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Tabletten eigentlich nicht nötig Wie die Ukraine sich auf einen Anschlag auf das AKW Saporischschja vorbereitet

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Ukrainische Rettungskräfte in Strahlungsanzügen üben den Ernstfall.

Ukrainische Rettungskräfte in Strahlungsanzügen üben den Ernstfall.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Mit schwarzem Humor und Jodtabletten bereiten sich die Ukrainer auf einen möglichen Anschlag der Russen auf das Kernkraftwerk Saporischschja vor. Das eine hilft, das andere eher nicht.

Es war einmal ein Scherz. Nachdem im letzten Jahr am Rande der erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensive im Bezirk Charkiw die Sorge wuchs, dass Russland taktische Atomwaffen einsetzen könnte, schrieb eine ukrainische Twitter-Nutzerin, es gebe einen geheimen Telegram-Chat, in dem für den Fall eines Atomschlages eine Orgie auf der Schtschekawyzja geplant sei. Die Schtschekawyzja ist ein Hügel über Kiews historischem Stadtteil Podil. Der Tweet ging viral - und der Schtschekawyzja-Hügel wurde binnen weniger Tage zu einem landesweit bekannten Meme.

Mit der Zeit wurde es um Schtschekawyzja-Witze ruhig. Doch nach der vermeintlichen Sprengung des Kachowka-Staudamms sowie nach den ausdrücklichen Warnungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und des Chefs des Militärnachrichtendienstes Kyrylo Budanow, dass Russland einen Terrorangriff auf dem AKW Saporischschja geplant haben könnte, kehrten die Witze zurück. Vor der Nacht vom 4. auf den 5. Juli, als Gerüchte über einen möglichen Vorfall ihren Höhepunkt erreichten, verabredeten sich viele Kiewer für den Morgen scherzhaft auf der Schtschekawyzja.

Doch bei aller gepflegten Ironie sind die Sorgen der Ukrainer real und groß. Zum einen trauen sie dem Kreml nach all den Tragödien der letzten 16 Kriegsmonate alles zu. Zum anderen sitzt die schreckliche Tschernobyl-Erfahrung von 1986 tief in der Erinnerung der ukrainischen Familien. Und so ist es kaum überraschend, dass die Menschen massenhaft zu teilweise sinnlosen Maßnahmen greifen. So stieg der Verkauf von Jodtabletten in den Tagen nach den ersten Warnungen Selenskyjs Ende Juni gleich um 80 Prozent - ein Trend, der bis heute anhält. Weil die Blöcke des AKW aber stillstehen, würden im Falle eines Unfalls oder eines Anschlags keine Jod-Ionen freigesetzt. Eine Prophylaxe mit Kaliumjodid-Tabletten ist also gar nicht erforderlich.

Anderthalb Meter Stahlbeton

Auch das ukrainische Gesundheitsministerium sagt explizit: Kaliumjodid soll nur dann eingenommen werden, wenn dies von den Behörden empfohlen ist. Ansonsten sollten sich die Ukrainer im Falle eines Strahlenunfalls beim AKW Saporischschja folgendermaßen verhalten: Die Atmungsorgane schützen, einen Raum beitreten, diesen abdichten und erst dann verlassen, wenn ein besonderes Signal der Behörden vorliegt. Um eine ernsthafte Gefahr für Kiew geht es dabei auch nicht. Die Ukraine bereitet sich auf Szenarien vor, bei denen 50 bis 100 Kilometer rund um das Atomkraftwerk in der Zone der Strahlungsbelastung liegen könnten. Entsprechend wird in den letzten Wochen auch auf der behördlichen Ebene geübt.

Ein Szenario mit der Freisetzung von Strahlung ist in der Tat nicht ausgeschlossen. Die angekündigten 50 bis 100 Kilometer sind aber eher eine notwendige Überschätzung, um für den schlimmstmöglichen Fall vorbereitet zu sein. Durchaus realistisch ist, dass ein Radius von zehn Kilometern mit radioaktivem Cäsium und Strontium kontaminiert und für die nächsten Jahrhunderte zu einer Art toten Zone wird. Daher sind Vergleiche mit Tschernobyl oder Fukushima "sowohl ungenau als auch irreführend", wie die American Nuclear Society feststellte.

"Die Explosion von Reaktoren ist unmöglich, weil die Reaktoren in einer hermetischen Hülle aus anderthalb Meter Stahlbeton verborgen sind, was im Falle von Tschernobyl nicht der Fall war", erklärt Oleksij Tolkatschew, ehemaliger Vorsitzender des öffentlichen Rats der Aufsichtsbehörde für nukleare Regulierung der Ukraine. "Diese Hülle kann den Absturz eines Kleinflugzeuges, eine interne Explosion oder einen Unfall aushalten." Sie könne nur durch die Explosion mehrerer Schwerlastbomben zerstört werden. Aber danach müsste auch noch der Reaktorbehälter zerstört werden, damit sich radioaktive Stoffe freisetzen können.

"Kachowka-Sprengung hat bereits mehr Schaden angerichtet"

Laut Tolkatschew stellt einzig die Lagerung ausgebrannter Kernbrennstoffe eine ernsthafte Bedrohung dar. Diese befänden sich innerhalb von hundert Stahlbetonbehältern im Freien. "Diese Container sind eigentlich zuverlässig, aber nicht für den Fall von gezielten Bombenangriffen ausgelegt", sagt er. Selbst in diesem Fall würden aber nur wenige Behälter drucklos gemacht und nicht alle auf einmal. "Eine riesige Katastrophe kann eigentlich nur im Falle eines Schlages auf das AKW mit taktischen Atomwaffen erfolgen, dies wäre aber eine völlig andere Geschichte", sagt Tolkatschew. "Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat bereits viel mehr Schaden als potenziell jeder mögliche Unfall beim AKW Saporischschja verursacht."

Wirklich beruhigt wirken die Ukrainer trotz der Expertenmeinungen nicht. "Ich habe mit dem Krieg nicht gerechnet und mit dem Vorfall des Kachowka-Staudamms auch nicht", sagt etwa die junge Kiewerin Anastassija, die in der IT-Branche arbeitet. "Ich verfalle nicht in Panik, doch ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich gar keine Angst habe." Ähnlich äußerst sich Denys, Manager eines Restaurants im Kiewer Podil: "Wir müssen immer mit dem Allerschlimmsten rechnen, denn den Russen sind die Folgen egal. Sollten wir Richtung der Stadt Enerhodar erfolgreich vorstoßen, wo das AKW liegt, würden sie das Ding ohne allzu langes Überlegen sprengen, da bin ich mir sicher."

Quelle: ntv.de

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