Wenn das Gesparte schmilzt Sind Negativzinsen Diebstahl?
10.07.2021, 09:15 Uhr
Eine Lösung für das akute Problem könnte darin bestehen, dass es bis zu einem bestimmten Betrag für private Sparguthaben gesetzlich definierte Freibeträge gibt, auf welche die Banken keine Negativzinsen erheben dürfen, schreibt Katja Kipping.
(Foto: dpa/ntv)
Die Banken würden den Privathaushalten ungeniert in die Tasche greifen, twitterte unsere Kolumnistin und löste damit eine Kontroverse aus. Die Zinspolitik der EZB wollte sie damit nicht kritisieren - wohl aber die mangelnde Abfederung.
Stell dir vor, du hast über die Jahre etwas zurückgelegt, um dir am Lebensabend den einen oder anderen kleinen Wunsch wie eine Reise an die Ostsee, erfüllen zu können. Und dann schmilzt dein Erspartes zusammen, einfach so. Ja, inzwischen fallen auch auf private Sparguthaben Negativzinsen an. Und das bedeutet schlichtweg, dass mit jedem Monat, in dem das Geld auf der Bank liegt, der Betrag etwas kleiner wird.
Diese Entwicklung kann man aus zwei Perspektiven betrachten: aus einer ökonomischen und einer praktischen. Um die lebensweltlichen Auswirkungen zu thematisieren, twitterte ich dieser Tage bewusst zugespitzt, Negativzinsen für Private seien Diebstahl. Dies löste eine heftige Kontroverse aus, die ich durchaus beabsichtigt hatte - und zwar mit dem Ziel, die Debatte über mögliche Lösungen zu befeuern. Schließlich gäbe es eine Möglichkeit, diesen Konflikt produktiv aufzulösen.
Doch zunächst zur ökonomischen Perspektive: Die Negativzinsen, die Banken gegenüber Privaten erheben, hängen auch mit der Niedrigzinspolitik beziehungsweise Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zusammen. Rein ökonomisch betrachtet dient die Niedrigzinspolitik in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise dazu, Unternehmen und öffentlichen Haushalten Anreize zu geben, Geld zu investieren, anstatt anzulegen. Und diese Investitionen beziehungsweise Ausgaben können die schwächelnde Wirtschaft ankurbeln. Diese Politik ist richtig und notwendig. Makroökonomisch ist festzuhalten, dass die Niedrigzinspolitik der EZB die öffentlichen Haushalte massiv entlastet hat. Das gilt für den Bund, die Länder und auch für die sogenannten "Krisenländer" im Euroraum. So gesehen hält die Niedrigzinspolitik der EZB aktuell den Euroraum zusammen.
Was ökonomisch richtig ist, kann trotzdem unerwünschte Folgen haben
Rein ökonomisch betrachtet wäre es auch sinnvoll, wenn Privathaushalte ihr Geld gegenwärtig nicht sparen, sondern eher ausgeben würden, zum Beispiel in Lokalen, Läden, Kneipen und Theatern. Schließlich mussten diese Einrichtungen viele Monate lang schließen und sind nun besonders auf Einnahmen angewiesen. Und womöglich würde diese ökonomische Wahrheit auch widerspruchsfrei aufgehen, wenn alle sicher sein könnten, dass über die gesetzliche Rentenversicherung ihr Lebensabend gut abgesichert ist, dass sie auch ohne große Sparvorhaben einen Pflegeheimplatz finden oder ambulante Hilfe bezahlen können, wenn sie mal pflegebedürftig werden. Doch dies trifft leider bisher nicht zu - zumindest nicht für alle. Und deshalb müssen wir beim Thema Negativzinsen für Privatpersonen auch über die lebensweltlichen Folgen sprechen. Denn auch das, was ökonomisch richtig ist und volkswirtschaftlich funktioniert, muss die negativen, nicht beabsichtigten Folgen im Alltag mit reflektieren.
Hierzulande gibt es leider Rentnerinnen und Rentner, die bei der finanziellen Absicherung ihres Lebensabends schlichtweg auf ihre privaten Sparguthaben angewiesen sind. Denken wir nur an die vielen Kleinstunternehmerinnen und Kleinstunternehmer. Gerade im Osten gibt es viele, die nach der Wende keine andere Chance sahen, als sich selbstständig zu machen, um der Arbeitslosigkeit zu entfliehen. Viele wagten den Sprung in die Selbstständigkeit ohne große Erbschaften, ohne große finanzielle Polster im Rücken. Als Dresdnerin hab ich mehrere dieser Menschen kennengelernt, die jahrzehntelang hart und mit langen Wochenarbeitszeiten arbeiteten, oft mit der beständigen Bedrohung des wirtschaftlichen Scheiterns im Nacken.
Rückblickend ist es leicht zu sagen, sie hätten einfach freiwillig in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen sollen. Doch viele waren gerade zu Beginn ihrer Unternehmertätigkeit nicht in der Lage, den doppelten Rentenbeitrag, der für Selbstständige anfällt, zu zahlen. Was auch daran lag, dass in dieser Zeit nicht dafür geworben wurde, dass es Kürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung gab und man nicht sicher sein konnte, inwieweit sie in Zukunft überhaupt noch vor Altersarmut schützt. Diese Entwicklung haben die damaligen Regierungen zu verantworten, nicht die Bürgerinnen und Bürger.
Das Dilemma kann aufgelöst werden
Rückblickend ist es leicht, kluge Ratschläge zu geben. Doch Berufsbiografien lassen sich nicht einfach rückwirkend verändern. Und nicht nur Selbstständige sind auf private Sparguthaben für den Lebensabend angewiesen. Auch viele Lohnabhängige sind im Alter damit konfrontiert, dass die gesetzliche Rente so niedrig ausfällt, dass sie froh über Erspartes sind, um sich mal eine Reise oder ein Geschenk fürs Enkelkind leisten zu können. Einigen geht es einfach um die Sicherheit, sich ambulante Hilfe oder einen Platz im Pflegeheim leisten zu können, wenn man selber irgendwann einmal pflegebedürftig werden sollte. Die Rede ist hier nicht von enormem Luxus, sondern viel mehr von kleinen Freuden oder dem verständlichen Wunsch nach elementarer Sicherheit im Alter.
Wir haben es also mit einem Dilemma zu tun. Mein Plädoyer lautet nun ausdrücklich nicht, den Widerspruch zum Anlass zu nehmen, um die richtige Finanzpolitik über den Haufen zu werfen. Vielmehr dient mein nachdrückliches Hinweisen auf die Auswirkungen im Alltag dazu, die Suche nach möglichen Auflösungen für diesen Widerspruch zu befördern.
Eine Lösung für das akute Problem könnte darin bestehen, dass es bis zu einem bestimmten Betrag für private Sparguthaben gesetzlich definierte Freibeträge gibt, auf welche die Banken keine Negativzinsen erheben dürfen. Wenn die Höhe dieser Freibeträge festgelegt wird, sollte in Rechnung gestellt werden, was für die Absicherung des Lebensabends notwendig ist. Darüber hinaus gilt es, die gesetzliche Rente zu stärken - mit einem höheren Niveau und garantiertem Schutz vor Altersarmut.
Kurzum, die Rente sollte weiterentwickelt werden zu einem Rententopf, in den alle einzahlen. Die bisherigen Mehrheiten im Bundestag haben solch eine Weichenstellung blockiert. Dieses rentenpolitische Versagen der Regierungen darf nun nicht in Zeiten von Nullzinspolitik auf dem Rücken von Rentnerinnen und Rentnern ausgetragen werden.
Grundlegend lässt sich das Problem durch eine strukturelle Verschiebung von Nachfrage und Angebot auf dem Anleihemarkt lösen. Was es also braucht, sind massive Investitionen vonseiten der öffentlichen Hand - am besten in eine sozial-ökologische Wende.
Katja Kipping ist sozialpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Deutschen Bundestag sowie ehemalige Vorsitzende ihrer Partei. Im wöchentlichen Wechsel mit Konstantin Kuhle schreibt sie die Kolumne "Kipping oder Kuhle" bei ntv.de.
Das war die letzte "Kipping oder Kuhle"-Kolumne vor der Sommerpause. Weiter geht es am 7. August.
Quelle: ntv.de