Scholz leidet an Ukraine-Debatte "Niemand diskutiert abwägend"


"Nirgendwo wird eine Debatte geführt wie bei uns", klagt Scholz.
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Bei einer Diskussionsveranstaltung der Bertelsmann-Stiftung spricht Bundeskanzler Scholz der Bundesrepublik die außenpolitische Reife einer Mittelmacht ab. Anstatt abwägend zu diskutieren, würden in Deutschland "Bekenntnisfahnen" hoch- und runtergezogen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Art und Weise der deutschen Debatte über die Hilfen für die von Russland angegriffene Ukraine kritisiert. "Grundsätzliche Bekenntnisfahnen werden hoch- und runtergezogen, aber niemand diskutiert abwägend, was soll man tun, was soll man nicht tun", sagte Scholz auf einer Podiumsdiskussion der Bertelsmann-Stiftung mit dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev. In anderen Gesellschaften seien abwägende Debatten "ganz normal". In Deutschland fänden sie nicht statt. "Also im Temperament erheblich weiter runter, und mehr darüber diskutieren, was ist richtig und was ist sinnvoll", forderte der SPD-Politiker.
Fragen von Außen- und Sicherheitspolitik würden in Deutschland "ziemlich unerwachsen diskutiert", klagte Scholz. "Das zieht sich schon ziemlich lange hin." Das sei so gewesen, als die Beteiligung Deutschlands am NATO-Einsatz im Kosovo verhandelt wurde oder nach dem Nein des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zu einer Beteiligung am Irakkrieg der Bush-Regierung. Es tobe eine "merkwürdige Debatte" in Deutschland, die so klinge wie in Ländern, "die fast gar nichts tun".
Deutschland müsse mehr für Verteidigung ausgeben
Das treffe aber nicht zu: "Wir haben für dieses Jahr über sieben Milliarden vorgesehen, wir haben insgesamt 28 Milliarden mobilisiert an geleisteter und zugesagter Hilfe", sagte Scholz. Frankreich bringe im laufenden Jahr nur 3 Milliarden Euro auf, Großbritannien 2,5 Milliarden Euro. "Aber nirgendwo wird eine Debatte geführt wie bei uns, und das hat was damit zu tun, dass wir eben eigentlich doch sehr auf abstrakten Ebenen diskutieren."
Deutschland sei eine Mittelmacht und habe zu Zeiten der Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt ohne größere Debatten vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Verteidigung gesteckt. Diese Wehrhaftigkeit sei eine der Grundlagen für die Entspannungspolitik der sozialdemokratischen Kanzler mit Russland gewesen. Nach Russlands Aufkündigung des Prinzips, Grenzen nicht durch Gewalt zu verschieben, müsse Deutschland "auch wieder mehr für Verteidigung ausgeben". Es sei nicht selbstverständlich, dass die Dinge für Deutschland immer gut liefen.
SPD unter Druck
Vor den anstehenden Haushaltsverhandlungen für das kommende Jahr reißt der große Mehrbedarf zur Ertüchtigung der Bundeswehr große Löcher in das ohnehin knappe Budget. Scholz' Einlassung zur Qualität der deutschen Ukraine-Debatte ist insofern überraschend, als Deutschland seit mehr als zwei Jahren intensiv über den richtigen Umgang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine diskutiert. Dass der Kanzler mehr oder weniger allen Beteiligten die Ernsthaftigkeit abspricht, mag auf eine gewisse Anspannung deuten.
In der vergangenen Woche hatte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich mit seinen Aussagen im Bundestag für viel Wirbel gesorgt: "Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?" Seither war nicht nur aus den Reihen der Union, sondern insbesondere auch vonseiten der Koalitionspartner SPD und Grüne scharfe Kritik an der Haltung der SPD zur Ukraine laut geworden. Zuvor schon hatten sich die Regierungspartner über die Frage einer Lieferung des Marschflugkörpers Taurus voneinander entfernt, da Scholz auf seinem Nein zur Bereitstellung des Waffensystems beharrt.
Quelle: ntv.de