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Ukraine im Abwehrkampf "Wir sind in einer Situation der mobilen Verteidigung"

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"Heute ist der Bedarf der Streitkräfte nicht zu 100 Prozent gedeckt, aber die Situation ist viel besser als in der ersten Hälfte des Jahres 2024", so Mykola Bielieskov.

"Heute ist der Bedarf der Streitkräfte nicht zu 100 Prozent gedeckt, aber die Situation ist viel besser als in der ersten Hälfte des Jahres 2024", so Mykola Bielieskov.

(Foto: IMAGO/ABACAPRESS)

Die Lage an der ukrainischen Front bleibt angespannt. Die Ukraine verteidigt sich jedoch weiterhin, allerdings auf andere Art und Weise, sagt der ukrainische Militärexperte Mykola Bielieskov im Interview mit ntv.de. "Statt auf statische Verteidigung setzten wir nun auf mobile Taktiken." Eine Gegenoffensive ist jedoch kaum zu erwarten.

ntv.de: Nach Einschätzung westlicher Beobachter verteidigt die Ukraine ihr Territorium nicht mehr, sondern verzögert nur noch die Eroberungen der russischen Truppen. Kann sich diese Situation in diesem Jahr noch verändern?

Mykola Bielieskov: Das halte ich für eine falsche Einschätzung. Es gibt zwei Hauptarten der Verteidigung: die statische und die mobile Verteidigung. Die Ukraine hat ihren Ansatz geändert. Vom Herbst 2022 bis Anfang 2024 haben wir uns statisch verteidigt, was bedeutet, dass jeder Meter des eigenen Territoriums verteidigt wurde. Wir haben versucht, den Feind zu besiegen und ihm nicht zu erlauben, vorzurücken.

Jetzt befinden sich die ukrainischen Truppen in einer Situation der mobilen Verteidigung. Das heißt, dass sie sich kämpfend zurückziehen. Das erinnert an den ersten Monat der groß angelegten Invasion.

Der ukrainische Militärexperte Mykola Bielieskov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalen Institut für Strategische Studien der Ukraine (NISS UA).

Der ukrainische Militärexperte Mykola Bielieskov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Nationalen Institut für Strategische Studien der Ukraine (NISS UA).

(Foto: privat)

Also doch nur die Verzögerung des russischen Vorrückens?

Nein. Die Aufgabe dieser Art der Verteidigung besteht im Gegensatz zur statischen Verteidigung gerade darin, den Feind zu erschöpfen. Man gewinnt Zeit und zwingt den Gegner zu Verlusten, bezahlt dafür aber oft mit den eigenen Territorien. Deshalb verteidigt die Ukraine ihre Gebiete weiterhin, aber auf eine andere Weise als in der Vergangenheit.

Besteht die Perspektive einer neuen ukrainischen Gegenoffensive in diesem Jahr?

Kaum. Unsere Aufgabe ist es, die bisherige militärische Strategie der mobilen Verteidigung weiter umzusetzen und zu hoffen, dass Russland sein Offensivpotenzial verliert und sich die Frontlinie stabilisiert.

Was bedeutet es, die Frontlinie zu stabilisieren?

Es bedeutet, Bedingungen zu schaffen, die dem Feind so viel Schaden zufügen, dass er kein Offensivpotenzial mehr hat, damit sich die Frontlinie nicht mehr bewegt. Bisher ist es uns leider nicht gelungen, dies umzusetzen, weil der Feind immer noch versucht, vorzurücken. Aber im Januar haben die Russen weniger Territorium besetzt als im Oktober, November oder sogar Dezember.

Was sind die möglichen Folgen eines Verlusts der Kontrolle über Pokrowsk für die Ukraine in strategischer Hinsicht?

Es besteht die Gefahr, dass Pokrowsk logistisch abgeschnitten wird. Dann wird es schwieriger, die Stadt zu halten, und wir müssten uns zurückziehen. Es wird nicht den radikalen Durchbruch geben, den einige dort erwarten und der es den Russen ermöglichen würde, die Situation entlang der gesamten Frontlinie schnell zu ihren Gunsten zu verändern. Aber psychologisch würde die Eroberung von Pokrowsk den Russen in die Hände spielen, da viele den lokalen Erfolg als "strategisch" werten würden. Die Stimmung innerhalb und außerhalb des Landes würde es verschlechtern.

Welche Rolle spielt das Vorgehen der ukrainischen Armee in der russischen Region Kursk und kann sie gehalten werden?

Die Kämpfe in Richtung Kursk unterscheiden sich nicht wesentlich von den anderen. Es handelt sich um ein weiteres Gebiet, in dem die Verteidigungskräfte weiterhin, genau wie in anderen Gebieten, eine aktive Verteidigung durchführen, Schaden anrichten und versuchen, diesen Vorsprung zu halten. Diese Region ist politisch wichtig für die Verhandlungen mit der Russischen Föderation. Russland betrachtet sich selbst als Großmacht, die ihre Gebiete nicht verliert, daher hat die Rückeroberung von Kursk für Moskau Priorität, und sie verlegen erhebliche Kräfte dorthin. Es ist schwer vorherzusagen, wie lange wir es halten können.

Vor welchen Herausforderungen stehen die ukrainischen Streitkräfte heute?

Wir haben eine paradoxe Situation. Zu Beginn der groß angelegten Invasion gab es viel Enthusiasmus unter den Menschen, die leider sehr oft schlecht bewaffnet kämpften. Heute ist der Bedarf der Streitkräfte nicht zu 100 Prozent gedeckt, aber die Situation ist viel besser als in der ersten Hälfte des Jahres 2024. Gleichzeitig sind weniger Leute bereit, in die Streitkräfte einzutreten.

Kann die Mobilisierung im Ausland die Situation verbessern?

Das Hauptproblem ist, dass es einen Wertekonflikt gibt. Diese Menschen haben einen Flüchtlingsstatus. Flüchtlinge müssen geschützt werden. Es gibt Menschenrechte und Sicherheit. Das Wertesystem, auf dem Europa aufgebaut ist, steht in einem gewissen Widerspruch zu den Erfordernissen von Krieg. Aber die europäischen Länder könnten Bedingungen schaffen, die Ukrainer im Ausland überzeugen könnten, sich den Streitkräften anzuschließen.

Die Ukraine ist nach wie vor in hohem Maße von ihren Partnern abhängig. Welchen Bedarf hat das Militär?

Es geht nicht nur um Luft- und Raketenabwehr, sondern auch um Schützenpanzer, um die Infanterie professionell zu halten. Darüber hinaus wird die Frontlinie von Drohnen gehalten. Deshalb lautet die allgemeine Forderung, eine angemessene Anzahl von Drohnen bereitzustellen, die Angriffs-, Aufklärungs- und Luftabwehrfunktionen übernehmen. Der Großteil der Schäden wird durch unbemannte Flugzeuge der FPV-Klasse verursacht, also First-Person-View-Drohnen, die mit Kameras ausgestattet sind. Es könnte auch mehr Antipersonenminen und ferngesteuerte Minenkapazitäten geben, um russische Infanterieangriffe zu verlangsamen.

Kann Europa diesen Bedarf decken?

Nein, das können nur die Vereinigten Staaten und ihre Verteidigungsindustrie. Die ukrainische Verteidigungsindustrie produziert eine bestimmte Reihe von Munition, verschiedene Arten von Drohnen und teilweise Raketen. Aber das reicht nicht aus, auch nicht mit der Finanzierung durch unsere europäischen Partner. Nicht umsonst hat NATO-Generalsekretär Mark Rutte kürzlich gesagt, dass die NATO ohne die Vereinigten Staaten von Amerika nicht funktionieren kann. Das gilt auch für die Ukraine.

Inwieweit ist die Ukraine angesichts ihrer Kräfte und Ressourcen in der Lage, die Frontlinie zu halten?

Wenn wir uns auf das stützen, was wir bereits von unseren Partnern erhalten haben, und auf unsere eigene Produktion, hängt es vom Grad der Nutzung ab. Wir könnten vielleicht sechs Monate, vielleicht ein Jahr lang Aufgaben aus eigener Kraft erfüllen, aber wir müssten sparen.

Mit Mykola Bielieskov sprach Maryna Bratchyk

Quelle: ntv.de

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