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Reisners Blick auf die Front "Sehen im Verborgenen womöglich erste Einsätze westlicher Kampfjets"

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Der Ukraine gelingt mit dem Abschuss eines russischen Aufklärungsflugzeugs ein großer Erfolg. Laut Oberst Markus Reisner könnte das ein Indiz für die ersten Einsätze westlicher Kampfjets sein: "Wir wissen aus der Vergangenheit, dass immer wieder Waffensysteme bereits vor der eigentlichen Ankündigung eingesetzt worden sind", so der Militärexperte im Interview. Die Ukraine plane zudem einen Überraschungsangriff, der den Russen vor den Wahlen eine Niederlage einbringen soll. Dafür würde sich Reisner zufolge ein "spektakulärer Angriff auf die Krim-Brücke" anbieten.

ntv.de: Herr Reisner, vergangene Woche haben Sie gesagt, dass die russischen Streitkräfte an 17 Stellen der Front auf dem Vormarsch sind. Ist Ihnen an einer Stelle der Durchbruch gelungen?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv)

Markus Reisner: Es ist momentan die gleiche Situation wie im Sommer letzten Jahres auf ukrainischer Seite. Damals haben die Ukrainer entlang der Front Einbrüche erzielt, aber keine Durchbrüche. Das Gleiche sehen wir jetzt auf russischer Seite. Die Russen sind in der zweiten Winteroffensive und greifen von fünf erkennbaren Hauptstoßrichtungen an, insgesamt an 16 Stellen. Letzte Woche waren es noch 17. Sie erzielen lokal begrenzte Einbrüche, die zwischen 500 Metern bis zu mehreren Kilometern tief gehen. Die Situation westlich von Awdijiwka ist zurzeit kritisch für die ukrainischen Streitkräfte. Sie versuchen dort günstiges Gelände zu halten, haben aber das Problem, dass die Russen einen hohen Druck auf sie ausüben. Ähnlich ist die Situation auch westlich von Bachmut. Trotzdem haben die Russen noch keinen Durchbruch geschafft.

Hat sich der Munitionsmangel der Ukraine an der Front noch mal weiter verschärft?

Darauf hat Präsident Selenskyj am Wochenende in seiner Rede zum Jahrestag der russischen Invasion hingewiesen. Es fehlt einerseits an Munition für die Artillerie, aber auch für zum Beispiel westliche Kampfpanzer. Das ist prekär, weil die Ukrainer nicht in der Lage sind, gegen die russische Artillerie zu wirken, die sich dadurch massieren kann. Die russische Artillerie kann dadurch massiv das Feuer auf die ukrainischen Stellungen legen. Das führt zu einer steten Abnutzung auf ukrainischer Seite. Darum ist diese Munitionsfrage so entscheidend und die Situation so angespannt.

Wie gut sind die Stellungen der Ukrainer ausgebaut, in denen sie sich gegen die Angriffe der Russen verteidigen?

Die Ukraine hat in den letzten acht Jahren vor dem Einmarsch der Russen natürlich sehr stark versucht, gerade die erste Linie auszubauen. In diesen Stellungen hat man sich tief eingegraben, umfangreiche Minenfelder angelegt und teilweise sogar betonierte Bunker errichtet. Darum wird an dieser ersten Linie so intensiv gekämpft und gerade deswegen brauchen die Russen so lange, um ein- beziehungsweise durchzubrechen. Man nimmt an, dass es noch zwei weitere entsprechend umfangreiche ukrainische Stellungslinien dahinter gibt. Die sind natürlich nicht so gut ausgebaut wie die erste Stellungslinie. Die Ukraine versucht jetzt, die zweite Linie für den Fall eines russischen Durchbruchs so vorzubereiten, dass sie den Stoß der Russen wieder auffangen kann.

Trotz der schwierigen Lage sagte Selenskyj am Wochenende, dass es bereits Pläne für eine neue Gegenoffensive gebe. Ist das ohne neue westliche Waffenlieferungen überhaupt realistisch?

Der Krieg wird nach wie vor vorrangig auch im Informationsraum geführt. Die Ukraine muss am zweiten Jahrestag der russischen Invasion Zuversicht ausstrahlen. Das hat Präsident Selenskyj und sein Beraterstab am Wochenende gemacht, auch, damit die Moral der Truppen und der Bevölkerung entsprechend hoch bleibt und es keinen Abbruch in den Kriegsanstrengungen gibt. Gleichzeitig hat er deutlich gemacht, dass eine der Ursachen des langen Krieges vor allem darin liegt, dass die Unterstützung des Westens zu zögerlich und zu gering ist. Als Beispiel hat er das Scheitern der Sommeroffensive des letzten Jahres erwähnt. Er erklärte, dass von den eingesetzten Brigaden vier gar nicht die Ausstattung hatten, um an dieser Offensive teilzunehmen. Nur circa 30 Prozent der versprochenen Geräte seien vom Westen geliefert worden. Er hat auch erwähnt, dass aus seiner Sicht die Offensive von Beginn an verraten war. Das nimmt sicher Bezug auf die US-Discord-Leaks, also jene Dokumente, die an die Öffentlichkeit gelangt sind. Darin konnte man tatsächlich im Detail die Gliederung der ukrainischen Streitkräfte für die Offensive herleiten. Selenskyj nimmt an, dass die Russen das bereits vor der Offensive gewusst haben.

Nehmen wir einmal an, dass in den nächsten Wochen die versprochene Artilleriemunition sowie die F-16-Kampfflugzeuge eintreffen. Was würde der Ukraine noch an Waffensystemen fehlen, um sich den Russen dann auch wirklich effektiv entgegensetzen können?

Die eintreffende Artilleriemunition ist notwendig, damit die russischen Verbände abgewehrt beziehungsweise auf Distanz gehalten werden können. Die eintreffenden F-16-Kampfflugzeuge dienen vor allem dazu, die Tiefe des ukrainischen Luftraums zu sichern und um sie möglicherweise punktuell auch für eine Offensive einzusetzen. Was aber noch entscheidend wäre, ist die Lieferung von entsprechenden weitreichenden Luft-Boden oder Boden-Boden-Waffensystemen. Denn damit könnte man an entscheidender Stelle die Kommunikations- und Führungsstrukturen der Russen und wichtige Logistikzentren angreifen und tatsächlich einen Effekt auslösen, der an der ganzen russischen Front spürbar ist. Wenn die Munitionslager der Russen nie getroffen werden, dann gibt es einen steten Fluss an Munition zu den russischen Verbänden und damit bleibt der Druck auf die Ukrainer hoch. Darum braucht es diese Waffensysteme.

Also zum Beispiel Storm Shadow, Scalp oder Taurus?

Genau. Das sind die Waffensysteme, die entweder schon im Einsatz sind oder immer wieder gefordert werden. Mit den F-16-Kampfjets werden eine ganze Bandbreite von Luft-Luft, aber auch Luft-Boden-Waffensystemen geliefert. Es kommt also darauf an, diese Systeme gut in die Plattform F-16 zu integrieren, damit sie entsprechend einsetzbar sind. Das ist ja das große Problem zurzeit: Nicht die Quantität oder die Qualität der bereits vorhandenen Luft-Boden-Waffensysteme, sondern die Anzahl der Flugzeuge, um diese abfeuern zu können.

Den Ukrainern ist vergangene Woche der Abschuss eines wichtigen russischen Aufklärungsflugzeugs gelungen. Mit welcher Waffe wurde das abgeschossen?

Es gibt zum Jahrestag einige Erfolge der Ukraine, die bemerkenswert sind, wie der gemeldete Abschuss von einigen Kampfflugzeugen und eben von einem weiteren wichtigen Flugzeug vom Typ A 50. Die Ukrainer haben gesagt, dass sie dafür eine S-200 verwendet hätten. Das ist ein altes sowjetisches System, das man, so zumindest die ukrainischen Meldungen, upgegradet hat. Ich glaube aber, dass es eher ein potentes System war, wie zum Beispiel ein Patriot-System. Womöglich sehen wir auch bereits im Verborgenen die ersten Einsätze von westlichen Kampfflugzeugen. Das ist aber reine Spekulation und es gibt dafür keine sichtbaren Beweise.

Es könnte also sein, dass bereits die ersten F-16 in der Ukraine im Einsatz sind?

Das könnte durchaus sein. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass immer wieder Waffensysteme bereits vor der eigentlichen Ankündigung eingesetzt worden sind. Weil die Ukrainer deren Vorteil natürlich so lange wie möglich ausspielen möchten. Erst dann, wenn die Trümmer von verschiedenen westlichen Waffensystemen aufgetaucht sind, hat die Ukraine den Einsatz dieser Waffensysteme bestätigt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Aussage von Kyrylo Budanow, dem Leiter des ukrainischen Militärnachrichtendienstes. Er hat einige Überraschungen angekündigt. Ich glaube, dass damit wieder ein Angriff auf die Kertsch-Brücke oder ähnlich spektakuläres gemeint sein könnte. Das wird vermutlich jetzt im März passieren, weil ja die Wahlen in Russland vor der Türe stehen. Die Ukraine versuchen im Informationsraum den Russen hier eine Niederlage zu bereiten. Ein spektakulärer Angriff auf die Krim-Brücke bietet sich dafür an.

Selenskyj hat am Wochenende Angaben zu den eigenen Verlusten gemacht. Ihm zufolge sollen in den vergangenen zwei Jahren 31.000 ukrainische Soldaten gefallen sein. Ist diese Zahl glaubwürdig?

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Diese Zahl scheint auf jeden Fall zu niedrig zu sein. Auch die USA gehen von einer wesentlich höheren Zahl von circa 70.000 bis 90.000 Gefallenen aus. Das ist mehr als das Doppelte von dem, was Selenskyj gesagt hat. Rechnet man die Verwundeten dazu, ist der Gesamtverlust bei 200.000. Diese Zahl der Verluste insgesamt kann man im Prinzip dritteln: Ein Drittel getötet und zwei Drittel verwundet oder schwer versehrt. Dazu kommen noch 50.000 bis 100.000 zivile Opfer. Ein weiterer Indikator für eine höhere Anzahl von Verlusten ist auch die geplante Mobilmachung von rund 500.000 Ukrainern, die der ehemalige Armeechef Walerij Saluschnyj damals noch vorgeschlagen hat. Die Zahlen aus den USA von Generalstabschef Mark Milley waren auch in der Vergangenheit immer sehr exakt. Auf russischer Seite sind ihm zufolge etwa 300.000 Soldaten gefallen oder verwundet worden.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de

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