Gressel bewertet Gegenoffensive "Die russische Front in Cherson kollabiert nicht"
07.09.2022, 11:14 Uhr (aktualisiert)Vor einer guten Woche hat die Ukraine zunächst im Süden des Landes, später auch im Osten, eine Offensive gegen die russischen Truppen begonnen. Lange wird über deren Fortgang und mögliche Erfolg geschwiegen, in sozialen Medien wird teils wild spekuliert, welche Ortschaften nun zurückerobert wurden, welche umkämpft sind. Gewissheit gibt es dagegen nicht. Zuletzt melden jedoch sowohl ukrainische als auch russische Quellen in Cherson zwei und im Donbass eine Ortschaft, die nach harten Kämpfen wieder in der Hand ukrainischer Truppen sein sollen. Es bleibt aber viel Skepsis, wie groß und ausdauernd diese Erfolge sein werden. Im Interview mit Tamara Bilic teilt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations diese Skepsis.
Er konstatiert zwar, dass vor allem der Erfolg im Donbass, wo es ukrainischen Truppen gar gelang, den Fluss Siversky Donets zu überschreiten und eine dahinter gelegene Ortschaft unter ihre Kontrolle zu bringen, unerwartet komme, gibt aber direkt zu bedenken: "Die Russen verlegen auch neue Kräfte in den Donbass. Wir müssen schauen, wie lange und wie weit es jetzt geht."
Aktuell gibt es laut Gressel unstrittig kleine Erfolge, den ukrainischen Truppen fehle es aber an der erforderlichen Kräfteüberlegenheit, die für einen tiefen Durchbruch notwendig wäre. Gressel begründet die aktuelle Lage so, dass die Ukraine Schwächen der russischen Truppen ganz gezielt identifiziert und ausgenutzt habe. Fakt sei, dass "die Russen in Cherson logistische Schwierigkeiten haben", so der Militärexperte. Die Versorgung geschehe derzeit per Boot über den Dnjepr. Das dauere lange, weil Munition oder Kriegsgerät immer wieder umgeladen werden müssen. So gäbe es bei den russischen Truppen eine Verknappung vor allem an Munition und Treibstoff. Die daraus entstehenden Schwachstellen müssen von der Ukraine jedoch immer wieder identifiziert werden, mal erfolgreich, mal ohne Erfolg. Dennoch: "Es ist jetzt kein großes Aufwaschen, wo die russische Front jetzt in einer Linie kollabiert, sondern es ist ein stückweises Erodieren der russischen Verteidigung in Cherson."
"Ukrainische Soldaten fangen nicht bei Null an"
Auf die Frage, ob es aktuell sinnvoll ist, der Ukraine, wie von ihr oft gefordert, moderne Waffen zu schicken, antwortet Gressel: "Ja, natürlich". Vor allem die Lieferung von "Leopard II"-Kampfpanzern hätte bereits im Frühjahr erfolgen sollen. Der große Vorteil dieser Kampfpanzer gegenüber den noch in der Sowjetunion entwickelten Kampfpanzern, wie etwa T-64 oder T-72, ist laut Gressel die deutlich höhere Überlebenschance der Soldaten im Panzer bei einem Volltreffer.
Zu den russischen Modellen sagt Gressel, dass sie bei einem Treffer meist "mit der gesamten Besatzung ausbrennen". Eine überlebende Besatzung sei jedoch ein wichtiger "Fähigkeitserhalt", so Gressel. Denn, die Ausbildung einer fähigen Besatzung sei schwieriger, als "sich einen neuen Kampfpanzer zu besorgen". Da die aktuell eingesetzten Panzer aber so oft ausbrennen, seien erfahrene Panzerbesatzungen auf der russischen wie auf der ukrainischen Seite derzeit knapp.
Einer in der öffentlichen Diskussion oft geäußerten Besorgnis tritt Gressel klar entgegen. So dauere die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf westlichen Panzern nicht so lange wie oft behauptet würde. "Die Besatzungen fangen ja nicht bei Null an", so Gressel. Es handele sich um Panzerbesatzungen auf T-64 oder T-72-Kampfpanzern, die umlernen müssten, aber die müssten "den mechanisierten Krieg nicht nochmal erfinden". Diese Besatzungen wüssten laut Gressel, wie ein Angriffs- oder ein Verzögerungsgefecht aussieht und was dabei ihre Rolle ist. Sie müssen nur auf dem spezifischen System angelernt werden und die "Marotten", also die Stärken und Schwächen der Systeme erlernen, so der Experte.
Russische Truppen nicht generell schlecht versorgt
Auch einen immer wieder - sowohl von der Ukraine als auch von westlichen Geheimdiensten- geäußerten Verdacht, ordnet Gressel ein wenig anders ein. So heißt es, dass russische Truppen aufgrund schlechter Versorgung den Dienst verweigern würden. Gressel bestätigt zwar vereinzelte Berichte, doch es sei unklar, ob es sich um einzelne lokale Besonderheiten oder ein flächendeckendes Problem handelt. Gerade der Trinkwassermangel käme im Süden aktuell zum Tragen. In der Region Cherson ist es derzeit recht heiß. Die Lage vieler Einheiten, die in dieser Region stehen, "ist schlecht", so Gressel.
Dennoch nimmt er an, dass dies derzeit eher ein isoliertes Phänomen ist. Der Ukraine spielen solche Berichte natürlich in die Karten, und sie sei daran interessiert, dieses Bild nach außen zu tragen, "um zu zeigen, wie schlecht der Gegner ist". Aber einen generellen Trend zur Dienstverweigerung für die russischen Soldaten will Gressel hier nicht erkennen.
Im Herbst könnte dies jedoch ein größeres Problem für die russischen Truppen werden, sagt Gressel. Dann liefen viele Dienstverträge aus. Die sogenannte Herbstrotation startet im September und zieht sich wohl bis in den November hin. Viele russische Soldaten hätten dann eigentlich das Recht, nach Hause zurückzukehren. Laut Gressel gab es in der Vergangenheit immer wieder Unruhen in vergleichbaren Situationen, weil die russische Armee dann versucht haben soll, "Druck auszuüben, dass sie doch im Krieg bleiben". Da Russland kein Rechtsstaat sei, habe es immer wieder Versuche gegeben, die Soldaten "durch Tricks oder durch Zwang" bei der Stange zu halten.
(Dieser Artikel wurde am Montag, 05. September 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de, als