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Zehn Jahre Krim-Annexion Dies ist der Ort, an dem der Krieg begann

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Dass die Ukraine von "Nazis" beherrscht wird, behauptete die russische Propaganda schon vor zehn Jahren.

Dass die Ukraine von "Nazis" beherrscht wird, behauptete die russische Propaganda schon vor zehn Jahren.

(Foto: picture alliance / dpa)

Vor zehn Jahren inszenierte der Kreml auf der ukrainischen Krim ein Referendum, zwei Tage später annektierte Russland die Halbinsel. Unser Autor lebte damals auf der Krim. Er erinnert sich.

Am 15. März 2014 habe ich mit zwei Freunden im Zentrum von Sewastopol meinen 21. Geburtstag gefeiert - in der Stadt, in der ich nach dem Zerfall der Sowjetunion auch zur Welt gekommen bin. Doch von echter Feierstimmung konnte mitten im Prozess der russischen Krim-Annexion, einen Tag vor dem sogenannten Referendum, keine Rede sein. Damals wusste ich noch gar nicht, wer ich eigentlich bin.

Als ich geboren wurde, war die Ukraine bereits unabhängig. Ich war oft in Kiew und anderswo im Land unterwegs und fühlte mich mit der Ukraine verbunden. Gleichzeitig war Sewastopol, 1783 nach der ursprünglichen Annexion des Krim-Khanats durch das Russische Reich gewissermaßen direkt als Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte gegründet, eine Stadt, in der kein Mensch Ukrainisch sprach. Dafür kannte jeder den Text der Stadthymne auswendig, in der Sewastopol der "Stolz der russischen Matrosen" genannt wird. Mit der Wirklichkeit hat dieser militärische Mythos wenig bis nichts zu tun. Die legendären Verteidigungen von Sewastopol, im russisch-osmanischen Krimkrieg des 19. Jahrhunderts sowie im Zweiten Weltkrieg, waren im Kern krachende Niederlagen der Russen.

Wenn man in den Nullerjahren in einer Stadt wie Sewastopol aufwuchs, wusste man nicht so richtig, wen man beim Fußball anfeuern soll - die Ukraine oder Russland. Irgendwie war es beides, auch für mich. Bis zum März 2014. Ich schaute auf große Propagandaplakate zum "Referendum", bei dem man übrigens gar nicht für den Erhalt des damaligen Status quo abstimmen konnte, und konnte nur staunen. Denn eine angeblich wählbare ukrainische Zukunft der Halbinsel wurde auf den Plakaten mit einem Hakenkreuz illustriert. Was soll das denn sein, wie sind wir in diesem Wahnsinn gelandet, wer sollte so etwas glauben? Recht viele Menschen, wie sich herausstellte. Drei Tage später, in einer seiner seltenen starken Reden, erklärte Wladimir Putin die Krim für russisch. Noch 2003 hatte er höchstpersönlich die Grenzen der Ukraine anerkannt, als er zusammen mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma den russisch-ukrainischen Grenzvertrag unterschrieb.

Irgendwann wurde es zu gefährlich

Es war das Gefühl, dass das, was dort passierte, zutiefst ungerecht war, das für mein weiteres Leben ausschlaggebend wurde. Eine Woche nach meinem Abschluss an der Universität ging ich 2015 nach Kiew. Noch eine Weile fuhr ich regelmäßig auf die Krim, auch, um mir vor Ort ein Bild zu machen. Irgendwann Mitte 2017 wurde das zu gefährlich. Die Kontrollen an der sogenannten Grenze wurden länger, das Interesse an einem ukrainischen, von der Krim stammenden Journalisten, der überwiegend für deutschsprachige Medien berichtete, wurde größer.

Mittlerweile ist der Krieg längst wieder dort angekommen, wo er ursprünglich begann. Übrigens war einer der beiden Freunde, mit denen ich 2014 Geburtstag feierte, Sohn eines hochrangigen Offiziers der russischen Schwarzmeerflotte. Er sah die Annexion mit einer gewissen Skepsis, sein Vater auch - wie eigentlich viele bei der Flotte, aus unterschiedlichen Gründen. Es war einerseits unangenehm, gegen die Kollegen von der ukrainischen Schwarzmeerflotte vorgehen zu müssen, mit denen man privat doch befreundet war. Andererseits wollte man auch nicht auf zusätzliche Zahlungen für den Auslandseinsatz verzichten. Letztlich wurde aber der Befehl des Präsidenten ausgeführt. Intuitiv war mir damals schon klar, dass die Konsequenzen die Flotte irgendwann einholen würden. Was ich mir aber nicht vorstellen konnte: dass letztlich ukrainische Seedrohnen so gut wie alle zwei Wochen ein russisches Schiff versenken würden. Rund ein Fünftel der Schwarzmeerflotte, deren Truppen bei der Annexion die führende Rolle spielten, existiert nicht mehr.

Ich verstehe die Reaktion des Westens bis heute nicht

Es gab vor allem zwei Faktoren, die mich im März 2014 verzweifeln ließen. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, wie mächtig Propaganda sein kann. Denn eigentlich war das Thema der russischen Krim 2013 längst weg von der Tagesordnung. Es gab zwar gerade in Sewastopol noch durchaus ein paar Ältere, die eine "Wiedervereinigung" laut befürworteten. Das waren aber eher Außenseiter. Die Menschen meiner Generation schauten gespannt auf das Assoziierungsabkommen mit der EU, vor allem auf die Perspektive der Visafreiheit. Vorfreude und Neugier lagen in der Luft - bis Mitte 2013 die russische Propagandamaschine voll eingeschaltet wurde. Natürlich wurden auf der Krim russische Medien stark konsumiert. Und sie konnten viele der Menschen, die noch vor wenigen Monaten eine andere Meinung hatten, davon überzeugen, dass die angeblichen Kiewer Nazis vom Maidan bald auf die Krim kommen würden, um die Menschen umzuerziehen.

Der andere Faktor meiner Verzweiflung hatte weder mit der Ukraine noch mit Russland zu tun. Die internationale Reaktion konnte ich damals nicht verstehen, und ich verstehe sie bis heute nicht. Man kann doch nicht die erste Annexion in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg lediglich mit ein paar Dutzend Personalsanktionen bestrafen - und danach noch grünes Licht für Projekte wie Nord Stream 2 geben. Die Geschichte kennt bekanntlich keinen Konjunktiv. Aber hätte der Westen in den ersten Tagen der Krim-Annexion zumindest mit einem Bruchteil der Sanktionen gedroht, die es heute gibt, wäre etwa der Gashandel mit Russland ernsthaft infrage gestellt worden, dann wären wir heute vielleicht in einer anderen, friedlicheren Welt. Nein, auch ich habe diesen großen Krieg, den Russland seit dem 24. Februar 2022 führt, so nicht kommen sehen. Ich kann mich aber gut daran erinnern, wie erstaunt ein deutscher Radiomoderator im März 2014 war, als ich davon sprach, auf der Krim sei die Büchse der Pandora geöffnet worden, und damit die Gefahr eines dritten Weltkriegs meinte. Für ihn ging es nur um irgendeine Halbinsel weit weg von seinem Köln. Ich hätte mit meiner Mahnung sehr gerne Unrecht behalten.

Wie in Kiew in den Wochen vor der Vollinvasion

Im März 2024 sind wir alle dort, wo wir leider sind. Meine recht unpolitischen Eltern auf der Krim machen sich riesige Sorgen um mich in Kiew. Ich weiß nicht, um wen man sich mehr Sorgen machen muss. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich mich über jeden ukrainischen Schlag gegen die Infrastruktur der Schwarzmeerflotte sehr freue, wie auch immer dies klingen mag. Denn am Krieg ist nichts gut oder wirklich erfreulich. Trotzdem weiß man niemals, wohin die Trümmer eines Marschflugkörpers letztlich fallen und wen es am Ende treffen könnte. Der Kontakt zu alten Bekannten, den ich trotz allem in einigen Fällen zu pflegen versuche, ist kompliziert geworden. Teilweise haben sie Freunde oder Verwandte, die auf der russischen Seite in diesem Krieg gefallen sind. Zu besprechen gibt es nichts. Ich verspüre kein Mitgefühl.

Doch einiges an der Lage vor Ort ist auch von Kiew aus klar. Bis Februar 2022 haben viele Menschen auf der Krim ganz locker weitergelebt. Die starken politischen Repressionen gegen Krimtataren oder proukrainische Aktivisten ließen sich problemlos ignorieren, da sie mit der regulären Bevölkerung nichts zu tun hatten. Dass westliche Firmen und Finanzinstitute gingen, war ein Problem für jüngere Menschen, hat für die Mehrheit aber keinen großen Unterschied gemacht. Jetzt sind Luftalarme, Drohnen und Marschflugkörper auch auf der Krim zum Alltag geworden. Man versucht noch, so weiterzuleben, als ob alles normal wäre. Wenn mir Bekannte davon erzählten, kenne ich dieses Gefühl von den letzten Wochen vor der Vollinvasion hier in Kiew. Man weiß, dass es brennen könnte, versucht aber, es so lange wie möglich zu ignorieren.

Ich weiß nicht, was in den nächsten Jahren rund um die Krim passiert. Eindeutig ist aber eines: Es wird nicht ruhig bleiben. Das sind die Konsequenzen, die nun auch Menschen tragen mussten, die sich im März 2014 über die Annexion freuten. Ich mache sie nicht dafür verantwortlich. Auch ohne ihre Unterstützung hätte Putin gegen eine schwache, kriselnde Ukraine sein Ding durchgezogen. Die Krim-Bewohner und ihre Einstellungen waren lediglich die Kulisse, auf die man auch hätte verzichten können. Der Westen aber trägt große Mitverantwortung für das, was wir heute erleben müssen - und darf jetzt keinesfalls die Fehler machen, die 2014 schon gemacht wurden. Sonst könnte es irgendwann auch westlich von Kiew brennen.

Quelle: ntv.de

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