"Ja, es ist schwerer als sonst" Elf Gedanken nach zwei Jahren Krieg


Ukrainische Fähnchen auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, in Kiew. Sie erinnern an Kriegsgefangene und Gefallene.
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Der zweite Jahrestag des großen Angriffs der Russen auf die Ukraine fällt in die schwerste Kriegsphase seit dem April 2022. Die Stimmung in der Ukraine ist gedrückt, aber wie heißt es in der ukrainischen Nationalhymne? Noch sind Ruhm und Willen der Ukraine nicht tot, Beharrlichkeit und harte Arbeit werden sich bewähren. Elf Gedanken zum zweiten Jahrestag, auch wenn Russland seinen Krieg gegen die Ukraine eigentlich bereits seit zehn Jahren führt.
Erstens: Ja, es ist gerade schwerer als sonst. Aber bis auf sehr kleine, kurze Ausnahmen war die Stimmung in den vergangenen zwei Jahren ohnehin nie richtig gut. Allerdings lag im Februar 2023 trotz der immer noch katastrophalen Energiesituation selbstverständlich mehr Hoffnung in der Luft.
Zweitens: Diese Hoffnung wurde in der häufig schwarz-weißen Medienwelt des Westens meist falsch interpretiert. Wir schwanken nicht zwischen überströmenden Optimismus und dem Drang, uns selbst zu begraben. In diesem Land dienen rund eine Million Menschen in irgendeiner Form bei den ukrainischen Verteidigungskräften. Jeder kennt jemanden, der kämpft. Seit zwei Jahren weiß jeder, dass die Ukraine sich gegen eine starke Armee verteidigen muss und dass ein rasches Ende des Kriegs nahezu ausgeschlossen ist.
Die Hoffnung war, ein Ende abschätzen zu können
Drittens: Worauf ich persönlich und viele Menschen um mich herum trotzdem gehofft haben, war etwas anderes. Wir hätten und gewünscht, bis jetzt zumindest ansatzweise einschätzen zu können, wann der Krieg zu Ende geht. Leider ist eher das Gegenteil der Fall. In diesem Winter musste man sich mit dem Gedanken abfinden, dass dieser Krieg vermutlich noch mindestens genauso lange dauern wird wie bisher. Die letzten Monate waren durch diese Akzeptanzphase geprägt. Man musste es akzeptieren. Man hat es akzeptiert.
Viertens: Nun geht es darum, sich für einen langen Krieg neu aufzustellen. Das Verständnis dieser Notwendigkeit gehört zu den schmerzhaftesten Aspekten der vergangenen Wintermonate. Sowohl die ukrainische Regierung als auch die Gesellschaft hofften insgeheim, mit den Strukturen aus der Zeit vor dem Krieg irgendwie durchzukommen, auch wenn sie nicht immer effektiv waren. Denn Reformen mitten im Krieg gegen das größte Land der Welt sind schwierig. Doch auch hier muss man einfach durch. Ein Beispiel ist die Debatte um das neue Mobilisierungsgesetz, das sich im Parlament gerade zwischen den Lesungen befindet. Häufig wird es vor allem als Gesetz zur Verschärfung der Mobilisierung dargestellt, aber so stimmt das nicht. Primär geht es schlicht um ein effektiveres, digitalisiertes System, das auch längerfristig funktioniert. Zur Wahrheit gehört nämlich, dass die alten, sowjetisch geprägten, korruptions- und papierlastigen Einberufungsämter die Mobilisierungspläne von 2022 nicht erfüllt haben, geschweige denn die von 2023. Dies hatte nicht damit zu tun, dass es keine Männer und auch keine Freiwilligen mehr gegeben hätte. Sie sind und bleiben einfach ineffektiv.
Die neue Armeespitze braucht Einspielzeit
Fünftens: Die Auswechslung der gesamten Führung des Verteidigungsministeriums im September und nun auch der vollständige Wechsel der Armeespitze gehen ebenfalls in Richtung einer Langzeitoptimierung. In einer Zeit, in der wirklich jede Hrywnja (so heißt die ukrainische Währung) zählt, müssen die Einkäufe für die Armee transparenter und effizienter werden. Das wurde im Verteidigungsministerium zumindest zum Teil erreicht. Ob es sinnvoll war, den beliebten Armee-Befehlshaber Waleryj Saluschnyj durch Generaloberst Olexandr Syrskyj zu ersetzen, wird man sehen. Die Idee ist über seine Personalie hinaus, dass die jetzt - neben einer Reihe von Syrskyj-Vertrauten - eingesetzten, vergleichsweise jungen ehemaligen Brigadekommandeure mit Kampferfahrung den Bedarf der Truppe besser verstehen. Und dass sie unter den Bedingungen ständiger Knappheit besser dafür sorgen können, dass die verfügbaren Ressourcen dort ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Auch hier muss man abwarten, ob die Entscheidungen sich als sinnvoll erweisen. Aber tatsächlich ist hier früher manches suboptimal gelaufen. Ähnlich wie beim Verteidigungsministerium braucht es an der Armeespitze wohl aber auch ein bisschen Einspielungszeit.
Sechstens: Klar ist, dass es aktuell kein wichtigeres Problem als den Munitionsmangel gibt. Ebenfalls ist klar, dass die Ukraine ganz ohne westliche Hilfe sehr schlecht dastehen würde. Doch obwohl ich hier riskiere, wie eine hängen gebliebene Schallplatte (die Älteren erinnern sich) zu klingen: Abgesehen davon bleiben wirtschaftliche Aspekte die mit Abstand größte Schwierigkeit. Männer werden der Ukraine in absehbarer Zeit nicht ausgehen. Die Senkung des Mobilmachungsalters von 27 auf 25 Jahre ist immer noch nicht formell verabschiedet, was zynisch gesagt ein Luxus ist. Präsident Selenskyj hat mal gesagt, dass umgerechnet mehr als 12 Milliarden Euro nötig sind, um 450.000 Menschen mobilzumachen. Einerseits liegt diese Zahl beim genaueren Hinschauen bei mindestens mehr als 17 Milliarden Euro, so berichtet es zumindest die Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Parlament von der Selenskyj-Fraktion. Andererseits ist weiterhin unklar, woher dieses Geld kommen soll. Eigentlich kann es nur aus Steuereinnahmen finanziert werden, weil die finanzielle Hilfe aus dem Ausland nur für zivile Zwecke benutzt werden darf und dies sich auch nicht verändern wird. Aber wo zaubert man die Milliarden her, wenn die Mobilmachung die Steuerzahler wegnimmt? Gleiches gilt für die Finanzierung der eigenen Rüstungsbranche, die gerade so wichtig ist, um die teilweise wegfallende westliche Hilfe zu kompensieren.
Die Intensität der politischen Debatte ist fast auf Vorkriegsniveau
Siebtens: Aus diesem nicht lösbaren Dilemma sind Ideen entstanden, die ich nicht für umsetzbar halte. Etwa die, dass man sich ab einer gewissen Steuerleistung vom von der Mobilmachung freistellen lassen könne. Rein wirtschaftlich-pragmatisch ergibt das Sinn. Aber wie soll man das der Gesellschaft erklären? Wie soll die Mutter eines gefallenen Soldaten so etwas akzeptieren? Schon die Forderung nach einer Demobilisierung von denen, die seit dem ersten Tag dieses Kriegs dienen, sorgt für gesellschaftlichen Sprengstoff. Trotzdem ist die Regierung gefordert, hier nach Lösungen zu suchen, auch wenn ich selbst keine Vorstellung habe, wie diese aussehen könnten.
Achtens: Die Intensität der politischen Diskussionen hat in zwei Jahren fast das Vorkriegsniveau erreicht, was für die lebhafte ukrainische Politikkultur eher gut ist. Gesunder Menschenverstand herrscht glücklicherweise trotzdem: Man kann sich gerne auch mal streiten, doch vor allem sollten die Zeichen auf das gemeinsame Durchhalten sowie vor allem auf den Erhalt der ukrainischen Nation und des ukrainischen Staates stehen. Die Reaktionen auf die Entlassung Saluschnyjs beispielsweise waren vor allem nüchtern. Klar gab es viele negative Kommentare im Netz. Insgesamt wurde sie aber eher ruhig aufgenommen. Proteste dagegen gab es kaum, auch wenn Russland dieses Thema natürlich zu pushen versuchte. Es gibt noch keine belastbaren Umfrageergebnisse dazu, doch das Vertrauen in Selenskyj wird deswegen zwangsläufig sinken, aber nicht katastrophal. Auch dem großen Teil der Opposition ist klar, dass Selenskyj bis zum Kriegsende Präsident bleiben sollte, dass Wahlen im Krieg inakzeptabel sind. Was danach passiert, steht auf einem anderen Blatt. Dass zum ersten Mal seit Februar 2022 mehr Menschen denken, dass sich die Ukraine grundsätzlich in eine negativere Richtung entwickelt als in eine positive (eine Standardfrage in Umfragen hierzulande), ist trotzdem besorgniserregend, auch wenn das all die Jahre und Jahrzehnte vor der Vollinvasion der absolute Normalzustand war.
Neuntens: Sehr besorgniserregend fand ich zwei Vorfälle in den letzten Monaten, bei denen ein Investigativjournalist bedroht und eine andere Investigativredaktion von einer ganzen Abteilung des Inlandsgeheimdienstes SBU abgehört wurde. Der SBU macht im Krieg gegen Russland eigentlich eine sehr gute Arbeit; offenbar hatte die betreffende Abteilung gerade nichts Wichtigeres zu tun. Zum Glück reagierte die SBU-Führung mit zahlreichen Rauswürfen, vermutlich wird die gesamte Abteilung aufgelöst. Auch Präsident Selenskyj fand deutliche Worte. Trotzdem ist der Vorfall alles andere als schön. Es war gut, dass sich die Botschafter der G7-Staaten, darunter der deutsche Botschafter Martin Jäger, schnell mit betroffenen Journalisten trafen, das war ein wichtiges und klares Zeichen.
Die Ukrainer sind Deutschland dankbar
Zehntens. An dieser Stelle kurz zur Wahrnehmung Deutschlands in der Ukraine: Nach zwei turbulenten Jahren ist dieser Aspekt der Zeitenwende wohl abgeschlossen. Den Menschen hier ist in dieser unsicheren Zeit bewusst, wie wichtig, wie essenziell die Hilfe aus Deutschland ist. Natürlich ginge es immer noch besser und auch mehr wäre vielleicht möglich, aber die Ukrainer sind wirklich extrem dankbar - mich eingeschlossen.
Elftens. Abschließend muss man Folgendes sagen: Ja, auch hierzulande könnte es mit der Zeit mehr Menschen geben, die sich Illusionen über einen "Kompromiss" mit Russland machen. Das ist natürlich. Aber ich sehe keine Anzeichen, dass sich dies jemals zu einer Mehrheitsmeinung wandelt. Es ist eindeutig, dass Russland seine gigantischen Kriegsausgaben nicht für eine "Friedenslösung" eingeplant hat. Es gibt keinen Frieden, nur weil die Ukraine sagt: Wir wollen Frieden. Solche Illusionen dürfen die Musks und die Wagenknechts dieser Welt gerne verkaufen. Wahr werden sie dadurch nicht. Ich weiß nicht, wie dieser Krieg zu Ende geht. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass die Ukraine in der Lage ist, Putin letztlich eindeutig zu zeigen: Hier geht es nicht weiter. Dafür braucht sie jede Unterstützung und jede Hilfe, die sie nur bekommen kann. Doch das ist absolut realistisch, auch wenn es sehr lange dauern könnte, zumal Putin sowohl wirtschaftliche Konsequenzen für Russland und vor allem russische Menschenleben völlig egal sind. Niemand ist müder und erschöpfter als wir. Putin ahnt aber nicht mal ansatzweise, mit wem er sich hier angelegt hat.
Quelle: ntv.de