Experte über Wahlrechtsreform "Zwei Parteien hätten nach derzeitigem Stand deutliche Nachteile"
17.03.2023, 07:03 Uhr
Alle Wähler sollen mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Ob das mit der Wahlrechtsreform gegeben ist, wird das Bundesverfassungsgericht entscheiden müssen.
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Heute entscheidet der Bundestag über eine Reform des Wahlrechts. Der Trierer Politologe Uwe Jun kann den Ärger der Opposition darüber verstehen: Vor allem zwei Parteien hätten dadurch deutliche Nachteile, sagt er im Interview mit ntv.de. "Deshalb ist klar, dass Linke und CSU sich mit allen Mitteln gegen dieses Vorhaben wehren, weil damit die parlamentarische Existenz dieser Parteien bedroht sein könnte." Allerdings schließt Jun sich der Kritik von CSU und Linken nicht an: Die von der Ampel geplante Reform sei "nur eine konsequente Fortentwicklung des Verhältniswahlrechts", sagt er.
ntv.de: Was halten Sie generell von der Idee, dass Kandidaten, die einen Wahlkreis mit der Erststimme gewonnen haben, nicht mehr automatisch in den Bundestag einziehen, sondern nur dann, wenn die Partei mit der Zweitstimme entsprechend viele Sitze erobert hat?
Uwe Jun: Das ist den Wählerinnen und Wählern sicher nicht ganz einfach zu vermitteln. Zudem wirft es mit Blick auf den Gleichheitsgrundsatz auch Probleme auf. Denn nicht wenige Wählerstimmen werden dann bei der Mandatsverteilung nicht berücksichtigt, ohne dass die Wähler dies gut einschätzen können.
Nach einer Berechnung von Election.de für den "Tagesspiegel" wären bei der Bundestagswahl 27 Direktmandate nicht vergeben worden, wenn damals das von der Ampel geplante Wahlrecht schon gegolten hätte.
Bei 299 Wahlkreisen wären 27 nicht vergebene Direktmandate zwar Ausnahmefälle, und nach dieser Berechnung wären auch nur fünf Wahlkreise komplett ohne Vertretung im Bundestag gewesen. Aber trotzdem wird es unbefriedigend sein, wenn ein Wahlkreis überhaupt nicht im Bundestag repräsentiert ist, weil niemand aus dem Wahlkreis über die Landesliste ins Parlament einzieht. Um dies unwahrscheinlicher zu machen, hat die Ampel die Zahl der Bundestagsabgeordneten in ihrem Gesetzentwurf auf 630 erhöht - vorher hatte sie 598 Mitglieder vorgesehen.
Sind 630 Abgeordnete nicht immer noch sehr viel?
Mit 630 Abgeordneten wäre der Bundestag immer noch ein sehr großes Parlament, eines der größten in Europa. Aber wenn der Bundestag nicht weiter wachsen würde, wären 630 gerade noch verkraftbar.
Die Ampel will im Zuge der Reform die sogenannte Grundmandatsklausel abschaffen - also die Regelung, nach der eine Partei auch dann in den Bundestag kommt, wenn sie weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen erreicht, aber mindestens drei Direktmandate gewonnen hat. SPD-Fraktionschef Mützenich sagt, die Grundmandatsklausel stelle "einen Systembruch dar, da sie den falschen Eindruck einer Personenwahl vermittelt, obwohl die Bundestagswahl eine Verhältniswahl ist". Ist das ein nachvollziehbares Argument?
Es stimmt, dass es durch die Erststimme zu Verzerrungen eines reinen Verhältniswahlsystems kommen kann. Die Ampelkoalition will mit ihrem Vorschlag das personalisierte Element der Wahl schwächen. Da nicht jeder gewählte Kandidat sicher sein kann, ob er das Mandat erhält, wäre die Grundmandatsklausel ein systemfremdes Element, das nach Ansicht einiger nicht kohärent in den Vorschlag gepasst hätte, der ja eine eindeutige Stärkung der Zweitstimme vorsieht.
Haben wir eigentlich ein Mehrheits- oder ein Verhältniswahlrecht in Deutschland?
Das deutsche Wahlrecht war immer schon ein Verhältniswahlrecht, das einzelne mehrheitsbildende Elemente beinhaltete, darunter insbesondere die Fünfprozentklausel. Diese soll es ja auch nach wie vor geben. Durch die Einführung der Ausgleichsmandate in Folge der Überhangmandate seit 2017 wurde nochmals klargestellt, dass das Wahlrecht der Verhältniswahl eindeutig den Vorrang gibt. Insofern ist die von der Ampel geplante Reform nur eine konsequente Fortentwicklung des Verhältniswahlrechts.
Ohne Grundmandatsklausel würde die Linkspartei heute nicht im Bundestag sitzen, auch die CSU wäre gefährdet, wenn ihre Wahlergebnisse bei Bundestagswahlen künftig etwas schlechter ausfallen. Ist das nicht ein ziemlich radikaler Bruch, den der Ampel-Plan da vorsieht?
Es ist eine systemische Frage. In der Tat hätten insbesondere zwei Parteien nach derzeitigem Stand deutliche Nachteile. Deshalb ist klar, dass Linke und CSU sich mit allen Mitteln gegen dieses Vorhaben wehren, weil damit die parlamentarische Existenz dieser Parteien bedroht sein könnte.
Glauben Sie, dass Verfassungsklagen gegen die Wahlrechtsreform der Ampel Aussicht auf Erfolg hätten?
Das lässt sich schwer sagen. Eine Klage würde vermutlich einerseits über den Grundsatz der Stimmengleichheit gehen, den das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen immer sehr hoch gewichtet hat: Alle Wähler sollen mit ihrer Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Anderseits ist der Aspekt der Chancengleichheit der Parteien zu betrachten. Auch müsste geklärt werden, ob es allen Kandidaten, die keine Zweitstimmendeckung haben, verwehrt werden sollte, in den Bundestag einzuziehen. Das beträfe ja auch parteiunabhängige Kandidaten. Inwieweit das Verfassungsgericht diese verschiedenen Grundsätze durch die Wahlrechtsreform gefährdet sieht, muss man abwarten. Die juristischen Berater der Ampelparteien scheinen zuversichtlich, dass die Pläne der Koalition verfassungskonform sind. Andere sehen die Grundsätze gefährdet. Das Bundesverfassungsgericht wird abwägen müssen, welche Argumente schlüssiger sind.
Halten Sie es denn für politisch klug, einen so gravierenden Eingriff gegen die Opposition vorzunehmen?
Es ist grundsätzlich besser, die Spielregeln des Wettbewerbs einvernehmlich zu beschließen. Die Ampelparteien nehmen für sich in Anspruch, die Wettbewerbsregeln nicht grundlegend zum Nachteil der parlamentarischen Opposition verändert zu haben. Die Reform schreibt jedenfalls konsequent fort, was ohnehin schon da war. Durch die Zahl von 630 Abgeordneten hat die Ampel zudem versucht, etwaigen Bedenken des Verfassungsgerichts, aber auch der Opposition entgegenzukommen. Das Missfallen der Opposition ist insofern verständlich, als nur sie mögliche Nachteile befürchten müssen, die Regierungsparteien dagegen nicht.
Man könnte auch so zuspitzen: Die CSU muss halt zusammen mit der CDU antreten und die Linke hat eben Pech gehabt, wenn sie unter fünf Prozent bleibt.
Die CSU will nun aber unabhängig bleiben. Die Einführung der Fünfprozentklausel entsprang übrigens seinerzeit der Überzeugung, dass eine Partei nur dann Anspruch auf politische Repräsentation im Parlament hat, wenn sie gesamtstaatlich ausreichend gesellschaftlich verankert ist, also bundesweit mindestens fünf Prozent der Wähler hinter sich weiß.
Sind eigentlich die Wünsche der Union zu erfüllen: eine Wahlrechtsreform, die den Bundestag verkleinert, die Erststimme unangetastet lässt und trotzdem den Wählerwunsch fair abbildet?
Wenn man beim jetzigen Wahlrecht bleiben will, könnte man die Zahl der Wahlkreise deutlich reduzieren. Möglich wäre es auch, die Verrechnungsebene der Mandatszuteilung zu verändern. Im Moment erfolgt die Zuteilung der Mandate über die Bundesländer als zentrale Verrechnungsebene, deshalb werden bei Bundestagswahlen mit der Zweitstimme nicht Bundeslisten gewählt, sondern Landeslisten. Aber zum Bundeswahlrecht würde es gut passen, als Verrechnungsebene den Anteil der Zweitstimmen auf Bundesebene zu nehmen, also Bundeslisten zu wählen. Das würde die Zahl der Überhangmandate vermutlich sehr deutlich begrenzen.
Entstehen denn keine Übergang- und Ausgleichsmandate, wenn die Bundesebene die Verrechnungsebene wäre?
Doch, das wäre denkbar, aber die Zahl wäre deutlich geringer. Eine Partei müsste beim jetzigen Wahlrecht schon im Vergleich zum bundesweiten Zweitstimmenanteil überragend viele Wahlkreismandate gewinnen, um in einem solchen Fall Überhangmandate zu generieren. Dass dies jedoch auftreten kann, zeigt das Beispiel einer Partei wie der CSU mit ihren regionalen Hochburgen.
Inwiefern?
Der genannte Fall trat ein: Sie hatte einen Zweitstimmenanteil von nur 5,2 Prozent bundesweit, gewann aber bis auf einen in München alle Wahlkreise in Bayern direkt, was dann ja auch Überhangmandate erzeugte. Der frühere Vorschlag der Union, ein Grabenwahlsystem einzuführen, also die Hälfte der Abgeordneten in Wahlkreisen direkt, die andere Hälfte nach Proporz, und zwar strikt getrennt, würde das Problem zwar lösen. Aber das ginge auf Kosten aller kleineren Parteien. Die Union selbst würde davon überproportional profitieren. Vor allem aber wäre das eine deutlich gravierendere Veränderung als die Vorschläge der Ampel-Koalition gewesen, weswegen sie ja schließlich die Idee fallen ließ.
Mit Uwe Jun sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de