Politik

Zorn über Moskaus "Scheiß" In Kursker VK-Gruppen wächst die Wut auf den Kreml

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Evakuierte warten in einem Verteilungszentrum auf humanitäre Hilfe. In den sozialen Medien machen viele Russen ihrem Ärger Luft.

Evakuierte warten in einem Verteilungszentrum auf humanitäre Hilfe. In den sozialen Medien machen viele Russen ihrem Ärger Luft.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Die Bevölkerung von Kursk fühlt sich vom Kreml im Stich gelassen. Im Internet üben viele ungewöhnlich scharfe Kritik. In einem verstörenden Video ruft ein russisches Mädchen in Militäruniform die Ukrainer auf, Richtung Moskau zu marschieren. Damit die Politiker dort endlich "ihren Arsch anstrengen".

Viele Bewohner der Region Kursk sind fassungslos: Während der Krieg ihre Dörfer erreicht hat, reist Wladimir Putin nach Aserbaidschan und Tschetschenien und tut so, als ob in Russland alles in Ordnung wäre. Bei seinen Besuchen in Baku und Grosny erwähnt der Kremlchef die ukrainische Offensive mit keinem Wort. Kein hochrangiger Politiker hat sich in das neue Kriegsgebiet begeben, die Staatsduma ist in der Sommerpause, und Kremlsprecher Dmitri Peskow genießt weiter seinen Urlaub. Die nationalen Staatsmedien beschönigen die Situation und verkaufen die Ereignisse in der Region als "neue Realität". Alles ist unter Kontrolle, alles läuft nach Plan - so lautet die Botschaft des Kremls.

Doch für die Menschen im Grenzgebiet läuft nichts nach Plan. Zwei Wochen nach Beginn der ukrainischen Gegenoffensive kontrolliert Kiew bereits Dutzende Ortschaften in der Region, und die Kämpfe gehen weiter. Laut offiziellen Kreml-Angaben mussten über 120.000 Menschen evakuiert werden. Die lokalen Behörden stehen in der Kritik: Ihnen wird vorgeworfen, als erste geflohen zu sein, ohne sich um die Sicherheit der Bevölkerung zu kümmern.

Dass die lokalen Beamten Hals über Kopf geflohen waren, wird etwa durch Fotos und Videos ukrainischer Soldaten aus dem Kreiswehrersatzamt der Stadt Sudscha belegt, die in russischen Telegram- und VK-Gruppen geteilt werden. VK.com ist das russische Facebook-Pendant. Die Bilder zeigen vertrauliche Dokumente, wie Personalakten der Wehrpflichtigen, die die ukrainischen Soldaten in der Behörde gefunden haben. Ein Video zeigt einen ukrainischen Journalisten, der die zurückgelassenen Akten der russischen Wehrdienstverweigerer verbrennt - um diesen "vernünftigen Russen, die nicht für Putin sterben wollen, zu helfen". In der VK-Gruppe "Sudscha Online" äußern viele Nutzer ihren Unmut über den Leiter der Behörde, Jurij Woronzow. Er wird in den Kommentaren als "Verräter" bezeichnet, einige sprechen von "Schande" und fordern eine harte Bestrafung für den Beamten.

Die Behörden "lügen" und "tun nichts"

Unter einem anderen Post, der darüber informiert, dass die geflohene Bezirksverwaltung von Sudscha nun eine Sprechstunde in Kursk, der Hauptstadt der Region, anbietet, äußern viele Bewohner wütend ihren Unmut über die Beamten: "Wie sollen sie uns in die Augen schauen, wenn alle Einwohner von Sudscha sie hassen!" Ein anderer Kommentar lautet: "Sie lügen alle." Die Kritik konzentriert sich darauf, dass die Behörden die Bevölkerung während des ukrainischen Vorstoßes im Stich gelassen, die Evakuierung nicht organisiert und "nichts getan" hätten.

In einer anderen Gruppe wird die schlechte Versorgung mit humanitärer Hilfe thematisiert. "Es gibt nicht genug für alle. Roman Denisov, der stellvertretende Gouverneur der Region Kursk, versprach, Mittel bereitzustellen, um den Menschen zu helfen. Aber leider blieb es nur bei Worten. Alles, was wir verteilen können, haben wir den Unternehmern zu verdanken, denen das Problem nicht gleichgültig war", heißt es in einem Kommentar zu einem Video aus Kursk, das eine große Menschenmenge zeigt, die anscheinend vergeblich auf Hilfe wartet.

"Wir werden euren Scheiß schon aufräumen"

Doch der Zorn der Bevölkerung richtet sich nicht nur gegen die lokalen Behörden. Ein verstörendes Video, in dem ein Mädchen in Militäruniform mit bedrohlicher Stimme ein Gedicht vorträgt und die Moskauer Regierung scharf kritisiert, erhält viel Zustimmung. Das Kind nimmt kein Blatt vor den Mund und wirft der Regierung vor, in bequemen Sesseln zu sitzen und Kognak zu trinken, während "unsere Großväter und Väter" gegen den "Chokhol" (abwertende Bezeichnung für Ukrainer, Anm. d. Red.) kämpfen. Den "Chokhol" bittet das Mädchen dann um "einen Gefallen" - den Weg nach Moskau zu nehmen. An den Kreml gerichtet, ruft sie: "Vielleicht strengen sie dann ihren Arsch an? Oder hauen alle nach Europa ab. Vielleicht kapieren sie endlich alles?"

Das Wut-Gedicht eines russischen Mädchens in Militäruniform erhält viel Zuspruch im Internet.

Das Wut-Gedicht eines russischen Mädchens in Militäruniform erhält viel Zuspruch im Internet.

(Foto: Screenshot vk.com/overhearsudga)

Die Ukrainer würden "wir natürlich vertreiben, vom Heimatland verjagen, ausrotten, zerquetschen und auslöschen!", schreit das Mädchen. "Wir werden euren Scheiß schon aufräumen", ergänzt sie in Richtung Moskau. Dann fragt sie wütend: "Wie habt ihr nur regiert? Wie konntet ihr das zulassen?". Das Video des Mädchens, auf deren Uniform Aufnäher zu sehen sind, die unter Kriegs-Hardlinern beliebt sind, wird hundertfach geteilt. Ein Blick in die Kommentarspalte zeigt: Viele Russen fühlen sich von der Regierung im Stich gelassen. Der Zorn richtet sich nicht nur gegen die Ukrainer, sondern auch gegen die Moskauer Eliten.

Regime bleibt trotz Kritik stabil

Die wachsende Unzufriedenheit mit Putin und dem Kreml wird auch durch eine Studie des britischen Unternehmens FilterLabs AI bestätigt, das die Einstellungen in Russland durch die Analyse sozialer Medien verfolgt. Viele Online-Beiträge sehen den Vormarsch der Ukraine demnach als Versagen der russischen Regierung und insbesondere von Putin. Während die nationalen Medien versuchen, das Thema zu vermeiden, neigen regionale Medien weniger dazu, die Nachrichten aus dem Grenzgebiet zu beschönigen. Und in den sozialen Netzwerken reden immer mehr Nutzer Klartext.

Trotz der zunehmenden Kritik bleibt das Regime jedoch stabil, wie Russland-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im Interview mit ntv.de erklärte. Der Kreml begegnet den Zweifeln der Bevölkerung mit finanziellen Angeboten wie Ausgleichszahlungen für Evakuierte und hohem Sold für Soldaten. Gleichzeitig wird Kritik durch Repressionen erstickt. "Das ist das Schizophrene: Dem Staat ist die Gesellschaft egal und trotzdem gehen Russen wie Lemminge in diesen Krieg."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen