Politik

Studentin über Proteste im Iran "Wir kämpfen weiter für alle, die ermordet wurden"

Eine Demonstrantin in Teheran. Mahsa erlebt bei den Protesten viel Siegeswillen und Solidarität, aber auch den Terror des Regimes.

Eine Demonstrantin in Teheran. Mahsa erlebt bei den Protesten viel Siegeswillen und Solidarität, aber auch den Terror des Regimes.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Die Proteste im Iran gehen auch über 50 Tage nach dem Tod Mahsa Aminis ungebrochen weiter. Die Demonstranten leben in ständiger Gefahr, sagt eine Kunststudentin aus Teheran ntv.de. Ihren Namen zu nennen, wäre zu gefährlich. "Ich möchte, dass ihr meinen Namen in Mahsa ändert. Denn wir sind alle Mahsa", sagt sie. Im Interview spricht die 24-Jährige über die Organisation der Proteste, die Brutalität der Einsatzkräfte und darüber, warum sie trotzdem nicht aufgibt.

ntv.de: Mahsa, wir kommunizieren via Telegram. Wie stabil ist Ihre Internetverbindung?

Mahsa: Das Regime hat das Internet im ganzen Land gedrosselt. Die Beschränkungen zu umgehen, ist kompliziert. Man muss viele verschiedene VPNs ausprobieren, bis eine Verbindung funktioniert. Manchmal ist es sogar unmöglich, online zu gehen. Dann blockieren sie das gesamte Internet der Stadt oder in einzelnen Stadtteilen, in denen Proteste aufkeimen. Aber es gibt viele Unterstützer innerhalb und außerhalb des Irans, die helfen, Internetzugang bereitzustellen, indem sie Server und VPN-Accounts für uns kaufen. Sie bringen anderen bei, wie man diese benutzt. Das ist sehr hilfreich.

Sie leben in Teheran, der Hauptstadt des Irans. Wie ist die Stimmung vor Ort?

Wenn ich durch die Stadt laufe, sehe ich überall die Zeichen der Revolution. Slogans stehen an den Wänden, sind auf Flugblätter und Aufkleber gedruckt. Die Bushaltestellen oder U-Bahnen sind voll davon. Das Regime hat extra Arbeiter angestellt, die die Slogans entfernen oder überstreichen sollen. Die Menschen in der Stadt haben jedoch viele kreative Wege entwickelt, um ihre Kritik am Regime auszudrücken. Ein Mittel ist die rote Farbe. Sie hinterlassen damit Handabdrücke an den Fassaden, färben das Wasser in den Springbrunnen der Parks, bemalen Statuen - als Symbol für das Blut der unschuldigen Demonstranten, die vom Regime ermordet wurden und werden. Man kann die berühmten Revolutionslieder überall in den Straßen hören. Die Leute spielen sie lautstark aus ihren Häusern und Autos heraus.

Frauen leisten zivilen Ungehorsam, indem sie keinen Hijab tragen. Sie tragen ihr Kopftuch wie einen Schal um die Schultern und zeigen ihr Haar, manche brechen auch ganz mit der Kleiderordnung. Viele Passanten danken den Frauen für ihren Kampf, überreichen ihnen Blumen, schreiben kurze Danksagungen auf einen Zettel oder lächeln sie einfach nur an. Das ist sehr herzerwärmend.

Wie reagieren die Behörden darauf?

Ich habe die Sittenpolizei in letzter Zeit nicht so oft gesehen. Aber wenn man keinen Hijab trägt und an der Polizei vorbeifährt, kann es sein, dass sie die Windschutzscheibe deines Autos einschlagen oder die Nummernschilder abmontieren. Wenn du zu Fuß an ihnen vorbeiläufst, greifen sie dich an, schlagen dich oder nehmen dich fest. Doch trotz der Risiken fahren und laufen sehr viele Frauen ohne Hijab durch die Stadt.

Die Sittenpolizei ist berüchtigt für ihre Brutalität gegenüber Frauen. Welche Erfahrungen haben Sie mit ihr gemacht?

Ich habe viele schreckliche Szenen erlebt, die ich versuche, zu vergessen. Vor fünf Jahren wurde ich von der Sittenpolizei verhaftet, weil ich meine Haare gefärbt hatte. Da war ich auf dem Weg in die Universität. Sie waren sehr brutal und behandelten mich wie eine Serienmörderin. Sie griffen mich nicht körperlich an, aber sie versuchten alles, um mich zu erniedrigen und mir psychisches Leid zuzufügen. Sie zogen mich in einen Van und ich bekam eine Panikattacke. Umstehende Mädchen versuchten, mir zu helfen, doch das interessierte die Sittenpolizei nicht.

Hat die Bedrohung durch die Sittenpolizei auch Ihr Leben als Kind geprägt?

Als ich elf Jahre alt war, ging ich mit meinen Freundinnen und ihren Müttern Mittagessen. Wir wollten den Beginn der Sommerferien feiern. Eine Freundin von mir trug weiße Kleidung, unter der ihr T-Shirt und ihr Körper durchschimmerte. Die Sittenpolizei zwängte sie ins Auto und nahm sie mit. Ihre Mutter war völlig verängstigt. Nachdem wir herausgefunden hatten, in welche Polizeistation sie gebracht wurde, gaben wir ihr neue Klamotten und die Sittenpolizei ließ sie frei. Aber meine Freundin stand so unter Schock, dass sie tagelang nicht sprechen konnte. Auch sie war elf Jahre alt. Wir alle sind durch solche Erlebnisse traumatisiert. Ich habe Flashbacks und Albträume. Die Dinge, die mir widerfahren sind, können allen von uns passieren.

Wie hat sich Ihr Leben seit dem Beginn der Proteste verändert?

Unser alltägliches Leben, wie es vorher war, ist vorbei. Du weißt nicht, was in der nächsten Stunde, in der nächsten Minute passiert. Es ist wie ein Film. Du gehst raus, um Lebensmittel zu kaufen oder zu tanken, und in der nächsten Szene bist du vielleicht inmitten eines Straßenkampfes, rennst weg vor der Polizei und ihren Kugeln, um dein Leben.

Wie erfahren die Menschen von den Demonstrationen?

Viele von uns wissen gar nicht, wo und wann eine Demonstration stattfindet. Es sollen keine Informationen durchsickern, weil das Regime sonst vorbereitet ist und die Kräfte an einem bestimmten Ort bündeln kann. Es ist so: Wir kochen, wir putzen, wir arbeiten, treiben Sport, studieren. Und manchmal schmeißen wir das alles über Bord, gehen nicht zur Arbeit und schließen uns einem Protest an. Es kann jederzeit und überall losgehen.

Wie haben sich die Proteste in den vergangenen Wochen entwickelt?

Als die Proteste anfingen, waren sie auf bestimmte Orte in der Stadt beschränkt. Nach einigen Tagen änderten wir unsere Taktik. Wir begannen, in unseren Nachbarschaften zu demonstrieren. Denn in einer großen Stadt wie Teheran kann die Revolutionsgarde [Anm. d. Red.: Teil der iranischen Armee] nicht alle Gegenden überwachen. Im eigenen Viertel kennen sich die Demonstranten aus, wissen, wo sie sich verstecken können, wohin sie flüchten können. Der Protest breitete sich über die ganze Stadt aus.

Sind von Beginn an so viele mitgelaufen wie jetzt?

Am Anfang dieser Revolution haben viele Menschen noch gezögert, zu protestieren. Sie hatten Angst, dass alles in einem großen, sinnlosen Massaker endet, wie es bisher immer der Fall war. Doch Tag für Tag schlossen sich mehr Menschen und Gruppen an. Erst waren es die Studenten, dann die Arbeiter, die anfingen zu streiken. Wir bekommen auch Unterstützung von oppositionellen Prominenten, manchen Politikern und Iranern, die außerhalb des Landes leben. Das gab uns die nötige Hoffnung und Courage für den Kampf. Doch es gibt Hochs und Tiefs. Das Regime versucht, uns mental auszulaugen und unsere Solidarität zu brechen. Der Staat verbreitet Fake News, verhaftet und tötet Studenten, wie an dem Tag, als die Sharif-Universität angriffen wurde.

Sie sind selbst Studentin. Finden derzeit überhaupt noch Vorlesungen statt?

In den Universitäten nehmen viele Studenten nicht mehr an den Kursen teil. Selbst manche Professoren streiken. Wir haben aber auch Lehrer, die das Regime unterstützen. Die führen ihren Unterricht in leeren Klassen fort und bedrohen oppositionelle Studenten. Die Studierenden gehen in die Universität, um gemeinsam zu protestieren. Selbst nach mehr als 50 Tagen streiken und demonstrieren sie noch jeden Tag. Dabei kommt es immer wieder in Universitäten im ganzen Land zu Angriffen durch das Regime. Die Revolutionsgarde hat viele Studierende festgenommen, sie aus ihren Wohnheimen und Häusern entführt. Trotzdem wird weitergemacht. Die Studenten brechen die dummen Regeln, die ihnen auferlegt werden. Etwa, dass Männer und Frauen in getrennten Räumen essen müssen. Mit bloßen Fäusten kämpfen sie gegen regimetreue Studenten und Zivilpolizisten.

Auch an Ihrer Universität?

In meiner Universität sind die Dinge etwas anders. Die Studenten nutzen ihre Kreativität und Kunst. Sie entwickeln Performances. Wir singen bekannte Revolutionslieder, errichten Skulpturen und malen Bilder – symbolische Akte. Viele Studenten wurden suspendiert oder ihnen wird der Zugang zum Universitätsgebäude verwehrt. Der Druck ist groß.

Gehen Sie zu den Protesten?

Ich war auf vielen Demonstrationen und habe Dinge erlebt, die ich nie vergessen werde: Enthusiasmus, Hoffnung und Siegeswillen, aber auch Terror. Ich musste um mein Leben rennen und mich vor der Polizei verstecken. Es ist eine enorme psychische Belastung. Während eines Protestes wurden ich und meine Mutter fast erschossen, aber ein Mädchen hielt mit dem Auto an und nahm uns mit. Nur so entkamen wir den Kugeln. In solchen Momenten friert alles ein. Man ist zwar mitten in einem Protest, aber alles läuft in Zeitlupe an einem vorbei.

Gibt es eine Situation, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja, es war der 40. Tag der Proteste, 40 Tage nach Mahsa Aminis Tod. Wir versammelten uns in einem Wohngebiet im Westen Teherans. Menschen aus allen Wohnblöcken schlossen sich uns an. Wir entzündeten ein Feuer, tanzten darum herum und riefen "Freiheit". In dieser Nacht rannten wir nicht davon, als die Polizei kam. Wir griffen sie an, bevor sie uns angreifen konnten. Wir waren unbesiegbar. Nach stundenlangen Kämpfen versteckten wir uns in umliegenden Wohnungen. Menschen öffneten die Türen und gaben uns Zuflucht. Diese Fremden halfen uns mit ihrem ganzen Herzen und passten auf uns auf.

Machen Sie trotz der Lebensgefahr weiter?

Es ist die Solidarität, die mich ermutigt, weiterzumachen. Ich fühle mich zum ersten Mal mit diesem Land und seinen Menschen verbunden. Ich hatte eigentlich schon beschlossen, den Iran zu verlassen, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Ich erlebe erstmals so etwas wie Patriotismus. Ich möchte hier bleiben und mein Land und meine Leute in Freiheit sehen. Ich will für die Menschenrechte kämpfen, die ich mein ganzes Leben lang nie hatte.

Wie glauben Sie, werden die Proteste weitergehen?

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Die unzähligen Frauen ohne Hijab haben das Regime überrumpelt. Es hat keine Kontrolle mehr. Menschen protestieren auf vielen verschiedenen Wegen. Jetzt können wir nicht mehr zurück. Das ist kein einfacher Protest mehr, das ist eine Revolution. Die Mullahs sollen raus aus der Justiz und aus der Regierung. Wir wollen Demokratie, Frieden und Menschenrechte. Wir kämpfen weiter, für unsere Brüder und Schwestern, die ermordet wurden, in Gefangenschaft sind und gefoltert werden. Für alle Dinge, die wir opfern mussten. Ich weiß nicht, was es noch kosten wird, aber ich bin sicher: Wir werden gewinnen. Ich hoffe, ich werde noch am Leben sein, um den Tag zu erleben, an dem wir endlich frei sind. Frauen, Leben, Freiheit.

Mit Mahsa sprach Marc Dimpfel

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