Entscheidend ist die Absicht Warum Putins Überfall kein Vernichtungskrieg ist
04.03.2022, 19:47 Uhr
Ein Wohnhaus in Kiew steht nach Granatenbeschuss in Flammen.
(Foto: IMAGO/CTK Photo)
Wie ist Putins Überfall auf die Ukraine zu bewerten? Ist er völkerrechtswidrig? Er selbst ein Kriegsverbrecher? Führt er gar einen Vernichtungskrieg? Der Politologe Sven Bernhard Gareis erklärt im Gespräch mit ntv.de, warum zumindest Letzteres derzeit nicht stimmt.
ntv.de: In der öffentlichen Debatte, besonders in Talkshows, fällt seit Tagen immer wieder der Begriff Vernichtungskrieg, wenn Putins Angriff auf die Ukraine bewertet wird. Ist das eine harte, aber korrekte Analyse?
Sven Gareis: Es ist völlig verständlich, dass in der Aufwühlung und Fassungslosigkeit angesichts dieses verheerenden Krieges mitten in Europa drastische Begriffe zu dessen Bezeichnung verwendet werden. Aber gerade in hochgefährlichen Situationen wie dieser würde ich dazu raten, nicht auch noch rhetorisch zu stark aufzurüsten. Für das, was Russland bislang tut, gibt es klare rechtliche Begriffe: Sie führen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Das ist ein Verbrechen, unbestritten. Wir sehen auch offenkundige Kriegsverbrechen, es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Streubomben gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden.
Ist das ein Kriegsverbrechen? Die Konvention zur Ächtung von Streubomben haben weder Russland noch die Ukraine unterschrieben.
Entscheidend ist, wie diese Bomben eingesetzt werden. Der reine Besitz von Streubomben ist kein Verbrechen, der ist erlaubt. Setzt eine Armee diese Streumunition aber wahllos gegen die Zivilbevölkerung ein, dann ist das ein Kriegsverbrechen. Ein solches Verbrechen können Sie auch mit ganz normalen, zugelassenen Waffen begehen. Grundsätzlich gilt nämlich, dass der gezielte Einsatz jeglicher Waffen gegen die Zivilbevölkerung ein Kriegsverbrechen ist.
Wenn also - wie offenbar geschehen - die russische Armee in Tschernihiw zwei Schulen und einen Wohnblock angreift, ist Putin damit bereits zum Kriegsverbrecher geworden?

Professor Sven Bernhard Gareis ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik. Er lehrt an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.
(Foto: Privat )
Er trägt die Verantwortung für das Verbrechen der Aggression und die in deren Rahmen begangenen Kriegsverbrechen. Individuelle Schuld im juristischen Sinne muss immer durch ein Gericht entschieden werden - was in diesem Falle aber wenig realistisch ist.
Aber auch Kriegsverbrechen machen einen Angriff noch nicht zum Vernichtungskrieg, oder? Als Beispiel für diesen Begriff gilt für viele wohl der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, 1941.
Unter dem gerade auch die Ukraine massiv gelitten hat, das hat man in Deutschland oft nicht so im Blick. Während des "Unternehmen Barbarossa", das war der Tarnname für diesen Überfall, wurde neben vielen Millionen Russen und Angehörigen anderer Völker fast ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung getötet.
Was genau machte diesen Krieg zu einem Vernichtungskrieg?
Er war getragen von rassistischer Ideologie und sprach einer angeblich minderwertigen Rasse das Lebensrecht ab. Er zielte darauf ab, diese sie zu dezimieren, ihr die Lebensgrundlagen wegzunehmen, die Überlebenden anschließend unter einer vermeintlichen Herrenrasse zu versklaven. Dieser Vernichtungswille zeigte sich besonders deutlich in der Ermordung von 1,6 Millionen ukrainischen Juden.
Ein erklärter Wille zur Vernichtung der Ukrainer, ist es das, was fehlt, um Putins Überfall zu einem Vernichtungskrieg zu machen?
Bei allem Furchtbaren, was in der Ukraine derzeit passiert, wird man Putin diesen Vernichtungswillen - zumindest noch - nicht unterstellen können. Als Indikator, der allerdings in diese Richtung weist, ist seine Aussage zu werten, dass die Ukraine keine eigene Nation sei. Da ist die Sorge berechtigt, dass er versuchen könnte, die ukrainische Kultur, ihre Identität, der russischen zu unterwerfen.
Ging das aus einer seiner Reden hervor?
Am 22. Februar hat er deutlich gemacht, dass aus seiner Sicht die Ukrainer kein eigenes Volk sind, sondern Teil eines größeren russischen Volkes. Aber es geht sicherlich nicht darum, einen Vernichtungskrieg an der Bevölkerung durchzuführen. Auch, wenn die eingesetzten Mittel brutal sind und es viele zivile Opfer gibt. Ein ideologischer Vernichtungswille ist aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht sichtbar.
Und eine extrem hohe Opferzahl macht einen Krieg nicht zum Vernichtungskrieg?
Nein, hier verhält es sich ähnlich wie bei einem Genozid. Auch dort ist die Absicht der Vernichtung einer nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppe das entscheidende Tatbestandsmerkmal, und dieser Wille muss nachgewiesen werden. Aber ein Krieg zwischen zwei Staaten, Land A greift Land B an, zum Beispiel im Streit um Territorium oder Energiezugänge, mit einer Million Toten auf beiden Seiten: Das wäre per se kein Genozid und auch kein Vernichtungskrieg.
Wie riskant ist es, in der Öffentlichkeit mit solch einem Begriff zu hantieren?
So hoch belastete Begriffe machen es zum einen natürlich deutlich schwieriger, aus einer Kriegssituation wieder zurück zu Friedensverhandlungen, zu politischen Lösungen zu gelangen. Zum anderen relativieren sie auch die Vernichtungskriege, die in der Geschichte tatsächlich stattgefunden haben. Was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion durchgeführt haben, war definitiv ein Vernichtungskrieg. Bei dieser Form der Kriegsführung geht der Vernichtungswille wirklich sehr weit. Ziel ist es dann, Identität, Kultur und auch die physische Existenz eines Volkes auszulöschen. Am Ende soll nichts übrigbleiben.
Mit Sven Bernhard Gareis sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de