"Macht eure Hände schmutzig!" Mehr als Sauna: Das junge Finnland


Künstlerin Nina Backman bei ihrer an das finnische Nationalepos Kalevala angelehnten Aino-Performance.
(Foto: Nina Backman)
Wussten Sie, dass Finnland das sauberste Wasser und die sauberste Luft hat? Nachhaltigkeit ist ein strapaziertes Wort, in Finnland gehört Nachhaltigkeit jedoch zum Lebensstil! ntv.de ist zu Besuch in einem Land voll Wald, Wasser, Kunst, Stille und Entschleunigung.
"Macht eure Hände schmutzig!" Während Nina Backman das ruft, nimmt sie entschlossen eine Schaufel und rammt sie in den Boden. Hier soll ein neuer Baum gepflanzt werden. Die hochgewachsene Finnin arbeitet an ihrem grünen Wohnzimmer. Einem Raum im Freien, der alle einlädt, sich zu treffen, auszutauschen oder innezuhalten. Die Künstlerin stemmt sich gegen den Klimawandel, pflanzt Bäume, wilde Blumen, Kräuter und Erdbeeren. Diese Mini-Forests, wie sie sie nennt, bringen Biodiversität an brachliegende urbane Orte.

Noch mehr Bäume für ein besseres Klima, mehr Biodiversität und als grünes Wohnzimmer für alle.
(Foto: privat)
Seit zwei Jahren beackert sie bereits vier solcher Flächen mit Helferinnen und Helfern in ihrer Heimat. Diese frischen Oasen inmitten eher trister Wohngebiete werden zu einem "nachhaltigen, lebenden zeitgenössischen Kunstwerk", sagt Backman. Ein ebenso kosten- wie zeitintensives Unterfangen. Doch der Weg ist das Ziel: "A Million Trees to Finland", so der Name der Aktion, sollen es am Ende werden. Städte in Deutschland, Italien und anderswo in Europa stehen noch in diesem Jahr auf ihrer To-do-Liste.
Die Bäume als natürliche Kohlendioxidspeicher sind Teil ihres mit dem European Enterprise Award geehrten "Silence Project". Ihr als "innovativste soziale Kunstinitiative" ausgezeichnetes Projekt hat die in Berlin lebende Künstlerin vor zehn Jahren ins Leben gerufen. Dafür sucht sie den Austausch mit Wissenschaftlern, Philosophen, Köchen, anderen Künstlerinnen und Künstlern oder Kunstinstitutionen. Sie will in Finnland unterschiedliche Disziplinen zusammenbringen und miteinander verbinden. Mit verschiedenen Praktiken erforscht sie Wohlbefinden, Nachhaltigkeit und Natur, die eng mit der finnischen Kultur, Design und Essen verwoben sind.
Ein junger Staat
Finnland ist ein junger Staat, der keine große Vergangenheit hat. Viele Jahrhunderte gehörte das Land zu Schweden, dann, mit Beginn des 19. Jahrhunderts, zu Russland. Erst allmählich entwickelte sich ein Nationalbewusstsein und die finnische Sprache. 1917 proklamierte der Senat schließlich die Unabhängigkeit von Russland. Mystik und Verbundenheit zur Natur waren bei der Suche nach Identität wichtig. "Eine besondere Rolle nimmt das Nationalepos Kalevala von Eilas Lönnrot aus dem Jahr 1835 ein", erzählt Nina Backman ntv.de in Helsinki. Die Volksmythen des Autors und Arztes waren der Grundstein für ein starkes Nationalgefühl und befeuerten den Freiheitskampf.
Er beeinflusste auch die Malerei des "Golden Age" (1850 -1907). Zwei der bekanntesten Vertreter sind Helene Schjerfbek oder Albert Edelfelt. Sie bildeten nicht nur bewaldete Landschaften, unendlich viele Seen und nordisches Licht, sondern auch seine sagenhaften Kalevala-Erzählungen ab. Mit dieser auf der Leinwand neu erwachten Nationalromantik wurden sie über die Grenzen hinaus bekannt. Die Geschichten Lönnerots inspirieren die Kunstwelt bis heute, auch die Künstlerin Nina Backman. Ihr größtes Interesse gilt den Themen Transformation und Wiedergeburt in Verbindung mit finnischer Natur.
Das finnische Jedermannsrecht

Wasser, Wald und Entschleunigung im idyllisch gelegenen Serlachius Museum Gösta.
(Foto: Olli Huttunen)
Die Landschaft umarmen, im Wald baden – das funktioniert im mit 5,5 Millionen Einwohnern dünn besiedelten Finnland hervorragend. Der Gleichklang mit der Natur ist tief in der finnischen Identität verwurzelt – und authentisch. Im Freien gesammelte Beeren, Pilze und Kräuter gehören selbstverständlich auf den Speisezettel. Wild wachsende, regional produzierte Lebensmittel erhalten den Vorzug. Das finnische Jedermannsrecht macht es möglich: "Jokamiehenoikeus" räumt allen Menschen in Finnland freien Zugang zur natürlichen Umwelt ein und die Gaben der Natur zu nutzen. Es gilt auch für Touristen aus aller Welt, vorausgesetzt sie tun dies mit Respekt und zerstören nichts.
Seit 103 Jahren wird so indirekt das Bewusstsein für die Umwelt gefördert. Dass Finnland im UN-Nachhaltigkeitsbericht den ersten Rang belegt, wundert da wenig. Es gehört zu den Ländern mit der saubersten Luft und dem saubersten Wasser. Rund 70 Prozent der Fläche sind mit dichten Wäldern aus Kiefern, Fichten und Birken bedeckt. In dieser weitläufigen Landschaft, in der sich Wälder und Wasser scheinbar im Gleichmaß abwechseln, gelingt die Entdeckung von Langsamkeit und meditativer Leere.
Zum Dinner gibt es "Stille"

Es ist angerichtet! Hier 2018 für ein Silence Meal in Brüssel. Während des Dinners in Stille ist Fotografieren nicht erlaubt.
(Foto: Nina Backman)
Stille ist ein Gefühl, Sehnsuchtsmoment oder Luxusgut für viele. Sie kann jedoch auch negativ besetzt sein und "Verlassenheit, Entsolidarisierung oder Schmerz bedeuten", gibt die 51-jährige Backman zu bedenken. Entspannung und Bedrohung liegen dicht beieinander. Für sie ist Stille ein fester Bestandteil ihres finnischen Ursprungs und zugleich Inspirationsquelle. "Ohne sie könnte ich keine Kunst machen. Ich muss meine Gedanken hören können", sagt sie. So entstand ihr interdisziplinäres "Silence Project" und als Teil davon das Format "Silence Meal".
Beim mehrgängigen Menü mitsamt einer riesigen Portion Stille werden die Teilnehmer selbst eine wichtige Zutat in einem besonderen Kunstgericht. Die Performance hat Nina Backman in den vergangenen zehn Jahren in Städten wie Berlin, Brüssel, Oslo oder Helsinki organisiert. Die in ihrer Heimat so normale Stille übertönt 90 Minuten lang den Lärm der Großstadt. Backman ist sich sicher, dass diese gemeinsamen Dinner oder ihre Pflanzaktionen das Bewusstsein schärfen, um sich für eine nachhaltigere Welt einzusetzen.
Geräuschlosigkeit? Die gibt es nicht wirklich, denn irgendwas ist immer zu hören. Zwar füllt kein unnötiges Geplapper den Raum, dafür klappert das Besteck. Wein oder Wasser gluckern in die Gläser. Die einen lassen das kollektive Schweigen misstrauisch über sich ergehen, die anderen bleiben gelassen. Sie prosten sich zu, haben Kontakt ohne Worte zu wechseln und lassen die Gedanken schweben. Nina Backman beobachtet alle genau, genießt - und schweigt. Kleinste Details und winzige Essensnuancen werden durch die Stille intensiviert. Was für eine besondere, beinah intime Erfahrung. Übrigens: Small Talk ist in Finnland eine Kunst, die nicht geschätzt wird. Schweigend am Tisch zu sitzen, gilt nicht als unhöflich und ist selbst an Feiertagen üblich.
Grünes Gold
Zurück in die Mini-Forests der Künstlerin: Einer wächst in Mänttä-Vippula, gut drei Stunden nördlich von Helsinki. Das knapp 10.000 Einwohner zählende Städtchen entwickelt sich zum Kunst-Hotspot. Finnische Künstler ziehen gerne hierher. Jedes Jahr im Sommer öffnen sie Interessierten aus nah und fern ihre Atelierhäuser, in denen sie auch wohnen. In den bevorstehenden, langen dunklen Wintermonaten pflegen sie den Austausch miteinander oder verreisen selbst in Richtung Sonne. Neueste Kunst aus der Umgebung gibt es beim jährlichen Mänttä-Kunstfestival. Die 27. Ausgabe, in einer ehemaligen Tierfutter-Fabrik, ist anregend und beschäftigt sich, wenig überraschend, mit Natur- und Klimathemen.
Einst war Mänttä mitsamt seiner herrlichen Seenlandschaft bekannt für seine Papier- und Forstindustrie. Das "grüne Gold" kam aus den umliegenden Wäldern, wurde in alle Welt geliefert und bescherte Wohlstand. Geblieben ist die Kunstsammlung des Papierfabrikanten G. A. Serlachius. Im alten Fabrikgebäude "Museum Serlachius Gustaf" an der Koskenlampi-Bucht begibt man sich auf die Spuren der Unternehmensgeschichte. Ein paar Kilometer weiter ist der ehemalige Gutshof "Serlachius Gösta", ein schicker Neubau ist das Zuhause der wichtigsten Sammlung des Landes. Finnische Klassiker, europäische Gemälde und zeitgenössische Ausstellungen ziehen Besucher an.
Die Häuser liegen in einem Skulpturenpark direkt am Ufer des Melasjärvi Sees und perfektionieren das Kunst- und Naturerlebnis. Was fehlt noch? Richtig: die Sauna. Schließlich gilt Finnland als die Heimat dieses heißen Kulturerlebnisses. Die Serlachius-Museen verbinden in ihrer hauseigenen "Art Sauna" Kunst und Schwitzen zum Saunavergnügen auf höherem Niveau. Die Sauna als fester Bestandteil eines Gesamtkunstwerks aus Natur, Kultur und Lebensgefühl lädt zur Entschleunigung ein – wie eine Reise durch Finnland.
Anreise: Helsinki wird von vielen deutschen Flughäfen direkt angeflogen. Mit dem Helsinki Airport Train ist man in 30 Minuten am Bahnhof mitten in der Stadt. Der Hauptbahnhof ist Knotenpunkt des Nah- und Fernverkehrs und mit seinem Uhrenturm ein bekanntes Wahrzeichen der Stadt.
Mit dem Zug reist man bequem nach Tampere, von dort geht es mit dem museumseigenen Art Express nach Mänttä in die Serlachius-Häuser.
Übernachten in Helsinki:Schlafen mit Kunst geht im luxuriösen St. George. Design gibt es im Turm des Solo Sokos Hotel. Direkt am Hafen liegt das Scandic Grand Marina.
Übernachten in Mänttä: Ganz authentisch im 1920 erbauten Mänttä Klubhaus der Serlachius Gesellschaft oder im Biohof Peltolan.
Essen in Helsinki: Mit dem Boot auf die kleine Lonnainsel, dort im Restaurant Lonna landestypisches Essen inkl. Ausblick.
Essen in Tampere: Im Restaurant Kajo (zwei Minuten vom Bahnhof entfernt) ist alles frisch und regional, auch die Getränke. Mehr nachhaltig geht nicht.
Essen in Mänttä: Im Restaurant Gösta im Museum wird saisonal gekocht. Noch mehr lokale Küche gibt es mitten im Wald auf der höchsten Erhebung von Mänttä, in der Taverne Vuorenmaja. Das Haus ist das ehemalige Clubhaus der Serlachius Fabriken.
Kunst: In Helsiniki sind das Amos Rex sowie das Kiasma für zeitgenössische, das Ateneum für finnische Kunst, das Designmuseo ein Muss.
Ebenfalls sehenswert ist die 2. Helsinki Biennale für zeitgenössische Kunst (bis zum 17. September) an verschiedenen Orten in Helsinki und auf der Vallisaari Insel.
In der Kunststadt Mänttä sind beide Serlachius Museen samt Kunstsauna und das 27. Art Festival (noch bis zum 31. August) unverzichtbar.
Alles zum Silence Project von Nina Backman findet sich hier
Mehr zu den Million Trees to Finland
Diese Reise wurde u.a. unterstützt von Visit Finland, Helsinki Partners, der Kunststadt Mänttä-Vippula
Quelle: ntv.de