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So viele Fast-Triumphe Zverevs Schreie, seine Tränen und seine Hoffnung

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Alexander Zverev gewinnt bei den French Open 2022. Auf eine tragische Art.

(Foto: IMAGO/Shutterstock)

Das Jahr 2021 ist für Alexander Zverev ein Goldenes, auch wenn es mit dem ersehnten Grand-Slam-Titel wieder nichts wird: Deutschlands bester Tennisspieler wird Olympiasieger und Weltmeister und will die ganz großen Ziele angreifen. Doch 2022 endet mit Schmerzensschreien und viel zu früh.

Es ist Freitag der 2. Juni, über dem geschlossenen Dach des gewaltigen Center Court von Ronald Garros halten sich dunkle Wolken, als Alexander Zverevs Träume und Ziele im Halbfinale der French Open vorerst zerfetzt werden. Schon über Stunden bearbeiten sich Zverev und Rafael Nadal, der beste Sandplatzspieler, den das Tennis je gesehen hat. Nadal ist einen Satz vor, mit einem Schlag tief in die Ecke von Zverevs Seite holt er sich das Spiel zum 6:6. Tiebreak. 15.000 Menschen auf den Rängen atmen durch vor dem Tiebreak. Aber Zverev, der an diesem Nachmittag so gut Tennis spielt, wie noch nie zuvor in Roland Garros, kehrt nicht mehr zurück aus der Ecke. Beim Versuch, auch diesen Ball Nadals zu erreichen, so wie er in zwei ewigen Sätze zuvor Hunderte Bälle ausgegraben hatte, knickt er um.

Es ist ein furchtbares Bild und niemand zweifelt, dass dieses große Match viel zu früh beendet ist. Zverev schreit, nach Minuten wird er unter Tränen mit einem Rollstuhl vom Platz gebracht. Im Eurosport-Studio leidet Bruder Mischa mit: "Sascha weint nie! Nie!" Sascha Zverev hätte Nadal an diesem Tag schlagen können, der Deutsche war voll im Match, die Fitness sprach für ihn. Er hätte den Dominator, der zuvor schon dreizehn Mal in Paris gewonnen hatte, schlagen können, so wie er eine Runde zuvor Carlos Alcaraz geschlagen hatte. In vier Sätzen hatte Zverev triumphiert, letztlich ungefährdet. So gut war er in diesen Tagen von Roland Garros.

"Eine gewisse Angst ist schon da"

Und dann war da dieses Geräusch: "Im ersten Moment denkst du natürlich, deine Karriere ist vorbei. Du kannst den Fuß nicht bewegen, hast das Geräusch vom Brechen gehört, eine gewisse Angst ist da schon da", sagte der Hamburger auf "Sky". Es ist vorbei. Zverev kehrt auf Krücken auf den Platz zurück, gratuliert Nadal, bedankt sich beim Schiedsrichter und verabschiedet sich unter Tränen vom Publikum, wird mit Sprechchören und stehenden Ovationen gefeiert. Es ist ein Moment sportlicher und menschlicher Größe Zverevs, das Match auf diese Weise zu einem offiziellen Ende zu bringen. Der Moment, er gehört ihm. "Es ist ein Traum, wieder im Finale zu stehen", sagt Nadal im Siegerinterview mit betretener Miene. "Aber Zverev in der Kabine weinen zu sehen, war ein schlimmer Moment."

Nadal gewinnt drei Tage später das Finale gegen den Norweger Casper Ruud in drei Sätzen und holt seinen 23. Grand-Slam-Titel. Carlos Alcaraz gewinnt danach beinahe alles und die US Open, der Teenager beendet das Jahr als Nummer 1 der Weltrangliste. Alexander Zverev schafft es 2022 nicht mehr zurück auf die Tour. Seine Ziele, seine Träume, erreichen derweil andere. Grand-Slam-Erfolge, die Spitze der Weltrangliste: All das will Zverev auch, beides blieb ihm bisher verwehrt. Nahe dran war er oft. Ein Triumph bei den French Open hätte ihm den großen Titel und den ersten Platz in der Weltrangliste gebracht, als erstem Deutschen seit Boris Beckers zwölf Wochen an der Spitze 1991.

Nach einem starken Jahr 2021 scheint der große Sprung für Zverev 2022 folgerichtig. Bei Olympia in Peking holt Zverev Gold für sich und Deutschland, nachdem er im Halbfinale gegen den Dominator Novak Djokovic eines seiner bis dahin besten Matches überhaupt spielt, im November wird er (inoffizieller) Tennis-Weltmeister, zum zweiten Mal in seiner Karriere. Bei den Australian Open im Januar ist dann aber schon im Viertelfinale gegen den Kanadier Denis Shapovalov Schluss - und dann kommt Acapulco und der Ausraster, der sein Image erneut schwer beschädigt: In einem Doppelmatch mit seinem besten Tourkumpel Marcelo Melo zerkloppt er seinen Schläger am Schiedsrichterstuhl, die Geldstrafe von 40.000 Dollar wirkt eher milde.

"Von mir selbst enttäuscht"

"Es ist schwer in Worte zu fassen, wie sehr ich mein Verhalten während und nach dem gestrigen Doppel bereue", schreibt er kurz darauf in einer Instagram-Story. Sein Ausbruch sei "falsch und inakzeptabel" gewesen, er sei von sich "selbst enttäuscht". "Es hätte einfach nicht passieren dürfen und es gibt keine Entschuldigung", führt er aus: "Ich möchte mich auch bei meinen Fans, dem Turnier, dem Sport, den ich liebe, entschuldigen." Beim Schiedsrichter habe er sich schon zuvor "persönlich entschuldigt". Einer Sperre entkommt Zverev, das Echo aus der Branche ist deutlich.

Doch in der schweren Krise entsteht etwas, drei Tage mit dem deutschen Davis-Cup-Team in Brasilien bringen offenbar Heilung. "Wir freuen uns, dass Alexander dabei ist. Sein Verhalten in Acapulco war ohne Frage inakzeptabel und falsch. Das hat Alexander selbst erkannt und sich dafür entschuldigt", sagte Teamchef Michael Kohlmann. "Wir möchten ihm jetzt als Team helfen, die schwierige Phase zu überstehen." Zverev gewinnt seine beiden Einzel, zeigt sich im Kreise des Teams locker. Danach geht es aufwärts: Halbfinale beim Masters in Monte Carlo, Endspiel in Madrid, Halbfinale in Rom - und auf einmal fehlen nur noch zwei Siege zum Grand-Slam-Triumph und zum Sprung an die Spitze der Welt. Es kommt anders, in seiner Verletzungspause klettert der Hamburger dennoch immerhin auf Platz zwei, die beste Platzierung seiner Laufbahn.

Zverev will "etwas zurückgeben"

Anfang August, als der Profi noch auf ein schnelleres Comeback, womöglich sogar schon zu den US Open Ende des Monats hofft, gibt es aber doch eine gute, eine wichtige Nachricht: Zverev verkündet den Start seiner "Alexander Zverev-Foundation" - und macht öffentlich, was in der Szene schon seit Jahren gemutmaßt wurde: Seit er vier Jahre alt ist, leidet der Tennis-Star selbst an der Krankheit. Er und seine Familie lernten damit umzugehen. "Ich bin in der privilegierten Situation, ein Leben zu führen, das ich immer führen wollte. [...] Mir ist sehr bewusst, dass nicht alle Kinder solch ein Glück haben und daher ist es mir ein großen Anliegen, etwas zurück zu geben und Anderen auf ihrem Weg zu helfen", erklärt Zverev sein Engagement.

Zuvor hatte er vermieden, sich dazu zu äußern. Im Gegenteil, mehrmals hatte Zverev in der Vergangenheit auf entsprechende Nachfragen mindestens ausweichend reagiert. 2016 hatte der deutsche Weltklassespieler auf die Frage eines englischen Reporters, ob er Diabetiker sei, geantwortet: "Alles, was da geschrieben wurde, ist nicht wahr. Alles in dieser News ist absolut erfunden." Kritiker hatten gemutmaßt, Zverev habe während des Matches auf sein Handy geschaut und so möglicherweise verbotenerweise Tipps empfangen. "Mein Handy war in der Umkleidekabine", sagte Zverev anschließend: "Ich weiß nicht genau, was sie da gesehen haben, aber mein Handy kann es nicht gewesen sein. Vielleicht eine leere Trinkflasche, ich weiß es nicht."

Seine nun auch offiziell gemachte Erkrankung thematisierte er damals nicht, die ATP verkündete aber, der Deutsche habe "gegen keine Regel der ATP verstoßen". 2019 wurde Zverev während der ATP Finals sogar mit Schummelvorwürfen konfrontiert, weil er während eines Seitenwechsels ungewöhnlich lange in seiner Sporttasche kramte - und dabei möglicherweise seinen Insulinwert maß. Zverev will mit seiner Initiative zeigen, "dass man es mit dieser Krankheit ganz weit schaffen kann. Ich möchte ein Vorbild sein für bereits erkrankte Menschen, aber auch eine Stütze sein für die Kinder, die mit einem aktiven Leben und der richtigen Vorbeugung noch vermeiden können, Diabetes zu bekommen".

Unterdessen arbeitet er weiter hart in der Reha, im August steht er wieder auf dem Trainingsplatz und gibt sich optimistisch. "Vier Monate werde ich nicht auf dem Court stehen können, haben viele Ärzte gesagt", berichtet er stolz vor der Davis-Cup-Zwischenrunde im September in seiner Heimatstadt Hamburg, "aber ich bin schon zwei Monate nach der Operation zurückgekehrt." Die US Open hatte er Ende August noch abgesagt, aber in Hamburg, das hatte er während der Rekonvaleszenz stets betont, in seiner Heimatstadt wolle er in jedem Falle wieder dabei sein und für Deutschland spielen. "Very special" soll die Davis Cup-Woche werden, an deren Ende die Qualifikation für die Finalrunde stehen soll, "ganz besonders".

"Es ist megaschade für ihn"

Doch auch dieser Traum platzt: 48 Stunden vor dem ersten Aufschlag des deutschen Teams musste ein sichtbar angefasster Alexander Zverev verkünden: Es wird doch nichts. "Extrem starke Schmerzen" habe er im operierten Fuß, ein Knochenödem lässt ihn vor einem Bruch und um den Fortgang seiner Karriere zittern. Das Comeback, es löst sich in einem große Schock auf. "Es ist megaschade und traurig für ihn. Er hat uns oft gesagt, wie wichtig es ihm ist, hier zu spielen. Schon in Rio war er hochmotiviert, als klar war, dass es die Möglichkeit gibt, die Zwischenrunde in Hamburg zu spielen. Er war heute da, er hat gepusht, was super war", gibt Teamkollege Jan-Lennard Struff nach seinem Auftaktmatch gegen Frankreich einen Einblick.

In Malaga, bei der Endrunde, wolle er auch bei der Mannschaft sein, sagt Zverev schon im August dem "Tennismagazin". "Wenn ich gesund bin, bin ich bis zum Ende dabei." In der Pressekonferenz, in der Zverev nun die bittere Nachricht verkünden musste, sagte er, es sei "keine Frage von Tagen, sondern von mehreren Wochen oder Monaten" sein, bis er wieder gesund sei. Zwei Tage später klang das schon optimistischer, er hoffe, "dem Team in Malaga helfen zu können." Diesmal natürlich wieder auf dem Platz, nicht als Teil des Teams hinter der Bank.

Und so schaut der Superstar auch in Hamburg zu, als Teil des Teams sitzt er bei allen deutschen Begegnung hinter der Bande. Während sich die Kollegen einschlagen, schreibt der wohl beste deutsche Tennisspieler aller Zeiten Autogramme, scherzt und arbeitet an seiner Rolle in der Mannschaft. Zverev, dem in durch den Volkshelden Boris Becker sozialisierten Tennisdeutschland lange und immer wieder mehr Skepsis als Zuneigung entgegenschlägt, holt immerhin Sympathiepunkte. Doch für mehr reicht es bis zum Schluss nicht. Nach Malaga reisen die Deutschen ohne Zverev, im Viertelfinale verlieren sie denkbar knapp gegen den späteren Gewinner Kanada. Noch so eine Chance auf den ganz großen Triumph, die 2022 verstreichen muss. Es ist bitter.

"Hat er die Schläge? Ja!"

Nun ist das Jahr vorbei, das schwierig begann, dann auf einen Höhepunkt zusteuerte und in einem schier ewigen Drama endete. Und 2023 bringt einen neuen Angriff auf die alten Ziele: "An meinen Zielen hat sich nichts geändert. Ich möchte immer noch einer der besten Spieler der Welt sein, ich möchte immer noch die größten Turniere der Welt gewinnen", sagt Zverev in einem Interview im Rahmen zweier Showevents in Saudi-Arabien und Dubai, für die er endlich auf den Platz zurückkehrt.

"Hat er die Schläge?", fragt Bruder Mischa im "Tennismagazin" und antwortet selbst: "Ja! Die Fitness? Ja. Reicht beides für einen Grand-Slam-Sieg? Ja. Im Kopf ist er stärker und erwachsener geworden." Aber: "So ein halbes Jahr kann einen auch zurückwerfen. Das wird sich auf dem Platz zeigen." Der Weg ist lang. Beim United Cup, einem neugeschaffenen Teamwettbewerb über den Jahreswechsel, geht Zverev 4:6, 2:6 gegen den Weltranglisten-81. Jiri Lehecka unter. "Physisch bin ich noch nicht auf dem Niveau, auf dem ich sein muss", sagte Zverev nach der Partie. "Das ist keine Frage. Ich werde viel schneller müde als vorher. Ich bin nicht so schnell wie ich es wahrscheinlich war."

Mit den Australian Open steht der erste Höhepunkt des Tennisjahres 2023 ab dem 16. Januar auf dem Plan. Die erste neue Chance auf den großen Wurf, sie kommt wohl zu früh. Er sei erst seit zwei, drei Wochen schmerzfrei, berichtet Zverev nach der Pleite beim United Cup. "Es wäre unrealistisch und auch ziemlich dumm von mir, zu erwarten, zu gewinnen oder so etwas. Natürlich will ich gewinnen. Jeder will gewinnen. Für mich geht es darum, wieder zu meiner gewohnten Form zurückzukommen." Rafael Nadal ist sich indes seit dem Tag, an dem Zverev seine Träume und Ziele vorerst im tiefen Sand von Roland Garros vergraben musste, sicher: "Ich weiß, wie sehr er darum kämpft, ein Grand-Slam-Turnier zu gewinnen. Ich bin mir sicher, dass er nicht nur eins, sondern mehrere gewinnen wird."

Quelle: ntv.de

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