Wieduwilts Woche Mächtig, reich, unbesiegbar: So schön ist es in den oberen Zehntausend


Wenn die Herren Gyatso, Mützenich und Döpfner fallen, kippen ganze Weltbilder und plötzlich stellt die Öffentlichkeit die ganze Institution in Frage. Und das mögen Institutionen nicht.
(Foto: picture alliance/dpa)
Was Döpfner und dem Dalai Lama aus dem Mund fällt, hat mir wirklich die Woche versaut - aber sie können es sich erlauben. Sie können sich nämlich absolut alles erlauben.
Mit viel Macht kommt viel Verantwortung, heißt es. Was für ein Quatsch: Wenn Sie sich nach ganz oben arbeiten oder Ihr Name zufällig aus einer goldenen Urne gezogen wird, können Sie praktisch machen, was Sie wollen. Sie, ich und Emmely dürfen sich dagegen keinen Fehltritt erlauben.
An Emmely muss ich gerade häufig denken. Eine Kassiererin dieses Namens löste nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit nämlich fremde Pfandbons in Höhe von 1,30 Euro ein und wurde deshalb sofort gefeuert. Das war im Jahr 2009.
Was wäre wohl los, hätte Emmely zwischen dem Einscannen eines Magerjoghurts und einer Erbsensuppe ein kleines Kind gebeten, ihre Zunge zu lutschen? Einiges. Einiges wäre dann los gewesen.
Herr Tenzin Gyatso hat es besser, er bat gerade vor laufender Kamera einen kleinen, eher unbegeistert zappelnden Jungen genau darum. Danach erklärte "seine Heiligkeit" das ganze damit, dass es nur Spaß gewesen sei. Hilfreiche tibetfreundliche Minions sekundierten, in Tibet grüße man mit ausgestreckter Zunge - was stimmt, aber von Lutschen ist da nie die Rede. Ist das irgendwie eine Kleinigkeit?
Wohlig-esoterische Gefühle des Gutseins
Seine Heiligkeit heißt eben nicht umsonst so: Er ist so heilig, da verbieten sich Vorwürfe. Der NDR entdummte sich nicht, als "Dalai-Lama-Experten" ausgerechnet den früheren Pressesprecher des Mönchs zu befragen. "Hilmer kennt den Dalai Lama seit 30 Jahren. Das Verhältnis ist als persönlich und freundschaftlich zu bezeichnen. 2002 bis 2007 übernahm er die Pressearbeit für Veranstaltungen des Dalai Lama", schreibt der NDR. Wen fragen wir denn, ob das Durchschneiden ukrainischer Kriegsgefangenenhälse der legitimen Russlandverteidigung dient? Dmitri Medwedew.
Herr Tenzin Gyatso ist seit 1989 Träger des Friedensnobelpreises, ihn umwabern auch deshalb gerade in Deutschland stadionfüllende, wohlig-esoterische Gefühle des Gutseins, als wäre er selbst eine weiße Taube mit Olivenzweig im Schnabel. Aber da ist kein Schnabel und kein Zweig, stattdessen ein 87 Jahre alter Mund und eine 87 Jahre alte Zunge, mit der nun vor laufender Kamera ein bisschen Bock auf einen minderjährigen Kindermund durchging. Hoppla, egal!
Buddhismus gilt im bimmeldummen Westen als eine Art emissionsfreie Variante der Religion, ein Glauben mit Elektroantrieb, unschuldig, trendy, tut niemandem weh. Doch Religion ist Religion ist Machtapparat: Der tibetanische Buddhismus ist nicht arm an Geschichten über Machtmissbrauch, sexuelle Übergriffe und mildes Wegschweigen; wer sich damit auch nur oberflächlich beschäftigt, möchte den Kopf in eine Klangschale senken und mit dem Draufhauen nicht mehr aufhören.
In den Trümmern der SPD-Ostpolitik
Auch im Jahr 2023 gibt es offenbar ein gewisses Gefälle, welche Missetaten eines Menschen zu seinem kompletten Absturz führen und welche man irgendwie so weglächelt, je nach Machtfülle. Friedensbeseelte SPD-Politiker haben den Weg für Putins Überfall auf die Ukraine bereitet, wie sich schön im aktuellen Buch "Moskau Connection" nachdurchleiden lässt - aber zieht daraus jemand Konsequenzen? Gibt es einen sozialdemokratischen Putinversteher, der sich in eine Talkshow setzt und sagt: "Ich habe mich schwer geirrt, mir fehlten Weitsicht und politischer Kompass, die Großmannssucht machte mich angreifbar für den KGB, es tut mir alles recht leid und jetzt suche ich mir etwas anderes, werde zum Beispiel Tomatenzucht-Youtuber oder Vorleser in einem Hundehotel"?
Natürlich nicht, sind Sie denn verrückt. Im Gegenteil: Einer dieser demutslos Irrenden ist Rolf Mützenich. Als Mützenich, immerhin SPD-Fraktionschef, kürzlich zwischen den Klitschko-Brüdern in Kiew stand, wo ihn SPD-Co-Chef Lars Klingbeil hingeschleppt hatte, gab er zunächst ein kleinmütiges Bild ab: Zwischen den Ex-Boxern mit Händen wie Klodeckeln sah der Politiker aus wie eine Geisel, die Hände schamvoll auf die Beine gelegt, klein, grau, geschlagen. Da hatte jemand auf "Wandel durch Annäherung" und ähnliche Eso-Inspirationssprüchlein gesetzt und steht nun, buchstäblich, in den Trümmern der SPD-Ostpolitik.
Damit war allerdings weder Amtsverlust noch Demut verbunden. Wenige Wochen später gibt derselbe Mützenich dem französischen Präsidenten dafür recht, dass er China praktisch einen Freifahrtschein für eine gelegentliche Taiwan-Invasion überreicht. Man möchte kein Vasall Amerikas sein, hatte Macron verkündet, und damit direkt ins antiamerikanische Herz der SPD gezielt. Mützenich: begeistert.
Selbst Rezo zu "cringe"
Natürlich ist Macrons Gedanke zumindest teilweise hyperirre: Das armeelose, amerikabehütete, zerstrittene Europa könnte nicht einmal die Sandkiste am Kollwitzplatz im Prenzlauer Berg befrieden, aber das entscheidende ist doch: Große Friedensmacht sein fühlt sich gut an, Stichwort Olivenzweig. Ich wünsche viel Glück! Wenn man schon die Ukraine nicht vor den autoritären Bus werfen kann, klappt es vielleicht mit der komischen formosen Insel da drüben. Für die Führungskräfte der SPD gilt wie für den Dalai Lama - was auch immer passiert: Hoppla, egal.
Was uns zu Springer-Chef Mathias Döpfner bringt: Er etikettierte nach "Zeit"-Recherchen "die ossis (sic)" als Faschisten oder Kommunisten, wünschte sich den Klimawandel herbei, beorderte den Chefredakteur in einem Deutsch, das, literally, dem Youtuber Rezo zu cringe wäre ("Please Stärke die FDP (wiederum: sic)") und opferte damit die publizistischen Prinzipien und den Respekt vor passablem Sprachstil auf dem Altar jener Grünophobie, die manche Herren im fortgeschrittenen Alter unweigerlich befällt. Muss Döpfner irgendwas von irgendwem befürchten? Nein.
Hat Ihnen schon einmal im Mediamarkt ein Mitarbeiter den richtigen USB-Adapter herausgesucht und überreicht mit den Worten, "Ossis und Wessis, alles Faschisten oder Kommunisten", und zehn Minuten danach noch seinen Job behalten?
Wer hat, der hat
Woran liegt es, dass wir Emmely und Döpfner mit so unterschiedlichem Maß bewerten? Macht und Geld allein können es doch nicht sein! Vielleicht steht Emmely schlicht nicht für eine erhaltenswerte Identität. Wenn die Herren Gyatso, Mützenich und Döpfner fallen, kippen ganze Weltbilder und plötzlich stellt die Öffentlichkeit die ganze Institution in Frage. Und das mögen Institutionen nicht. Soll die SPD etwa die Statue aus dem Willy-Brandt-Haus heraustragen?
Aber was macht es eigentlich mit einer Gesellschaft, wenn sie die Mächtigen in ihren Reihen nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann?
Ich fürchte, das ist, hoppla: nicht egal.
Quelle: ntv.de