Kursk-Vorstoß entlarvt Schwächen "Trotzdem gehen die Russen wie Lemminge in diesen Krieg"
21.08.2024, 19:16 Uhr Artikel anhören
Hier werden russische Kadetten für die Grenzsicherung ausgebildet. Ob sie im Krieg ihr Leben lassen müssen, sei dem Kreml egal, sagt Meister.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Die ukrainische Invasion in Kursk nährt in der russischen Bevölkerung Zweifel am Erfolg des Angriffskriegs. Die totalitäre Tradition Russlands helfe Präsident Putin allerdings dabei, Kritik im Keim zu ersticken und Kanonenfutter für die Front zu gewinnen, sagt Russland-Experte Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
ntv.de: Herr Meister, laut dem ehemaligen russischen Diplomat Boris Bondarew zweifeln kremlnahe Eliten nach dem Eindringen der ukrainischen Armee in Kursk stärker an Wladimir Putins Schlachtruf "Wir werden siegen". Wie kritisch sehen seine Gefolgsleute jetzt den Angriffskrieg?
Stefan Meister: Zunächst einmal glaube ich nicht, dass Putin selbst sich die Frage stellt, ob er einen Fehler gemacht hat. Aufgrund seiner imperialen Perspektive wird er auch nicht bereit sein zu Kompromissen. Ich denke, Putin fällt seiner eigenen Propaganda zum Opfer, wonach die Invasion in die Ukraine ein Krieg mit dem Westen ist. Die Logik des Krieges funktioniert auch in der Elite und Gesellschaft, da durch den Krieg eine enorme Umverteilung von Mitteln erfolgt, von der viele Menschen Vorteile haben. Da auch der Sicherheitsapparat enorm profitiert, glaube ich nicht, dass die Zweifel jetzt besonders stark sind, wenn ja, waren sie in Teilen der Elite schon vorher da. Das zeigt sich an der Begeisterung mancher Russen für Jewgeni Prigoschins Marsch auf Moskau im Juni vergangenen Jahres. Aber auch an den kritischen Stimmen der Militärblogger oder der Systemliberalen in Russland. Aber all das hat zu keiner Veränderung der Politik des Kremls geführt, sondern zu mehr Propaganda und verstärkter Repression.

Stefan Meister leitet das Zentrum für Ordnung und Regieren in Osteuropa, Russland und Zentralasien bei der DGAP.
(Foto: Stefan Meister/DGAP)
Die Bevölkerung in den evakuierten Grenzgebieten fühlt sich von der Regierung im Stich gelassen. Reicht das aus, um bei den Russen allgemein Zweifel am Regime zu nähren?
Der Grund für den Erfolg der Ukrainer ist ein Versagen des Militärs und der Geheimdienste. Es wurde offensichtlich, wie dünn die Armee in den Grenzregionen besetzt ist und dass die Aufklärung nicht funktioniert hat. Der russische Staat ist also nicht so stark, wie er behauptet. Das löst in der Gesellschaft ein Unbehagen aus. Dazu kommen die vielen Opfer. Es handelt sich nicht nur um einen Materialkrieg, sondern um einen Krieg, in dem Menschen in Massen getötet werden. Den Zweifeln am Regime begegnet der Kreml auf der einen Seite mit finanziellen Angeboten wie Ausgleichszahlungen an die evakuierten Menschen beziehungsweise Angehörigen der Getöteten oder einem hohen Sold für Soldaten. Auf der anderen Seite wird Kritik durch Repressionen erstickt. Das Regime bröckelt also nicht oder gibt nach. Dem russischen Staat ist es egal, ob da 10.000 oder 20.000 Menschen sterben. Das ist der Zynismus des russischen Systems. Das hat eine lange Tradition.
Sind sich die Russen einerseits über den Zynismus ihres Systems bewusst und stehen andererseits dennoch hinter Putins imperialistischen Ansprüchen?
Ja, es handelt sich um eine Gesellschaft, die in der imperialen Tradition steht und den Staat unterstützt, der sie im Stich lässt. Das ist das Schizophrene: Dem Staat ist die Gesellschaft egal und trotzdem gehen Russen wie Lemminge in diesen Krieg. Das hat geschichtliche Gründe. Die Russen sehen die Völker der ehemaligen Sowjetunion als zweitklassig an. Die Gesellschaft ist durch das Erbe des totalitären Systems noch immer geschädigt. Unter Stalin wurden Russen massenhaft umgebracht, Menschenleben waren nichts wert. Die Traumata, die dadurch entstanden sind, wurden nie aufgearbeitet. Putin nutzt die Traumata aus dem Stalinismus und die Angst in der Bevölkerung, Opfer von Repression zu werden. An den Hass gegenüber dem Westen aus dem Kalten Krieg kann er anknüpfen.
Wie genau nutzt Putin diese Traumata?
Im Prinzip durch Repression. Wir haben wieder Gulags, also russische Konzentrationslager. Was mit Oppositionellen in diesen Straflagern gemacht wird - Folter, Tötungen wir bei Alexei Navalny, Entmenschlichung - hat eine abschreckende Wirkung. Die Gesellschaft ist hilflos gegenüber einem Staat, der wieder zunehmend totalitärer agiert. Dieser Staat unterdrückt die Zivilgesellschaft aber schon seit Jahrhunderten.
Putin versucht mit seinen Drohgebärden auch, unter den westlichen Verbündeten der Ukraine Angst zu verbreiten. Könnte der Westen nach Kursk von weiteren Waffenlieferungen absehen, da die Furcht vor der viel beschworenen "Eskalation" im Krieg wächst?
Das ist die deutsche Angst-Diskussion, nach dem Motto: Wir provozieren die Russen, indem wir bestimmte Dinge machen und deshalb werden wir in diesen Krieg gezogen. Das ist eine falsche Logik, die von bestimmten Politikern und Politikerinnen in Deutschland instrumentalisiert wird. Sie verstehen nicht, wie russische Politik und Kriegsführung funktioniert. Im Landtagswahlkampf in Ostdeutschland wird die Gesellschaft durch diese Angst-Debatte emotionalisiert. Nur, wenn man dem Kreml auf die Finger haut, wird er zurückweichen. Russland nutzt jegliche Schwäche des Gegners. Russland muss daran gehindert werden, seine Bomber überhaupt erst starten zu können. Dafür müssen die Ukrainer anders ausgestattet werden. Ich sehe nicht, dass die Ukraine eskaliert, sie ist ja in der Defensive. Im Gegenteil, Russland eskaliert. Putin sieht, dass der Westen nicht liefert und die Ukraine deshalb an bestimmten Punkten geschwächt ist. Das provoziert die russische Führung zu weiterer Eskalation.
War für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ein Hauptgrund für den ukrainischen Vorstoß in Kursk, dem Westen zu zeigen: Seht her, trotz Putins Drohungen passiert nicht viel, wenn wir über die russische Grenze gehen?
Absolut. Aber ich würde sogar weitergehen. Die Ukraine testet seit Beginn des Krieges die Grenzen aus, die der Westen ihr setzt, und verschiebt diese. In Kursk hat sie das wieder getan. Zwar sind die Ukrainer vorsichtig, weil sie wissen: Es kann zu einem Stopp der Waffenlieferungen kommen. Aber sie verschieben erfolgreich die Grenzen, weil sie sonst keine Chance hätten gegen die Russen. Am Ende ist es immer darauf hinausgelaufen, dass die Amerikaner und die Deutschen der Ukraine doch mehr erlauben. Hätten sie das früher getan, wäre die Ukraine nicht in einer so prekären militärischen Situation.
Zeigt die zurückhaltende Reaktion Russlands auf Kursk, dass niemand Angst vor Putin haben muss?
Ich würde Putin nie unterschätzen. Russland ist eine Nuklearmacht und bereit, mit massiven Opfern einen Angriffskrieg in Europa zu führen. Vor allem ist Russland als eine Macht im Niedergang besonders gefährlich, weil es nur militärische Möglichkeiten hat, um seine Macht zu erhalten. Abschrecken können wir Russland aber nur, indem wir Stärke demonstrieren. Jegliches Zurückweichen lädt den Gegner ein, erneut anzugreifen. In der russischen Logik gibt es nur einen Gewinner und einen Verlierer, keine Win-Win-Situation. Was Sahra Wagenknecht und andere behaupten - wir müssten auf Kompromisse und Frieden mit Russland setzen - ist Quatsch. Putin wird die NATO nicht angreifen, weil sie noch glaubhaft abschrecken kann. Aber falls die NATO geschwächt wird, in bestimmten Bereichen nicht verteidigungsfähig ist, wird er diese Schwächen austesten.
Mit Stefan Meister sprach Lea Verstl
Quelle: ntv.de