
Letta zu Besuch bei Scholz im Willy-Brandt-Haus
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In sechs Tagen findet in Italien wieder einmal eine Wahl statt. Und einmal mehr entscheiden die Italiener über Europas Schicksal mit. Die Bundesregierung hofft auf einen Sieg von Enrico Letta - nicht nur weil mit der Postfaschistin Giorgia Meloni die Einheitsfront gegen Russland Risse bekäme.
Nein, im Kanzleramt wird Enrico Letta an diesem Montag nicht empfangen. Um dort eingelassen zu werden, müsste der Spitzenkandidat der italienischen Sozialdemokraten erst einmal die Parlamentswahl am kommenden Sonntag gewinnen und - noch schwieriger - im Anschluss eine einigermaßen stabile Regierungsmehrheit schmieden. Sollte ihm das gelingen, wird Bundeskanzler Olaf Scholz den 58-Jährigen umso herzlicher in seinem Amtssitz begrüßen. Erleichtert darüber, dass Italien doch nicht an die Postfaschistin Giorgia Meloni gefallen ist, und darüber, dass mit Meloni nicht die nächste EU-feindliche Rechtspopulistin mit Vorliebe für autoritäre Machthaber in den Kreis der europäischen Staats- und Regierungschefs einzieht. Bis dahin reicht es für Letta nur für das Willy-Brandt-Haus.
Der Kanzler kommt zum Bildtermin mit Letta in die SPD-Zentrale, schweigt aber, um sich als deutscher Regierungschef nicht über Gebühr in die italienischen Wahlen einzumischen. Letta darf an der Sitzung des SPD-Vorstands teilnehmen und im Anschluss mit Parteichef Lars Klingbeil Fragen der deutschen Presse und der italienischen Deutschland-Korrespondenten beantworten. Es gehe um sehr viel am Sonntag, sagt Klingbeil, die Wahl sei "auch eine Weichenstellung für Europa". Letta freut sich, sich als italienisches Gesicht der europäischen Familie präsentieren zu können. "Wenn wir nächsten Sonntag gewinnen, sind die Demokratien im Glück", sagte Letta neben Kingbeil stehend. "Wenn die Rechte gewinnt, freut sich Putin."
Neue Achse Warschau-Budapest-Rom?
Die Abstimmung am 25. September sei "unser Brexit", versucht Letta das Wahlvolk in Italien für die Entscheidung zu mobilisieren. Wenn Meloni gewinne, sei Italien isoliert in Europa, verliere an Einfluss und könne wirtschaftlich schwere Nachteile erleiden, lautet die dramatische Botschaft des angesehenen Politikwissenschaftlers. Doch so eindeutig ist das nicht: Meloni stünde in Brüssel gar nicht so alleine da, sondern würde in den Regierungen Ungarns und Polens potenzielle Verbündete finden. Bei allen ideologischen Differenzen herrscht zwischen Meloni, dem ungarischen Machthaber Viktor Orban - der längst kein demokratisch gewählter Regierungschef im Wortsinn mehr ist - und Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki in wichtigen Punkten Übereinstimmung. So will auch Meloni das Vetorecht der einzelnen EU-Staaten stärker machen, anstatt wie Scholz und Letta mehr Mehrheitsentscheidungen zu ermöglichen.

Kopf-an-Kopf-Rennen in Italien, doch anders als auf dem Bild liegt in den Umfragen Meloni vorn.
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Wie weit die Solidarität unter den rechtspopulistischen Politikern geht, zeigt die Ankündigung der EU-Kommission, Ungarn für die korrupte Zweckentfremdung von EU-Geldern zu bestrafen: Morawiecki hat Orban bereits seine Unterstützung zugesagt, obwohl das die Ukraine unterstützende Polen und Putin-Freund Orban in dieser zentralen Frage gegenteilige Positionen einnehmen. Auch Meloni unterstützt Orban gegen die EU. Wo sich Rom unter Meloni beim Umgang mit Russland einsortieren würde, ist unklar. Seit dem 24. Februar ist auch die ultranationalistische Meloni von Moskau abgerückt und hat in Richtung Brüssel beteuert, dass sie an den Sanktionen gegen Russland festhalten wolle. Allerdings ist diese Zusicherung brüchig: Melonis Partei Fratelli d'Italia tritt in einer Allianz mit der Lega von Matteo Salvini und Forza Italia von Silvio Berlusconi an.
Politgreis Berlusconi lässt bis zum heutigen Tag nichts auf seinen Freund Wladimir kommen, während Salvini ein Foto auf dem Roten Platz in Moskau verfolgt, auf dem er in einem T-Shirt mit Putin-Konterfei posierte. Das entstand zwar vor dem russischen Überfall vom 24. Februar, aber eben auch weit nach der Annexion der Krim im Jahr 2014. Salvini-Vertraute sollen im Herbst 2021 über einen Deal verhandelt haben, demzufolge sie russisches Öl zum Vorteilspreis bekommen hätten und die Marge des Wiederverkaufs - geschätzte 3 Millionen Euro - der Lega-Parteikasse zufließen sollten. Salvini mühte sich am Wochenende, seine wiederholte Kritik an den Russlandsanktionen wieder einzufangen. Ihm gehe es nur darum, dass nicht die Italiener am Ende die Leidtragenden seien. Eine Regierung Meloni wäre beim Thema Russland dennoch ein unsicherer Kantonist, mindestens.
Zerhackstückeltes, demokratisches Lager
Aus Sicht der Bundesregierung, und mehr noch aus Sicht der regierenden SPD, ist der kommende Sonntag ein entscheidendes Datum. Parteichef Klingbeil verweist gerne auf das europäische Momentum der Sozialdemokratie mit zuletzt acht Regierungschefs, deren Parteien der sozialdemokratischen Parteienfamilie SPE angehören. Vergangene Woche reduzierte sich diese Zahl um Magdalena Andersson: Die schwedische Regierungschefin verlor ihre Regierungsmehrheit an ein rechtes Vier-Parteien-Bündnis einschließlich der rechtsradikalen Schwedendemokraten. Klingbeils These vom "sozialdemokratischen Jahrzehnt", in dem angesichts der vielen Transformationsprozesse in Europa sozialdemokratische Politik gefragter sei denn je, wackelt kräftig. Ein überraschender Sieg von Letta würde das Ruder en wenig herumreißen.
Dass es dazu kommt, ist indes nicht wahrscheinlich. Lettas Partito Democratico könnte zwar durchaus vor Melonis Brüder Italiens als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen, doch fehlen dem PD die Partner. Mit der 5-Sterne-Bewegung hat sich Letta verkracht, nachdem deren Chef Antonio Conte die gemeinsam getragene Regierung von Mario Draghi platzen ließ. Der im Vergleich zu Letta populistischere Matteo Renzi und seine Partei Viva Italia haben sich mit dem sozialliberalen Carlo Calenda und dessen Partei Azione zu einem dritten Block neben der Mitte-rechts-Allianz und dem Mitte-links-Bündnis zusammengeschlossen.
Ihre Beziehung zu Letta ist vergiftet - was auch daran liegt, dass Renzi aus Lettas Sicht ein Abtrünniger ist: Er war lange Vorsitzender und Hoffnungsträger des PD. "Calenda und Renzi haben ein Ziel: uns anzugreifen, die Linke zu zerstören. Sie vergessen, dass sich der Kampf gegen die Rechte richtet", sagte Letta vor seinem Abflug nach Berlin der Zeitung "Il Foglio". So parzelliert sich das pro-europäische Lager in viele kleine Kräfte, die aber im italienischen Wahlsystem, das Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht mischt, nur zusammen Erfolg haben können.
Berlin braucht einen Partner in Rom
Eine frustrierende Lage aus Sicht der Ampel, denn Italien wird auch in anderen Fragen dringend benötigt: bei der Klimapolitik etwa - Meloni leugnet den menschgemachten Klimawandel, natürlich - und auch im Umgang mit der sich anbahnenden Rezession. Italien hatte zuletzt, unter Rückgriff auf den eigens eingerichteten EU-Fonds zur Überwindung der Pandemiefolgen, beachtliche Reformanstrengungen unternommen. Doch noch immer wiegt die Überschuldung schwer, während die Zinsen zur Refinanzierung der Staatskredite steigen. Eine Regierung, die sich keine Vorgaben aus Brüssel machen lässt und den Zugriff auf Milliarden-schwere Hilfsgelder verlieren könnte, dürfte das Vertrauen der Finanzmärkte in Italien wieder zerstören. Dass Italien und andere überschuldete EU-Länder eine Eurokrise 2.0 heraufbeschwören könnten, sollte es mit Europas Wirtschaft weiter bergab gehen, ist kein fernes Schreckgespenst, sondern wird im Kanzleramt längst theoretisch durchgespielt.
Hinzu kommt: Die Machtarchitektur Europas hat sich spürbar und überraschend deutlich verschoben. In der Ukraine-Krise geben Polen und die baltischen Staaten den Takt vor. Zu sehen im Streit um die Reisevisa für Russen, wo sich Paris und Berlin zuletzt nicht mehr mit ihren Positionen durchsetzen konnten. Der deutsch-französische Motor Europas hatte sich unter Draghi dankbar auf den italienischen Außenborder gestützt. Das Bild von Draghi, Scholz und Emmanuel Macron auf gemeinsamer Kiew-Reise sprach in diesem Sinne Bände. In Berlin immerhin haben die Bündnistreue versprechenden Äußerungen Melonis zwar Hoffnungen geweckt, dass sich auch eine von ihr geführte Regierung ins westeuropäische Konzert einbinden lassen könnte. Doch ehe solche Hoffnungen einem Realitätstest unterzogen werden, drücken Scholz, Klingbeil und auch die nicht-sozialdemokratischen Regierungsmitglieder lieber Enrico Letta die Daumen - auf dass der bald tatsächlich zum Antrittsbesuch im Kanzleramt zu Besuch ist.
Quelle: ntv.de