Bartsch und Lindholz bei ntv.de "Einigermaßen irre": CSU und Linke bei Wahlreform einig
17.03.2023, 07:58 Uhr
Ganz so dunkel sind die Wolken heute Morgen nicht über dem Reichstag - doch es braut sich tatsächlich etwas zusammen. Die Ampel-Koalition will ein neues Wahlrecht beschließen, um den Bundestag zu verkleinern. Die Opposition, insbesondere CSU und Linke, sind empört.
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Wenn die Ampelkoalition an diesem Freitag ein neues Wahlrecht beschließt, müsste man es klirren hören - von all dem Porzellan, das sie damit bei Linken und CSU zerschlägt. Deren Vertreter, Fraktionschef Dietmar Bartsch und die stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Andrea Lindholz, zeigen sich bei ntv.de entsetzt bis empört über die Pläne - auch wenn sie das Ziel teilen, den Bundestag zu verkleinern.
ntv.de: Was haben Sie gedacht, als Sie von dem Gesetzentwurf der Ampel zur Verkleinerung des Bundestages erfahren haben?
Andrea Lindholz: Es war zu befürchten, dass die Ampel einen Gesetzentwurf vorlegen würde, nach dem ein Kandidat, der einen Wahlkreis gewinnt, nicht auf jeden Fall in den Bundestag einzieht. Schon das muss unbedingt nachjustiert werden. Aber dass es in der letzten Fassung auch keine Grundmandatsklausel mehr gibt, hat uns überrascht und entsetzt.
Die Grundmandatsklausel regelt bislang, dass eine Partei, die an der Fünfprozenthürde scheitert, trotzdem in den Bundestag einziehen kann, wenn sie mindestens drei Direktmandate holt.
Lindholz: Die Ampel will offensichtlich das Wahlrecht missbrauchen, um Teile der Opposition aus dem Bundestag fern zu halten und sich so künftige Mehrheiten zu sichern. Das hätte ich mir vorher nicht vorstellen können.
Da müssen Sie der CSU ausnahmsweise zustimmen, Herr Bartsch, oder?
Dietmar Bartsch: Dass eine Wahlrechtsreform in dieser Legislatur beschlossen werden soll, ist vernünftig. Es ist aber so, dass sich der Vorschlag der Ampel in den letzten drei Wochen extrem verändert hat. Zum Beispiel bei der Grundmandatsklausel, die wurde erst ganz zum Schluss gestrichen. Dazu ist es einigermaßen irre, dass jemand, der seinen Wahlkreis direkt gewinnt, nicht in den Bundestag einziehen soll. Das kritisiere ich völlig unabhängig von der Partei. Das leuchtet einfach nicht ein. Man muss zwei Dinge verbinden: Dass der Bundestag eine Regelgröße hat, aber dass die Wahlkreisgewinner immer vertreten sind. Es könnte ansonsten sein, dass nach knappen Wahlergebnissen niemand aus einem Wahlkreis im Bundestag ist. Das halte ich für undemokratisch.

CSU-Politikerin Andrea Lindholz ist stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag - und empört über das neue Wahlrecht.
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Lindholz: Für mich ist das ein Angriff auf die Demokratie. Stellen Sie sich einmal vor, die CSU würde 40 Direktmandate gewinnen, bliebe aber bundesweit unter der Fünf-Prozent-Hürde. Wegen des Wegfalls der Grundmandatsklausel wäre die CSU dann trotzdem nicht im Bundestag vertreten. Die Interessen der vielen Bürgerinnen und Bürger, die uns ihre Stimme gegeben haben, blieben trotz des starken Ergebnisses in Bayern alle außen vor. Das Ganze wird noch dadurch getoppt, dass ein unabhängiger Kandidat, der keine Partei im Rücken hat, in jedem Falle in den Bundestag einzieht. Das ist eine Ungleichbehandlung, die durch nichts gerechtfertigt ist. Dass kann nicht richtig sein. Außerdem galt bisher: Ein gewonnenes Direktmandat ist ein gewonnenes Mandat, unabhängig davon, wie die Partei dasteht. Dieser Grundsatz muss bestehen bleiben.
Da sagen die Befürworter, dass es kaum einen Wahlkreis geben wird, aus dem kein Politiker in den Bundestag einzieht, auch wenn es nicht immer der Wahlsieger ist.
Lindholz: Das Kappungsmodell der Ampel ermöglicht aber genau das. Und niemand kann vorhersagen, wie das Wählerverhalten in fünf oder zehn Jahren ist. Es darf keine Wahlkreise ohne Vertreter im Bundestag geben. So etwas muss ein Wahlrecht von vornherein ausschließen, denn das ist Gift für die Demokratie.
Wäre der Gesetzentwurf denn akzeptabler, wenn die Gewinner der Direktmandate einzögen, aber dann keine Fraktionsstärke bekämen? Für die Linke säßen dann jetzt genau drei Abgeordnete im Bundestag, statt jetzt 40.
Bartsch: Auch daran sieht man, dass dieser Entwurf viele Mängel hat. Man muss die CSU nicht mögen und ich bin immer dafür, die CSU für ihre Politik zu kritisieren. Die CSU will ihrerseits, dass die Linke nicht im Bundestag sitzt. Das ist falsch, aber legitim.
Lindholz: Es geht ja um die Inhalte.
Bartsch: Jetzt gestaltet die Ampel das Wahlrecht politisch, in diesem Fall gegen die CSU und die Linke. Man darf nicht über das Wahlrecht die Opposition und die politische Konkurrenz ausgrenzen. Das ist nicht legitim. Und zur Fraktionsstärke: Wir hatten bei der letzten Wahl viele kleine Parteien, die keine Chance hatten. Da wird dann immer erzählt: Na ja, damals bei den Nazis. Was für ein Unsinn!
Sie meinen die Fragmentierung im Reichstag mit vielen Kleinparteien während der Weimarer Republik.
Bartsch: Die Nazis sind doch nicht wegen der Kleinstparteien an die Macht gekommen! Da gab es andere Ursachen. Insofern sehe ich auch die Fünf-Prozent-Hürde kritisch. Es gab jedenfalls viele andere Vorschläge für eine Wahlrechtsreform. Bei diesem Entwurf bin ich sicher, dass das Bundesverfassungsgericht ihn kaum akzeptieren kann.
Lindholz: Dieses Ampel-Wahlrecht ist auch für die Bevölkerung kaum nachzuvollziehen. Allein wie viele Stimmen auf Bewerber entfallen würden, die am Ende überhaupt keine Berücksichtigung fänden! Man kann ja das Wahlrecht ändern. Aber es muss insgesamt gerecht und nachvollziehbar bleiben. Es ist ein Schaden für die Demokratie als Ganzes, wenn sich der Wählerwille in erheblichem Maße nicht mehr in den Personen widerspiegelt, die ins Parlament einziehen. Das ist unser Hauptkritikpunkt.
Aber irgendwas muss passieren. Wir haben 736 Abgeordnete, Tendenz steigend.
Lindholz: Wir haben in der letzten Legislaturperiode beschlossen, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 zu reduzieren. Jetzt kann man sagen: Das reicht noch nicht. Aber jetzt soll wieder auf 299 aufgestockt werden. Gleichzeitig weiß man, dass mit dieser Reform eigentlich ein Neuzuschnitt der Wahlkreise erforderlich wäre. Das wird in die Zukunft verschoben. Das ganze Vorgehen der Ampel beim Wahlrecht ist großer, demokratieschädigender Murks.
Bartsch: Das große Problem ist doch, dass auch ein Wahlkreisgewinner, der über 50 Prozent geholt hat, rausfallen kann. Das ist niemandem zu erklären.
Sie meinen, wenn die Partei insgesamt unter fünf Prozent landet und dann alle gewonnenen Direktmandate wegfallen?
Bartsch: Gregor Gysi war bei der Wahl 2021 dicht an 50 Prozent dran, und der wäre mit dem neuen Wahlrecht auch draußen gewesen.
Lindholz: Wenn Wähler die von ihnen mehrheitlich gewählten Kandidaten nicht mehr im Bundestag wiederfinden, ist das geradezu demokratiezersetzend. Herr Bartsch hat in diesem Punkt völlig recht: Die Ampel schnitzt sich ein politisches Wahlrecht zurecht. Es war immer Konsens, bei einer Wahlrechtsreform ein möglichst breites Einvernehmen herzustellen. Stattdessen verabschiedet die Ampel jetzt Änderungen, die sich bewusst gegen die CSU und ihre Wähler richten und damit auch die CDU schwächen sollen. Und wenn die Linkspartei nicht mehr im Bundestag ist, nutzt das mittelfristig vor allem der SPD.
Grünen-Chef Omid Nouripour hat am Mittwoch im ntv-Frühstart gesagt, dass die Opposition ja eingeladen gewesen sei, mitzuarbeiten. Haben Sie die Chance nicht verstreichen lassen?
Lindholz: Nein, absolut nicht. Noch am Montag gab es ein Gespräch und das Angebot, die Wahlkreise auf 280 zu reduzieren. Nur wenige Stunden später gaben die Ampel-Vertreter bekannt, dass nun die Grundmandatsklausel fallen soll. Aus meiner Sicht war dieses Gesprächsangebot nur vorgeschoben. Die Ampelparteien wollten doch gar keine echten Verhandlungen über eine gemeinsame Lösung. Natürlich hätte man Kompromisse schließen müssen. Aber wenn man nur auf maximale Vorteile für die Ampel-Parteien aus ist, dann gibt es keine Verhandlungsbasis.
Aber wie soll es stattdessen gehen?
Bartsch: Wir brauchen eine Begrenzung, und das Ergebnis der Zweitstimmen muss sich in der Zusammensetzung des Bundestages widerspiegeln. Und es ist doch ganz klar: Wer einen Wahlkreis gewinnt, der muss sich auch im Bundestag wiederfinden. Alles andere kann mir niemand erklären. Ein CSU-Kandidat in München ist deutlich schlechter gestellt als ein CSU-Kandidat in Niederbayern.
Lindholz: Der muss richtig kämpfen. In den Städten hat es die CSU wesentlich schwerer.
Sie spielen darauf an, dass auch dann nicht alle Direktmandatsgewinner in den Bundestag einziehen, wenn die Partei über der Fünf-Prozent-Hürde liegt. Im Zweifelsfall fallen die Gewinner mit dem geringsten Vorsprung heraus.
Bartsch: Das kann doch nicht wahr sein! Der in München hat Kandidaten der SPD, der Grünen, der FDP, vielleicht sogar der Linken gegen sich. Der muss viel mehr kämpfen und wird dann bestraft, wenn er seinen Wahlkreis nur knapp gewinnt. Stattdessen zieht dann womöglich der zweitplatzierte Kandidat in den Bundestag ein, weil seine Partei noch Plätze frei hat.
Für die CSU gäbe es einen leichten Ausweg. Wären sie und die CDU eine Partei, hätte sie mit der Fünf-Prozent-Hürde kein Problem.

Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken, äußert sich in seltener Übereinstimmung mit der CSU.
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Lindholz: Die CSU ist eine eigenständige Partei in Bayern. Das bleibt sie auch für alle Wahlen, auch für die Bundestagswahl. Diese föderale Besonderheit prägt Bayern, aber auch Deutschland seit Jahrzehnten - und zwar durchaus zum Guten. Was mit Blick auf die künftige Schwächung der Direktmandate noch viel zu wenig beachtet wurde, ist, dass direkt gewählte Abgeordnete die Interessen ihres Wahlkreises viel freier und selbstbewusster vertreten können. Man ist nicht nur abhängig von der Parteispitze und der Frage: Wo werde ich genau aufgestellt? Wenn ich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger vor Ort überzeugen kann, mich zu wählen, dann ist das ein hohes demokratisches Gut.
Bartsch: Lesen Sie mal nach, was die Ampel-Abgeordneten in der ersten Lesung im Bundestag zur Grundmandatsklausel gesagt haben. Da sagte Sebastian Hartmann von der SPD: Ich bin kein Freund der Linken. Aber die Grundmandatsklausel abzuschaffen, das geht wirklich nur gegen die Linke und das wird mit uns nicht passieren. Ich könnte auch Grüne und FDP zitieren.
Hört sich an, als ob das Tischtuch zerschnitten ist.
Bartsch: Eins geht nicht: Man kann nicht auf diese Art und Weise versuchen, die Opposition mundtot zu machen - und nichts anderes ist dieser Versuch - und ansonsten sagen: Seid mal bitte kompromissbereit. Die Ampel-Parteien kommen mit der Attitüde daher, es gehe um die Begrenzung des Bundestages. Das leuchtet den Menschen ein. Kommunikativ haben die sich das gut überlegt. Die denken sich, wir könnten nichts dagegen sagen, weil es dann so wirkt, als ob wir gegen eine Begrenzung wären. Das ist nicht in Ordnung. Das muss Auswirkungen haben.
Lindholz: Es ist absolut haarsträubend, dass die Ampel jetzt sogar von der AfD gelobt wird, weil sie praktisch deren Gesetzentwurf der vergangenen Legislaturperiode übernommen hat. Damals haben die Ampel-Parteien noch den AfD-Gesetzentwurf zerlegt, den sie jetzt selbst in die Tat umsetzen.
Ziehen Sie jetzt gemeinsam vors Bundesverfassungsgericht?
Lindholz: Ich weiß nicht, was die Linke macht, aber Bayern wird klagen, wenn dieser Entwurf Gesetz wird.
Bartsch: Wenn man will, dass das so nicht Gesetz wird, dann bleibt keine andere Möglichkeit als zu klagen. Da hat die Union bessere Chancen, weil sie mehr als 25 Prozent der Abgeordneten hat. Dadurch hat sie mehr Klagerechte als eine kleine Fraktion. Eine gemeinsame Klage von Linke und CSU wäre nur schwer vermittelbar.
Also drücken Sie der CSU erstmals die Daumen?
Bartsch: Ich drücke der Demokratie die Daumen. Es kann sogar sein, dass das manchmal in Übereinstimmung mit der CSU geschieht. Das ist für mich nichts Schlimmes.
Mit Andrea Lindholz und Dietmar Bartsch sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de