Gaza erlebt "modernen Krieg" Wenn zivile Opfer und Ruinen gewollt sind


Palästinenser vor einer Ruine des Krieges im Gazastreifen
(Foto: imago/ZUMA Press)
Was Gaza-Stadt droht in Ruinen zu legen, ist ein "moderner" Krieg, sagen US-Experten. 90 Prozent der Opfer sind in solchen urbanen Konflikten Zivilisten, das stehe auch Gaza bevor. Im städtischen Nahkampf sind die israelischen Streitkräfte herausgefordert wie kaum je zuvor.
Die Fassade des Hauses hat eine Explosion herausgerissen. Über Schuttberge, leicht geduckt, arbeiten sich drei Soldaten ins Innere vor. Gegenüber: mehrstöckige Wohnblöcke, kein Fenster mehr mit Glasscheibe, nur noch Löcher im Beton. Aus welchem Loch ein Terrorist das Feuer gegen sie eröffnen könnte, wissen die Männer nicht. Eine Seitenwand steht noch, schützt sie nach links. Rechts steht ein Panzer, von vorn kein Schutz möglich. Der vorderste Soldat löst sich von der Wand, schießt.
Ein Moment des Kampfes, irgendwo in Gaza-Stadt, das Video kursiert in Messenger-Gruppen. Demnach gehören die Soldaten zur 7. Panzerbrigade der israelischen Verteidigungskräfte (IDF). Das halb zerfetzte Haus, aus dem heraus sie feuern, sei ein Regierungsgebäude der Hamas, von israelischen Truppen eingenommen, heißt es darin.
Es ist das erste Mal seit neun Jahren, dass die IDF sich durch Gazas Häuserschluchten vorarbeiten. Die Dimension des jetzigen Einsatzes stellt den von 2014 weit in den Schatten. Nach dem Gewaltexzess am 7. Oktober war klar: Dieser Anschlag würde für Israel eine Zeitenwende markieren. Die bisherige Politik, die Terrorgruppe durch limitierte Militäroperationen alle paar Jahre zu schwächen, ihre Fähigkeiten einzudämmen - Geschichte. Auf den Furor der Hamas mussten die Israelis eine neue Antwort finden, und das Ausmaß der Verletzung ließ für sie nur die eine zu: ausradieren.
Am Ende des Krieges "werden natürlich noch Hamas-Mitglieder am Leben sein, und vielleicht leben sie weiter mit ihrer Idee", sagte der israelische Sicherheitsberater Jakoov Amidror wenige Tage nach dem Anschlag. Aber die Hamas werde keinen Militärapparat mehr haben und keinerlei Fähigkeiten, Israel anzugreifen. "Als Militärorganisation wird sie nicht mehr existieren."
Dieses Ziel ist noch lange nicht in Sicht und nur über einen blutigen Städtekrieg zu erreichen, in den Israel sich mit der Bodenoffensive hineingeworfen hat. Glaubt man John Spencer, US-Sicherheitsexperte von der Militärakademie Westpoint mit Spezialisierung auf Urban Warfare, Kriegführung in Städten, dann ist es das Gesicht des modernen Krieges, wie ihn die Welt in den letzten 20 Jahren mehrfach gesehen hat - im syrischen Raqqa oder in Mossul und Falludscha im Irak.
Diesen Kriegen gemein ist: Sie wurden inmitten der Zivilbevölkerung ausgetragen. "90 Prozent der Opfer moderner Kriege sind nicht Soldaten, sondern Zivilisten", sagt Spencer in seinem "Urban Warfare Project Podcast". Ihre Schauplätze werden zu Ruinen. Und nichts deutet für ihn darauf hin, dass es in Gaza anders sein wird. Die Dimension dieser Herausforderung entfaltet sich gerade erst.

Schadensanalyse im Gazastreifen anhand von Copernicus Sentinel-1-Satellitendaten von Corey Scher (CUNY Graduate Center) und Jamon Van Den Hoek (Oregon State University) mit Daten vom 7. Oktober bis 10. November 2023.
(Foto: Scher/Van Den Hoek, ESA/Sentinel Hub, OCHA, ntv.de/lst)
Eine Stadt unter der Stadt
Ein Erfolg wie die eingangs erwähnte israelische "Einnahme" von Gebäuden - im Gazastreifen nur eine Momentaufnahme. Das weitläufige Tunnelsystem unter der Erde, "Gaza Metro" genannt, bietet den Terroristen die Möglichkeit, sich unbemerkt zwischen verschiedenen Kampfpositionen zu bewegen, rasch, kreuz, quer. Auch dort können sie wieder an die Oberfläche steigen, wo die Israelis den Gegner schon vertrieben glaubten, weiter vorgerückt sind; im Rücken der Soldaten das Feuer eröffnen.
Gaza ist eine Stadt, unter der im Erdreich eine weitere Stadt existiert - so beschreiben es Militärexperten. Wo der Gegner in bis zu 40 Metern Tiefe eine Infrastruktur geschaffen hat, in der sich Kämpfer dauerhaft aufhalten können. An vielen Stellen verfügt sie über Stromgeneratoren, Lüftungsanlagen, Wasserleitungen und Lebensmittelvorräte, beschreibt Spencer in einem Aufsatz. Nach seiner Einschätzung sind die Tunnel das entscheidende Element der Guerillakriegsstrategie der Hamas.
Daher geht es bei dem israelischen Vormarsch in Gaza-Stadt nie nur darum, den Gegner anzugreifen, Hinterhalte aufzuspüren oder Waffenlager auszuheben. In Gaza müssen die IDF im Prinzip jeden Stein umdrehen, unter dem ein Eingang ins Tunnelnetz versteckt sein könnte. In Videos präsentieren Soldaten Einstiegsklappen im Keller von Schulen, unter Sträuchern am Straßenrand, vor einigen Tagen legte ein abgerücktes Kinderbett in einem Privathaus einen metertiefen Schacht frei.

Soldaten der israelischen Streitkräfte nähern sich einem freigelegten Eingang ins Tunnelsystem der Hamas.
(Foto: via REUTERS)
Und wenn der Tunneleinstieg aufgespürt ist, ergibt sich daraus die noch schwierigere Aufgabe: Was macht man damit? Die meisten militärischen Geräte zur Navigation und Kommunikation quittieren unter Tage ihren Dienst, ebenso herkömmliche Nachtsichtbrillen. Spezialgerät haben die IDF, aber nicht in so großer Zahl wie jetzt plötzlich nötig. In manchen Schächten bekommt man kaum Luft, und in den oft nur einen Meter breiten und zwei Meter hohen Gängen mit einer Waffe zu feuern, ist ein riskantes Unterfangen. "Ein einzelner Verteidiger", fasst Spencer zusammen, "kann einen engen Tunnel gegen eine weit überlegene Streitmacht halten".
Da scheint sich auf den ersten Blick eher die brachiale Methode zu empfehlen, für die Israels Armee bodendurchdringende Munition zur Verfügung hat oder auch mit dem Bulldozer Tunnel versiegeln kann. Doch müssen die Truppen den Effekt dieser Taktiken nun erstmals mit dem Risiko abwägen, dass sie ihre als Geiseln verschleppten Landsleute in Lebensgefahr bringen könnten. Das verbietet eine generalisierte Vorgehensweise und macht es nötig, in jedem Fall neu zu entscheiden.
Über Tage ist die Lage kaum weniger kompliziert und gefährlich: Auch die Hamas operiert mittlerweile mit Drohnen, um aufzuklären oder anzugreifen. Wie stark Drohneneinsatz die Situation auf dem Schlachtfeld beeinflussen kann, zeigt eindrücklich das Beispiel Ukrainekrieg, wo keine der beiden Parteien derzeit in der Lage scheint, ihren Gegner in einem Überraschungsmoment zu attackieren. Für Israels Truppen ist dieses Manko relevanter als für die Hamas, die aus ihren Tunneln heraus überraschend angreifen kann.
Die Waffen immer an der richtigen Position
Das unerlässliche Vordringen mit schweren Panzern und geschützten Fahrzeugen birgt im engen städtischen Komplex ein weiteres Risiko. Was fehlt, ist die Möglichkeit, Ziele aus sicherer Entfernung anzugreifen. Stattdessen können die mechanisierten Verbände selbst von allen Seiten ins Visier geraten. Denn moderne Panzerabwehrwaffen sind tragbar und damit ideal, um sie durch die Tunnel schnell zu transportieren und an der gerade günstigsten Position erst unmittelbar vor Angriff in Stellung zu bringen.
Die Hamas war zwar in der Vergangenheit dafür bekannt, dass sie sogar Wasserleitungen aus der Erde buddelte, um mit beschränkten Mitteln daraus improvisierte Raketen zu zimmern. Doch verfügt sie inzwischen über ein stattliches Arsenal an Waffen auf aktuellem technischem Stand. Das zeigte die Terrorgruppe schon 2014.
Fünfzig Tage dauerte jene Operation, Hamas wehrte sich damals laut Spencer "mit Raketen, Mörsern, Panzerabwehrraketen, Panzergranaten, Maschinengewehren und Handfeuerwaffen, hauptsächlich von geschützten Stützpunkten aus eingesetzt". So können die Terroristen das schwierige urbane Umfeld als Verteidigende viel besser für sich nutzen als die angreifenden Israelis. Nicht ohne Grund erhöht sich aus Sicht vieler Experten die für einen erfolgreichen Angriff auf freier Fläche notwendige Überlegenheit in der Kampfkraft von 3:1 im städtischen Umfeld auf 10:1. Zehnmal mehr Stärke muss die einmarschierende Truppe aufbringen können, um die Verteidiger, die sich in der Stadt verschanzen, zu besiegen.
Und die letzten Erfahrungen, die IDF-Soldaten mit Städtekampf gemacht haben, liegen bald 20 Jahre zurück. 2005 gab es eine größere Operation auch in Gaza-Stadt, während man sich 2014 auf Außenbezirke beschränkte. Was die Truppe daraus für den jetzigen Einsatz lernen konnte, hält der Militärhistoriker Jacob Stoil darum für limitiert. Interessanter seien Reservisten, die schon 2005 mitgekämpft haben.
Problem dabei: Solchen Veteranen, die vor 20 Jahren in Spezialeinheiten dienten, fehlt zuallererst das nötige Equipment, um sich nun wieder in den Städtekampf zu wagen. Ist bislang etwa die Hälfte der israelischen Reservisten vollständig ausgestattet, so braucht man nun sehr kurzfristig Ausstattung für mehr als 100 Prozent. Laut Stoil, der an der US-Army School of Advanced Military Studies lehrt und die Kriege in Gaza vielfach analysiert hat, handelt es sich um die größte und schnellste Mobilisierung der letzten 50 Jahre.
Das alles vor dem Hintergrund, dass Israel enorm unter Zeitdruck steht, dass bei diesem Krieg - in viel stärkerem Ausmaß als in anderen Konflikten - die Uhr tickt. Sie bemisst, wie lange die Israelis ihre Partner noch im Rücken haben, mit öffentlicher Haltung, aber, wichtiger noch, mit militärischer Unterstützung. Diese Uhr tickt in Washington. "Die USA sind in den meisten Operationen für Israel der bestimmende Faktor", sagt Stoil im "Modern Warfare Podcast", auch 2005 sei die zentrale Frage für die Planung der Offensive gewesen: Wie viel Zeit bleibt, bis die USA die Uhr stoppen? Dieselbe Frage stellt sich jetzt, und mit jedem Angriff auf ein palästinensisches Krankenhaus, mit jeder Kinderleiche, die aus Trümmern geborgen wird, rückt der Zeiger schneller voran.
Zugleich gebietet es die menschenverachtende Hamas-Strategie, ihre Waffen, Kämpfer und Kommandozentralen unter Kliniken und Schulen zu verstecken, dass Israel eben keine schnellen Entscheidungen trifft. Laut Stoil hat die Hamas nahezu alle zivilen Bauprojekte der letzten Jahre als "Dual-Use"-Gebäude konzipiert, schon geplant mit dem Ziel, militärische Infrastruktur einzuweben. "Die Hamas hat ihre Verteidigungsstrategie darauf angelegt, die Zahl der zivilen Opfer, das Leid der Bevölkerung zu maximieren", sagt der Experte.
Mit dieser Hypothek versuchen die IDF nun umzugehen. Während sie 2014 juristische Berater wie üblich auf höherer Ebene im Einsatz hatten, beobachtet Stoil, dass die Frage nach Befolgen des Völkerrechts 2023 sehr viel wichtiger ist: "Juristische Berater sind jetzt auf taktischer Ebene eingebunden, vor Ort, um sicherzustellen, dass jegliches Vorgehen gemäß dem Kriegsrecht verläuft - bezogen auf Verhältnismäßigkeit, Notwendigkeit, Differenzierung" zwischen militärisch und zivil.
Sich Zeit zu nehmen, um das eigene Vorgehen juristisch abzusichern, sich zugleich enorm zu beeilen, um internationale Rückendeckung nicht zu verlieren - die widersprüchlichen Herausforderungen dieses Israelkrieges sind auf die Spitze getrieben. Dazu ein Schlachtfeld voller menschlicher Schutzschilde, irgendwo versteckt noch 240 entführte Landsleute und unter dem Schlachtfeld eine versteckte zweite Stadt des Gegners. Jede einzelne dieser Herausforderungen mag von einer starken Armee wie der israelischen zu bewältigen sein. "Aber hier macht es die Summe", sagt Stoil, und wie alles mit allem zusammenhängt. "Der Effekt der einzelnen Faktoren steigt exponentiell."
Quelle: ntv.de