukraine wieder russisch zu machen. Daraus ergibt sich logisch, dass sie aus Putins Sicht auch nicht zur NATO gehören darf. Das hat weniger mit den oft unterstellten "Sicherheitsinteressen" Russlands zu tun, aber sehr viel mit Putins neo-imperialen Ansprüchen.
Welche Rolle spielt die Geschichte für Putin? Hält er sich wirklich für eine Art Wiedergänger von Peter dem Großen?
Putin betätigt sich schon seit ein paar Jahren als Historiker. Mit Blick auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs hat er absurderweise ausgerechnet Polen eine Mitschuld unterstellt. Wie wichtig seine eigenwillige Interpretation der Geschichte für seine Politik ist, wird häufig unterschätzt, denn aus westlicher Sicht ist es völlig anachronistisch, dass es in Europa noch Politiker gibt, die aufgrund einer Ideologie einen Krieg anfangen. Deswegen versuchen viele, Putins Krieg zu rationalisieren. Aber Putin sieht sich tatsächlich als Vollstrecker einer historischen Mission. Ich würde deshalb durchaus ernst nehmen, was er über Peter den Großen sagt: Er misst sich an der imperialen Größe Russlands des 18. und 19. Jahrhunderts. Seine viel zitierte Aussage, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen, hat nichts damit zu tun, dass er überzeugter Kommunist wäre. Das war er nie. Die Katastrophe liegt für ihn darin, dass Russland mit dem Ende der Sowjetunion seine imperiale Größe verloren hat.
Wie kann man klassifizieren, was Putin macht? Ist sein Regime imperialistisch, faschistisch oder beides? Oder ist der Begriff des Faschismus entwertet, weil Putin ihn so inflationär benutzt?
Es ist ein imperialistisches Regime. Ich würde es eine völkische nationalimperialistische Diktatur nennen. Putins Regime hat sicher auch faschistische Elemente. Aber das Problem mit dem Faschismus-Begriff ist, dass er relativ unspezifisch ist.
Welche Elemente seiner Diktatur sind faschistisch?
Zum Beispiel den Führerkult. Allerdings ist ein Unterschied zum klassischen Faschismus, dass es Putin immer noch darum geht, einen Teil der Bevölkerung in der Apathie zu halten. Es gibt diese Inszenierung von Massenunterstützung wie bei der Veranstaltung im Moskauer Luschniki-Stadion im März. Aber nach wie vor ist ein erheblicher Teil der russischen Gesellschaft politisch apathisch, und Putin will offenbar, dass das so bleibt. Ein faschistisches System duldet Apathie in einem solchen Ausmaß nicht. Und schließlich ist es tatsächlich so, dass "Faschismus" zu einem Kampfbegriff geworden ist. Das macht seine Verwendung als analytischen Begriff schwierig.
Olaf Scholz hat vor Kriegsbeginn gesagt, "wenn wir in den Geschichtsbüchern lange genug zurückgehen, dann haben wir Grund für Kriege, die ein paar hundert Jahre dauern können und unseren ganzen Kontinent zerstören". Warum versteht Putin das nicht?
Weil er die europäische Sicherheitsordnung auf Grundlage des Völkerrechts ablehnt. Putin strebt eine Ordnung an, die sich am 19. Jahrhundert oder am Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts orientiert - Epochen, in denen es Imperien gab, die einen umfassenden Machtanspruch hatten und durchsetzen konnten, zur Not mit Krieg.
Kann Putin sich auf Basis einer solchen Ideologie mit weniger als der ganzen Ukraine zufriedengeben?
Ich denke, sein Ziel ist nach wie vor, die Ukraine als Staat und Nation zu zerstören. Es ist gut möglich, dass Putin irgendwann militärisch gezwungen sein wird, zu pausieren. Dann würde er wahrscheinlich vorgeben, mit einer bestimmten Gebietserweiterung zufrieden zu sein. Aber da wird immer die Gefahr bestehen, dass er einen Waffenstillstand nur nutzt, um Kräfte zu sammeln und abermals anzugreifen. Im Grunde genommen ist dieser Krieg ja auch kein neuer Krieg, sondern die Ausweitung eines Krieges, der 2014 angefangen hat.
Putins ständige Behauptung, die Ukraine werde von Neonazis dominiert, ist auch in Deutschland vielfach übernommen worden. Was hat es damit auf sich?
Nichts. Im Bundestag sitzen weitaus mehr Rechtsradikale als im ukrainischen Parlament. Die rechtsradikale Partei Swoboda ist bei den ukrainischen Parlamentswahlen 2019 deutlich an der Fünfprozenthürde gescheitert und konnte nur ein Mandat direkt gewinnen. Richtig ist, dass an der Verteidigung der Ukraine 2014 auch rechtsextreme Freiwilligenverbände beteiligt waren, darunter das Regiment Asow. Weil die ukrainische Armee damals noch sehr schlecht aufgestellt war, spielten solche Verbände eine wichtige Rolle, und dadurch wurden deren Positionen in der politischen Öffentlichkeit ein Stück weit legitimiert. In gewisser Weise wiederholt sich das jetzt. Aus naheliegenden Gründen interessiert man sich in der Ukraine im Moment weniger dafür, was für eine Ideologie ein Regiment wie Asow ursprünglich hatte. Inzwischen ist das Regiment Teil der Nationalgarde und viele Rechtextreme haben es verlassen, es ist also eine heterogene Einheit. Und ironischerweise verteidigen auch rechtsextreme Soldaten jetzt Dinge, die sie ideologisch eigentlich ablehnen, etwa die pluralistische Demokratie und LGBTQI-Rechte.
Welche Rolle spielt Stepan Bandera in der Erinnerungskultur der Ukraine?
Stepan Bandera ist in der Ukraine eine sehr umstrittene Figur. Er war einer der wichtigsten Anführer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, die 1929 in Wien gegründet wurde und einen unabhängigen ukrainischen Staat erkämpfen wollte. Die Ideologie dieser Organisation war faschistisch, antisemitisch, antirussisch und antipolnisch. Milizen, die Bandera nahestanden, haben sich im Zweiten Weltkrieg an der Vernichtung der Juden in der Westukraine beteiligt. Die Ukrainische Aufständische Armee, der militärische Arm von Banderas Organisation, ist auch verantwortlich für die Ermordung von 70.000 Polen 1943 und 1944 in Wolhynien. Bandera selbst wurde von den Deutschen schon im Juli 1941 interniert, also kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion.

Logo des Regiments Asow an einer Wand in Kiew. "Aus naheliegenden Gründen interessiert man sich in der Ukraine im Moment weniger dafür, was für eine Ideologie ein Regiment wie Asow hat."
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Zu Beginn des Kriegs hatten sich die ukrainischen Nationalisten noch Hilfe von Deutschland beim Aufbau eines ukrainischen Staates versprochen - wobei dann schnell klar wurde, dass das nicht passieren würde. In der Folge kämpfte die Ukrainische Aufständische Armee sowohl gegen Deutschland als auch gegen die Sowjetunion. Gerade in der Westukraine gibt es bis heute eine Minderheit, die sich weiter in der Tradition dieses extremen Nationalismus sieht. Für die meisten Ukrainer ist Bandera aber einfach ein Symbol für den antisowjetischen Freiheitskampf. Die blenden die Verbrechen an Juden und Polen entweder aus oder wissen nichts davon. Man kann also nicht sagen, dass jeder, der Bandera für einen Helden hält, automatisch ein extremer Nationalist ist. Und, wie gesagt, Bandera ist auch in der Ukraine hoch umstritten. Für jüdische Ukrainer ist es natürlich ein Schlag ins Gesicht, wenn so jemand verehrt wird.
Das klingt, als sei diese Debatte in der Ukraine noch nicht vorbei.
Diese Debatte wird längst geführt, aber im Moment hat die Ukraine anderes zu tun, als sich über die Vergangenheit zu verständigen. In der Sowjetunion war Bandera ein Feindbild. Zugleich wurde die Erinnerung an den Holocaust unterdrückt. Erst seit den 1990er Jahren wird das spezifische Leid der Juden in der Ukraine anerkannt - etwa durch Denkmäler und Ausstellungen in Museen. Viele ukrainische Historiker haben sich darum verdient gemacht, den Holocaust in der Ukraine zu erforschen. Daher halte ich es auch nicht für zielführend, aus Deutschland im Gestus der moralischen Überlegenheit auf die Ukraine zu zeigen. Sinnvoller scheint mir eine Debatte mit der Ukraine.

Russische Soldaten haben in Butscha hunderte Zivilisten getötet.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Es heißt häufig, dass die Ukraine ihre Identität erst im Krieg entdeckt habe. Stimmt das, gab es vor dem 24. Februar keine echte ukrainische Identität?
Das ist definitiv falsch. Die ukrainische Nationalbewegung gewann, wie fast alle nationalen Bewegungen, im 19. Jahrhundert an Dynamik. Wie bei allen Nationalbewegungen war sie zunächst ein Elitenprojekt. Vom Russischen Reich wurde diese Bewegung bekämpft, im Habsburger Reich hatten die Ukrainer deutlich mehr Freiheiten. Nach einer kurzen Phase in den 1920er Jahren, in der die ukrainische Kultur in der Sowjetunion gefördert wurde, gab es mit dem Holodomor auch genozidale Absichten, der Ukraine als Nation das Rückgrat zu brechen. Viele Angehörige der ukrainischen Intelligenzija wurden als Nationalisten erschossen; das russische Feindbild des ukrainischen Nationalisten reicht also deutlich weiter zurück als in den Zweiten Weltkrieg. Und trotz der Marginalisierung alles Ukrainischen in der Sowjetunion hat sich das Bewusstsein für eine ukrainische Identität erhalten, was man ja auch in der Orangen Revolution 2004 und beim Euromaidan 2014 gesehen hat. Natürlich gab es auch nach 2014 Ukrainer, die sich Russland verbunden gefühlt haben. Das ist seit dem 24. Februar vorbei. Bei der überwältigenden Mehrheit gibt es keine Sympathien für Russland mehr, die hat Putin weggebombt. Sehr viele Ukrainer hören jetzt sogar auf, Russisch zu sprechen, ein Phänomen, das es schon 2014 gab und jetzt noch einmal verstärkt wurde.
Sie haben mit einer Kollegin ein Buch zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Osteuropa geschrieben. Gibt es Unterschiede zwischen der russischen und den anderen osteuropäischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg?
Da gibt es große Unterschiede. In Russland ist die Vorstellung per Gesetz verboten, dass Stalinismus und Nationalsozialismus einander verwandte Systeme waren, die beide Verbrechen begangen haben. In den ostmitteleuropäischen Ländern ist das Mainstream. In Polen, in den baltischen Staaten, aber auch in der Westukraine, die ja zu Beginn des Zweien Weltkriegs zu Polen gehörte, erinnert man sich an die doppelte Besatzung: an den Hitler-Stalin-Pakt und die darauffolgende Besetzung durch Deutschland oder die Sowjetunion. Zu dieser Erinnerung gehört auch, dass der Krieg nicht mit einer wirklichen Befreiung endete, sondern mit einer erneuten Besatzung unter anderen Vorzeichen. Die Ukraine ist insofern ein interessanter Fall, als es dort beide Erinnerungskulturen gibt: einerseits die ostmitteleuropäisch geprägte im Westen des Landes, aber auch die sowjetisch geprägte, zu der ein Stolz darauf gehört, zum Sieg über den Faschismus beigetragen zu haben. Präsident Selenskyj hat nach Beginn des Kriegs sehr deutlich gemacht, dass er sich das antifaschistische Erbe der Sowjetunion, das Russland allein für sich beansprucht, nicht nehmen lässt. Hinzu kommt, dass die Sowjetukraine zu Beginn der 1930er Jahre zum Opfer des Holodomor wurde. Die Verbrechen des Stalinismus sind inzwischen fest im kulturellen Gedächtnis der Ukraine verankert. Das ist in Russland anders.
Sehen Sie in Deutschland ein Verständnis für die doppelte Erinnerungskultur der mittelosteuropäischen Staaten?
Nein, in Deutschland fehlen das Wissen und auch eine gewisse Empathie für die Perspektive dieser Länder. Das fällt auch bei den Diskussionen um die Waffenlieferungen auf: Hierzulande wird gefragt, ob es nicht besser sei, keine Waffen zu liefern, ob die Ukraine nicht lieber aufgeben sollte, weil jeder Frieden besser sei als Krieg. Auch das kann man mit der Geschichte erklären: In Deutschland gibt es keine Erinnerung, dass man gegen einen Feind, der einen vernichten will, kämpfen kann, vielleicht sogar kämpfen muss. Anders als Osteuropa hat Deutschland nie eine jahrelange Besatzung durch ein verbrecherisches Regime erlebt. Gerade am Beispiel der Ukraine hat die historische Forschung gezeigt, dass die Vorstellung nicht stimmt, Besatzung sei besser als Krieg. Während der deutschen Besatzung der Ukraine war die Zahl der Todesopfer nach dem Ende der Kampfhandlungen weit höher als in der Zeit der militärischen Auseinandersetzung. Die Ukrainer wissen zudem sehr genau, was in den Gebieten passiert, die jetzt besetzt werden - nicht erst durch Butscha und andere Orte, an denen Kriegsverbrechen begangen wurden, sondern schon aus den sogenannten Volksrepubliken im Donbass, die eigentlich Terror-Pseudostaaten sind.
Mit Franziska Davies sprach Hubertus Volmer
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 14. Juni 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de