Scheitert Ampel mit Impfpflicht? "Situation hat sich durch den Krieg verändert"
16.03.2022, 17:10 Uhr
Bis zu ihrer Wahl im September arbeitete Piechotta an der Uniklinik Leipzig.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Am Donnerstag werden erstmals die beiden Gesetzentwürfe zu einer allgemeinen Impfpflicht gelesen sowie die Anträge Kubickis gegen eine Impfpflicht und der der Union, für ein Impfvorratsgesetz. Was am Ende herauskommt, ist völlig offen. Die Ärztin und Grünen-Abgeordnete Paula Piechotta unterstützt - anders als etwa Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach - eine Impfpflicht erst ab 50 Jahren sowie eine Beratungspflicht für jüngere Ungeimpfte. Im Interview mit ntv.de erklärt Piechotta, warum die Impfpflicht weiter gebraucht werde und wieso die Union dringend ihre Haltung zu den Impfpflicht-Vorschlägen der Ampel ändern müsse.
ntv.de: Anfang der kommenden Woche fallen die meisten Corona-Schutzmaßnahmen. Zugleich steigen die Ansteckungszahlen wieder rasant. Es sterben weiterhin jeden Tag in dreistelliger Zahl Menschen an den Folgen dieser Erkrankung. Wo steht Deutschland Ihrer Einschätzung nach im Ringen mit der Pandemie?
Paula Piechotta: Wir wissen, dass im Sommer die Corona- Zahlen mit großer Wahrscheinlichkeit sinken und die dringend notwendige Entspannung für das Gesundheitswesen eintritt. Zugleich erleben wir aber eine große Fluchtbewegung aus der Ukraine, in der die Impfquote extrem niedrig ist. Unser Gesundheitssystem hat über die letzten zwei Jahre kontinuierlich Mitarbeiter verloren, muss nun aber gegebenenfalls bald bis zu zwei Millionen Menschen zusätzlich versorgen. Viele dieser Menschen haben ja auch unabhängig von Corona einen gesundheitlichen Therapiebedarf. Wir müssen es schaffen, dass wir in dieser Situation - ein Krieg in Europa und eine drohende Wirtschaftskrise - mit einer erneuten Überlastung des Gesundheitssystems durch Corona im Herbst nicht auch noch vermeidbare Krisen riskieren.
Sie werben deshalb für eine Impfpflicht, zu der am Donnerstag zwei Gesetzvorschläge im Bundestag behandelt werden. Einer der Entwürfe, den Sie unter anderem mit dem FDP-Abgeordneten Professor Ullmann erarbeitet haben, sieht eine Beratungspflicht für alle Ungeimpften und eine Impfpflicht für alle Bürgerinnen und Bürger ab 50 Jahren vor. Wie schnell kann man die Wirkung erzielen, um eine Überlastung zu verhindern?
Wir wissen aus Befragungen, dass die Motive, warum sich Menschen nicht impfen lassen, auch jetzt noch sehr unterschiedlich sind. Es gibt die beinharten Verweigerer, aber es gibt zum Beispiel auch jüngere Frauen im gebärfähigen Alter, die wegen falscher Informationen große Angst haben vor einer Impfung. Diese Ängste können wir zu großen Teilen in Gesprächen unter vier Augen in einem vertraulichen Kontext ausräumen. Da die Beratungspflicht nach dem Beschluss unseres Entwurfs sofort greift, hätten wir so mehrere Monate Zeit über den Sommer, um genau diese Menschen zu erreichen und die allgemeine Impfquote zu steigern.
Wie kommt die Beratung konkret zustande? Wer zurzeit versucht, einen Hausarzttermin zu bekommen, weiß, dass die eigentlich auch jenseits ihrer Kapazitäten arbeiten.
Unser Antrag wurde von vielen Ärztinnen und Ärzten mit erarbeitet und es war eines unserer Hauptanliegen, dass die Hausarztpraxen nicht überlastet werden. Aber wir haben ja weiterhin die Impfzentren, die gerade wirklich nicht ausgelastet sind - leider. Die Mitarbeitenden dort haben die größte Expertise bei der Beratung zu den Impfstoffen. Man kann niemandem vorschreiben, wo er sich beraten lässt, und natürlich wird es auch Menschen geben, die das beim Hausarzt machen, weil sie eine Vertrauensbeziehung zu ihrem Hausarzt haben. Aber wir haben auch viele Menschen in Deutschland, die gar keinen Hausarzt haben. Für die sind Impfzentren eine niedrigschwellige, gut erreichbare Anlaufstelle.
Wie kommen die Ungeimpften nach Ihrem Modell zur Beratung?
Die Krankenkasse fordert ihre Versicherten auf, einen Impf- oder Genesenennachweis zu erbringen. Das kann man dann in der Corona-App freiklicken oder von der Apotheke an die Krankenkasse übermitteln lassen. Wer das nicht kann, muss einen Beratungstermin vereinbaren und dessen Wahrnehmung nachweisen.
Welche Rückmeldungen haben Sie da aus den Regionen - insbesondere aus Ihrem Bundesland Sachsen erhalten -, wo die Skepsis besonders groß ist und möglicherweise auch für die Beratenden so ein Beratungstermin zur Zumutung werden kann, wenn Impfskeptiker ihren Frust mitbringen?
In Sachsen ist ohnehin schon massives Sicherheitspersonal für diese Strukturen im Einsatz, weil dieser Frust dort schon in den vergangenen Monaten abgeladen wurde. Auch deswegen sind die Impfzentren mit ihren Schutzstrukturen geeignet. Ich gehe aber nicht davon aus, dass die 5 Prozent überzeugte Impfverweigerer diese Beratungstermine gleich am ersten Tag wahrnehmen werden. Wenn sie nicht auf die Aufforderung ihrer Krankenkasse reagieren, bekommen sie halt irgendwann eine Erinnerung.
Was wären nach Ihrem Vorschlag die schlimmstmöglichen Konsequenzen, die einem hartnäckigen Verweigerer drohen?
Eine breite Mehrheit im Bundestag ist dagegen, dass Impfverweigerer in Haft genommen werden oder ähnliches. Wenn es Strafen geben wird, dann Geldbußen. Wir gehen diese Woche in das parlamentarische Verfahren auf der Suche nach einem Kompromiss, den die Mehrheit des Bundestages mittragen kann. Detailregelungen wie die Höhe von Bußgeldern werden Teil dieser Kompromissfindung sein.
Droht damit nicht eine substanzielle Mehrbelastung für die Gesundheitsämter und in letzter Instanz dann auch für die Amtsgerichte, die eine Impfpflicht durchsetzen müssen?
Deswegen habe ich bei der Debatte zur Impfpflicht im Bundestag gesagt, dass wir sehr genau darauf aufpassen müssen und es für die Umsetzbarkeit einen massiven Unterschied macht, ob ich in einem Landkreis noch 50 Prozent Ungeimpfte habe oder nur 5 Prozent. In Landkreisen, die besonders stark betroffen sein werden, müssen wir dem lokalen Gesundheitsamt und dem lokalen Amtsgericht über die Strukturen der Amtshilfe unter die Arme greifen.
Die Grundannahme beider Impfpflicht-Vorschläge ist, dass sich über kurz oder lang eine neue Corona-Variante durchsetzen könnte. Eine Variante, die aggressiver ist als die beiden Omikron-Varianten, die derzeit mehr oder weniger kontrolliert die Bevölkerung durchseuchen. Dieses Szenario ist aber nicht zwingend, richtig?
Deshalb sieht unser Gesetzentwurf vor, dass am Ende des Sommers auf der Basis einer Bewertung des Robert-Koch-Instituts geschaut werden soll: Welche Varianten werden voraussichtlich relevant? Wie wirksam sind die vorhandenen Medikamente gegen die relevanten Varianten, insbesondere Paxlovid? Wie hoch ist die Impfquote und wie wirksam sind die Impfungen gegen die relevanten Varianten? In dieser Zusammenschau soll bewertet werden, ob eine Überlastung des Gesundheitswesens noch einmal aktuell wird und eine Impfpflicht ab 50 scharf gestellt werden soll. Wir sind zweimal schlecht vorbereitet in den Corona-Herbst gegangen. Das sollte das Mindeste sein, was die deutschen Parlamente nach zwei Jahren Corona gelernt haben: Dass man nicht erst anfangen kann, Vorsorge zu betreiben, wenn die Krise schon da ist.
Zielt die von Ihnen genannte Kompromissfindung auf einen dritten Weg, hinter dem sich die Befürworter einer Impfpflicht ab 18 Jahren und die Unterstützer Ihres Vorschlags versammeln können?
Das kann man anstreben, aber auch das hätte eventuell noch keine Mehrheit. Ob es einem gefällt oder nicht, wir sollten mit der Union reden und die Union sollte Teil der Beschlussfindung sein. Das ist nicht nur eine Frage der Mehrheitsverhältnisse. Eine Impfpflicht braucht auch eine möglichst hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht hatten fast alle im Bundestag und der ganze Bundesrat mitgetragen. Als es aber an die Umsetzung ging, hatten wir trotzdem alle Hände voll zu tun, die gesellschaftliche Akzeptanz hochzuhalten. Ähnlich wird es bei der allgemeinen Impfpflicht sein: Wenn die im Herbst tatsächlich greifen sollte, egal für welche Altersgruppe, brauchen wir dafür zwingend eine möglichst breite Mehrheit im Bundestag und Bundesrat.
Welche Signale erhalten Sie hierzu aus den Reihen der Union? Die hat mit ihrer Idee eines Impfvorratsgesetzes ein eigenes Konzept vorgelegt.
Der Unionsvorschlag ist wie das Kubicki-Papier nur ein Antrag. Das ist für mich ein Hinweis darauf, dass die Union keinen kompletten Gegenvorschlag vorlegen wollte. Wir wissen, dass viele Unionsabgeordnete einer altersbezogenen Impfpflicht zugeneigt sind, auch die Unionsministerpräsidenten haben sich positiv zur Impfpflicht geäußert. Aber die Union hatte mitbekommen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz eine Impfpflicht ab 18 Jahren mit seiner Person verbunden hat, obwohl es in der Ampelkoalition keine Mehrheit dafür gab. Da hat sie die Möglichkeit gesehen, die Bundesregierung ein Stück weit zu diskreditieren und zu schwächen, indem sie die Entwürfe aus den Regierungsfraktionen nicht unterstützt. Aber die Situation hat sich durch den Krieg in der Ukraine verändert. Die Union sollte jetzt Verantwortung übernehmen, damit wir nicht zusätzlich zur jetzigen Krise der Gesellschaft im Herbst noch mehr zumuten müssen.
Die aus der Ukraine geflüchteten Menschen sind, wie Sie selbst sagen, oft ungeimpft. Wäre das nicht doch ein Argument für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren?
Da werden sehr viele Menschen dabei sein, die schon einen Immunschutz aufgebaut haben, aber eben auf dem Weg der Infektion. Viele Menschen aus der Ukraine werden sich nach der Ankunft freiwillig impfen lassen, das wird jetzt organisiert. Das Thema ist eher, dass unser Gesundheitssystem schon vor dem Krieg unter extremer Belastung stand, auch wegen der vielen anderweitig erkrankten Kinder in diesem Winter. Jetzt kommen vor allem Kinder, Frauen und Ältere aus der Ukraine zu uns. Wenn wir die im Herbst zusätzlich versorgen wollen, auch die Ukrainer mit Kriegstraumata, und weiterhin die Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten zuverlässig behandelt werden sollen, dann sollten wir alles dafür tun, vermeidbare Ursachen für eine Überlastung des Gesundheitswesens wie einer hohen Zahl an Corona-Erkrankungen vorzubeugen.
Das Gespräch mit Paula Piechotta führte Sebastian Huld
Quelle: ntv.de