Lebensgefährlicher Reit-Irrsinn Dieses Drama hätte es nie geben dürfen

Annika Schleu und Saint Boy - alles andere als ein Dreamteam.

Annika Schleu und Saint Boy - alles andere als ein Dreamteam.

(Foto: imago images/Sven Simon)

Annika Schleu ist kurz davor, ihre Karriere mit einer olympischen Medaille zu krönen. Dann steigt die Fünfkämpferin auf Saint Boy - und das Drama nimmt seinen Lauf. Pferdesport-Expertin Birgit von Bentzel sieht ein unverantwortliches Handeln bei den Kampfrichtern.

Die Verzweiflung in den Augen von Fünfkämpferin Annika Schleu, die deutlich zu erkennende Panik am ganzen Körper von Pferd Saint Boy. Die Olympische Spiele von Tokio haben ihr nächstes großes Drama. Und den nächsten großen Skandal. Denn im hilflosen Kampf um die Goldmedaille im Modernen Fünfkampf ruft die Trainerin ihrer Athletin zu: "Hau drauf, hau mal richtig drauf." Es sind Ansagen, die über die Mikrofone in der Arena gut zu hören sind. Es sind Ansagen, die sofort viral gehen. Und eine heftige Debatte über Tierquälerei auslösen.

Bundestrainerin Kim Raisner, die wie Schleu in den sozialen Medien einem heftigen Shitstorm ausgesetzt ist, stand indes auch später weiter zu ihrer Aussage. "Ich habe gesagt, hau drauf. Aber sie hat das Pferd nicht gequält, in keinster Weise. Dass man mal die Beine zumacht oder mal mit der Gerte hinten draufhaut, ist jetzt keine Quälerei. Sie hat probiert, dieses Pferd vorwärts zu reiten. Sie hat dem Pferd nicht im Maul gerissen. Sie hatte keine scharfen Sporen dran. Pferde quälen sieht anders aus." Es ist eine Verteidigung, die nicht beschwichtigt, sondern für neue Kontroversen sorgt.

Peking-Olympiasiegerin Lena Schöneborn versuchte im ARD-Studio, die aufgeheizte Debatte etwas zu entschärfen. "Ich würde das nicht als Tierquälerei bezeichnen, Annika hat die Gerte aus dem Handgelenk bewegt", sagte die Fünfkämpferin, die 2016 in Rio mit dem Pferd Legende dasselbe erlebt hatte. Sie habe, sagte Schleu noch, "versucht, so einfühlsam wie möglich zu sein. Ich glaube, gerade wir Deutschen sind als gute, solide und einfühlsame Reiter bekannt".

"Die Regel ist falsch"

Ähnlich bewertet es auch ntv-Pferdesportexpertin Birgit von Bentzel. Sie sieht den Skandal auf einer ganz anderen Ebene. Sie hält es für "unverantwortlich", dass die Kampfrichter die deutsche Sportlerin auf Saint Boy reiten ließen. Das Tier habe ganz klare Signale gegeben, dass es nicht mehr kann und will. Nur zum Verständnis: Den Regeln entsprechend war diese Entscheidung absolut korrekt. Saint Boy war Schleu zugelost worden. So ist das eben im Modernen Fünfkampf. Ein anderes Pferd bekommt eine Sportlerin nur, wenn das Tier in einem Durchgang zuvor bereits vier Mal das Überspringen eines Hindernisses verweigert hatte.

Saint Boy hatte unter der Führung der russischen Athletin Gulnas Gubaidullina indes zuvor nur drei Mal gebockt. Allerdings war bereits da offensichtlich, dass mit dem Pferd etwas nicht stimmte. "Ich weiß nicht, was da mit Saint Boy passiert ist, aber für mich war völlig klar, dass dieses Pferd kein Reiter der Welt in dieser Situation mehr in den Griff bekommen hätte", sagt Birgit von Bentzel. "Wir sollten dringend über diese Regel sprechen, die ist falsch!" Aus Sicht des völlig panischen Tieres. Aber auch aus Sicht der Athletin. Beide waren unübersehbar in einer Ausnahmesituation. "Ich bin mir sicher, dass sie das Pferd nicht quälen wollte."

Fehleinschätzung vom Tierarzt?

Im Internet gab es dagegen heftige Kritik. "Moderne Tierquälerei" oder "Kein Respekt vor dem Tier" wurde bei Twitter gepostet. Sie habe schon "diverse Hassnachrichten erhalten", berichtete Schleu kurz nach dem Wettkampf. Sätze wie "Holt das Mädchen vom Pferd runter" und sich übergebende Smileys gehörten noch zu den gemäßigten Botschaften. Die Tierrechtsorganisation Peta forderte die Suspendierung von Schleu und Raisner und sprach von "Misshandlungen".

Was genau zu der Überforderung von Saint Boy geführt hat, das weiß auch Expertin von Bentzel nicht. Womöglich habe sich der Vierbeiner im Ritt zuvor wehgetan oder verletzt. "Es war absolut unübersehbar, dass etwas nicht in Ordnung war." Natürlich hatte auch Schleu das bemerkt. Sie hatte sogar Rücksprache mit dem Tierarzt gehalten. Der aber, so Raisner, habe gesagt, "das Pferd ist okay." Was für eine gefährliche Fehleinschätzung, findet Birgit von Bentzel. "Wenn die beiden weitergemacht hätten, wenn es zu einem Sturz gekommen wäre, dann hätte das im schlimmsten Falle tödlich enden können." Für das Pferd. Für die Reiterin. Wie gnadenlos der Reitsport sein kann, wie dramatisch Verletzungen von Tieren enden können, das haben diese Olympischen Spiele bereits gezeigt.

In der Geländeprüfung des Vielseitigkeitswettkampfs erlitt der Wallach des Schweizers Robin Godel eine so schwere Verletzung, dass auch Tierärzte nicht mehr helfen konnten. Jet Set hatte sich bei der Landung in der letzten Wasserkombination einen Bänderriss im rechten Vorderbein zugezogen, wie der Verband mitteilte: "Aufgrund der Schwere der Verletzung und den damit einhergehenden Schmerzen musste das Pferd kurz darauf eingeschläfert werden." Nun, Saint Boy bleibt dieses dramatische Schicksal zum Glück erspart.

Dennoch wird nun auf allen Ebenen diskutiert. Und in den Fokus rückt neben der absurden Regel auch der Moderne Fünfkampf als Sport selbst. Der Deutsche Olympische Sportbund sprach von "Szenen, die dem Ansehen der Sportart schaden. Zahlreiche erkennbare Überforderungen von Pferd-Reiter-Kombinationen sollten für den internationalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern." Dieses müsse "so umgestaltet werden, dass es Pferd und Reiter schützt." Das Wohl der Tiere und faire Wettkampfbedingungen für die Athletinnen und Athleten müssen im Mittelpunkt stehen." Tatsächlich war Schleu nicht die einzige Sportlerin, die große Probleme hatte.

"Das Aufbauen einer Vertrauensbeziehung dauert Jahre"

Die siebenmalige Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth fand die krassesten Worte. "Fünfkampf hat nichts, aber auch gar nichts mit Reiten zu tun", sagte sie dem Sportinformationsdienst: "Die Pferde sind ein Transportmittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben. Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben." Im Gespräch mit der "Welt" erklärte sie weiter: "Das ganze System muss geändert werden." Das Pferd tue ihr leid. Aber auch "das Mädchen", das Opfer des Systems seiner Sportart sei. Auch der Reiterverband FN reagierte auf den Skandal. Als Fachverband für den Pferdesport sehe man "die Reiterei im Modernen Fünfkampf kritisch. Unser Verständnis der Reiterei liegt in der Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd und nicht darin, das Pferd als Sportgerät zu betrachten", sagte FN-Geschäftsführer Dennis Peiler.

Wie sensibel die Beziehung zwischen Sportler und Tier eigentlich ist, erklärt Birgit von Bentzel. "Das Aufbauen einer Vertrauensbeziehung dauert Jahre." Im Fünfkampf sind es völlig fremde Tiere, die Athletinnen wie Schleu erst unmittelbar vor dem Wettkampf zugelost werden. Der Veranstalter stellt die Tiere zur Verfügung. Sie haben dann im Wettkampf mehrere Reiterinnen und Reiter in kurzer Zeit nacheinander im Sattel. Vor dem Ritt haben die Sportlerinnen und Sportler nach einer Auslosung nur 20 Minuten Zeit, um sich mit dem Pferd vertraut zu machen. Hinzu kommt, dass viele Fünfkämpfer gar keine professionellen Reiter sind. Die Kaderathleten in Deutschland reiten nur meist zweimal in der Woche auf Pferden, die dem Verband gehören. In vielen anderen Nationen würde jedoch deutlich seltener geritten.

Es wird dringend Zeit zu diskutieren. Darüber, ob Springreiten im Fünfkampf noch zeitgemäß ist. Darüber, dass Regeln dringend geändert werden müssen. Und ganz besonders muss darüber diskutiert werden, wie man die Tiere schützt.

Quelle: ntv.de, mit dpa/sid

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