Wirtschaft

"Wir bitten um Ihr Verständnis" Wohin rollt die Bahnreform?

Anspruch und Wirklichkeit: "Als Handelsnation und Vorreiter im Klimaschutz ist Deutschland auf eine leistungsfähige Eisenbahn angewiesen".

Anspruch und Wirklichkeit: "Als Handelsnation und Vorreiter im Klimaschutz ist Deutschland auf eine leistungsfähige Eisenbahn angewiesen".

(Foto: REUTERS)

Die Ziele sind ehrgeizig, der Druck ist gewaltig: Vor zwei Jahrzehnten fällt in Deutschland der Startschuss zur Reform im Schienenverkehr. Bundesbahn und Reichsbahn verschmelzen zur DB AG. Kann ein solches Vorhaben gelingen?

Auf halber Strecke stehengeblieben? Der Reform läuft seit 20 Jahren.

Auf halber Strecke stehengeblieben? Der Reform läuft seit 20 Jahren.

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Es ist das bislang größte deutsche Mammutprojekt direkt nach der Wiedervereinigung: Die deutsche Bahnreform sollte zwei riesige Staatsbetriebe zusammenführen und zugleich milliardenschwere Probleme lösen. Es galt zwei eigenständige Universen miteinander zu verschmelzen - mit zehntausenden Beamten, überbordenden Pensionslasten, unübersichtlichen Strukturen, veralteten Gerätschaften und in der Fläche modernden Anlagen. Die Hauptziele? Die große Bahnreform sollte ein modernes, wirtschaftlich arbeitendes Dienstleistungsunternehmen erschaffen und vor allem dazu beitragen, größere Anteile der wachsenden Verkehrsströme von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Nebenbei sollte sich der deutsche Eisenbahnverkehr dem europäischen Wettbewerb öffnen.

Deutschland blieb keine andere Wahl: In den Jahrzehnten bis zur Wende häuften Bundesbahn und Reichsbahn der DDR - jede für sich - mehr und mehr Verluste auf. Nach der Wiedervereinigung gestaltete sich die wirtschaftliche Lage immer schwieriger. Die Bahn wurde zur untragbaren Belastung für den Staatshaushalt. Jahr für Jahr musste der Bund zweistellige Milliardensummen an Steuergeldern in die Bahnen pumpen. Das Geld schien in einem kaum noch zu kontrollierenden Geflecht aus gewachsenen und gewucherten Zuständigkeiten im deutsch-deutschen Schienenverkehr zu versickern.

Brüssel drängte auf mehr Wettbewerb im deutschen Schienenverkehr. Zugleich verlor die Eisenbahn in Deutschland gegenüber dem Auto und der Fracht- und Passagierfliegerei rasend an Bedeutung. Es drohte nichts anderes als eine "Schrumpfung des Systems Schiene", wie es in einer bahneigenen Studie heißt, mit negativen Folgen für die deutsche Volkswirtschaft in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Klima, Gesellschaft und Unternehmen. Kurz: Die Situation war unhaltbar.

In Konkurrenz zu Pkw und Flugzeug

Wohin die Trends im deutschen Personen- und Güterverkehr rollten, war in den frühen 1990er Jahren längst nicht mehr zu übersehen: Die Automobilindustrie schien über die alte Eisenbahn zu triumphieren. Überall im Land wurden die Flughäfen ausgebaut. Im Zeitraum von 1950 bis 1990 fiel der Marktanteil der Bahn in Westdeutschland beim Reiseverkehr auf ein Sechstel des Nachkriegsniveaus. Beim Transport von Gütern schrumpfte der Anteil auf weniger als die Hälfte. Der Siegeszug des Automobils schien unaufhaltsam. Zwischen 1970 und 1990 schwoll der Pkw-Verkehr im Westen um 71 Prozent an.

Bei der Reichsbahn der DDR sah es nach der Wende nicht besser aus. "Im Zuge der Wiedervereinigung verschärfte sich die Talfahrt des Verkehrsträgers Schiene", fasst die Bahn die Entwicklung zusammen. "Nach der Aufhebung der dirigistischen Transportlenkung verlor die Reichsbahn bis 1992 im Personenverkehr 63 Prozent und im Güterverkehr 75 Prozent ihrer Verkehrsleistungen." Wohin sollte das führen? Mehr Straßenverkehr, mehr Schadstoffausstoß, mehr Stau?

Zugleich ging der Bahnbetrieb gewaltig ins Geld: Zusammen mussten Bundesbahn und Reichsbahn 1993 - dem letzten Jahr vor der Reform - rund 50 Prozent mehr Geld für Personalausgaben aufwenden als aus dem regulären Geschäft hereinkam. Der Steuerzahler stützte den gesamtdeutschen Bahnbetrieb allein in jenem Jahr mit umgerechnet fast 20 Milliarden Euro.

Ein neues deutsches Wunderkind?

Trotzdem mussten sich die beiden Bahnen auf absehbare Zeit immer weiter verschulden, um die Ausgaben für Mitarbeiter und den laufenden Betrieb zu finanzieren. Zuletzt erreichte der Schuldenberg der deutschen Bahnen eine Höhe von umgerechnet rund 34 Milliarden Euro, Tendenz steigend. So konnte es nicht weitergehen.

Am 1. Januar 1994 war es dann so weit: Nach jahrelangen Verhandlungen trat die deutsche Bahnreform in Kraft. Das sogenannte Bahnreformgesetz erschuf aus zwei altmodischen Staatsbetrieben ein neues Wunderkind, die "Deutsche Bahn AG". Das privatrechtlich aufgestellte Wirtschaftsunternehmen ging komplett schuldenfrei an den Start. Der Bund kümmerte sich um die Altschulden.

Die "DB AG" übernahm dafür - weitgehend in Eigenregie - das Transportgeschäft im Personen- und Güterverkehr sowie den Betrieb und die Instandhaltung der Infrastruktur. Die größten Brocken, wie etwa die finanzielle Verantwortung für Pensionslasten, Erhalt und Modernisierung der Schieneninfrastruktur sowie die Sorge um ein gewisses "Basisangebot an persönlicher Mobilität" für Bürger in der Fläche verblieben beim Staat. Aus zwei schuldenbeladenen Dinosauriern entstand ein gemeinsamer Konzern, eine Aktiengesellschaft, dessen Anteilsscheine allerdings auch 20 Jahre später noch immer komplett in staatlicher Hand liegen.

"Herausragend", "richtig" oder "gescheitert"?

Zwei Jahrzehnte nach Beginn dieses verkehrspolitischen Großexperiments ist es Zeit für eine Bilanz. Ist die Bahnreform gelungen? Naturgemäß kursieren dazu unterschiedliche Ansichten, je nachdem, welche Seite sich um eine Antwort bemüht. Die Deutsche Bahn selbst spricht im Rückblick auf 20 Reformjahre von einer "herausragenden Bilanz". Beim Bundesverkehrsministerium ist nüchterner von einer rückblickend "richtigen Entscheidung" die Rede.

Zugpferd ICE: Der Plan zum Börsengang liegt noch in der Schublade.

Zugpferd ICE: Der Plan zum Börsengang liegt noch in der Schublade.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Das konzernkritische Bündnis "Bahn für alle" stellte dagegen schon Jahre vor dem großen Jubiläum fest: "Die Bahnreform mit der formalen Privatisierung der Bahn von 1994 ist gescheitert und muss zurückgenommen werden." Die Bahn befinde sich in einem "fatalen Wartungs-Teufelskreis", hieß es. Im Zusammenhang mit den konzerninternen Sparmaßnahmen für den 2008 geplanten und kurzfristig wieder abgesagten Bahn-Börsengang sei nicht nur das "das rollende Material" nach Jahren "mangelnder Wartung und Instandhaltung" an seine Grenzen gekommen. Anhaltende Probleme mit Verschleißerscheinungen an Achsen, Verspätungen, Verbindungsausfälle, ein witterungsanfällige ICEs Fahrplan und nicht zuletzt das Personalchaos in Mainz scheinen den Kritiker recht zu geben.

Die Messlatten des Erfolgs

Dabei lassen sich Erfolg und Misserfolg der Deutschen Bahn eigentlich sehr genau messen: Die Zahlen sind frei zugänglich. Allerdings hängt es stark vom Vergleichsmaßstab und den Untersuchungszeiträumen ab, ob die drei Hauptziele der Reform - Entlastung des Bundeshaushalts, Stärkung des Schienenverkehrs und mehr Wettbewerb im Eisenbahnverkehr - wirklich schon in Reichweite liegen. Der ökologisch ausgerichtete Verkehrsclub Deutschland (VCD) zum Beispiel hält die Potenziale im deutschen Schienenverkehr noch lange nicht für ausgeschöpft.

Die Umwandlung der Staatskonzerne in unternehmerisch denkende Betriebe sei nur der Anfang gewesen, heißt es in einem Positionspapier des VCD. Das Potenzial des Verkehrsträgers Schiene sei noch lange nicht ausgeschöpft. So liege der Anteil des Schienengüterverkehrs am Gesamtaufkommen noch immer stabil bei etwa 17 Prozent. Im Personenverkehr fällt er demnach sogar noch geringer aus, hier bewege sich der Schienenanteil seit Jahren unterhalb der 10-Prozent-Marke, "trotz Investitionen in Milliardenhöhe" in Bahnhöfe, neue Züge und die Schieneninfrastruktur, wie der Verkehrsclub betont. Das Statistische Bundesamt hält dazu trocken fest: "Das Verkehrsaufkommen in Deutschland nimmt zu. Der Großteil des Verkehrs findet nach wie vor auf der Straße statt."

Die Bahn feiert die "Renaissance"

Der Vorwurf der VCD-Experten wiegt schwer: Seit Beginn der Bahnreform habe keine einzige Bundesregierung - von Helmut Kohl über Gerhard Schröder bis hin zu Angela Merkel - "wirklich Verantwortung für den Verkehrsträger Schiene und seine Weiterentwicklung übernommen", heißt es. Der Ausbau von Fernstraßen und Großflughäfen hat offensichtlich höhere Priorität.

Profitorientierung schön und gut: Bleibt der einfache Bahnfahrer auf der Strecke?

Profitorientierung schön und gut: Bleibt der einfache Bahnfahrer auf der Strecke?

(Foto: REUTERS)

Im Bahn-Konzern lässt man sich von solchen Einwürfen nicht beirren. "Im Kontext eines wachsenden Verkehrsmarkts wurde eine Renaissance des umwelt- und klimafreundlichen Eisenbahnverkehrs in Deutschland eingeleitet", erklärt die Abteilung "Verkehrspolitik Deutschland" der Deutschen Bahn in einer Jubiläumsstudie. "Nach erfolgreicher Sanierung" zielt das staatlich beaufsichtigte Unternehmen darauf ab, "nachhaltigen Unternehmenserfolg und gesellschaftliche Akzeptanz" zu erreichen. Bereits 2012 sei die DB AG europaweit die einzige ehemalige Staatsbahn gewesen, die "deutlich schwarze Zahlen" schrieb.

Und auch der Wettbewerb im deutschen Schienennetz scheint zu funktionieren. Zwischen 1999 und 2012 ist der Marktanteil der privaten Bahnanbieter den Zahlen des Branchenführers zufolge von 2 auf gut 22 Prozent gestiegen.

Verlässlich unpünktlich?

Die jüngste Bestandsaufnahme fällt positiv aus: Für die Deutsche Bahn endet das Jahr 2013 wohl halbwegs freundlich. Mit zwei Jahren Verspätung sind 4 von 16 bestellten neuen ICE von Siemens einsatzbereit. Das hilft dem Dienstleistungskonzern im neuen Jahr bei dem Ziel, einen möglichst pünktlichen Fernverkehr anzubieten. Im vergangenen Jahr gelang das nicht. Die Verspätungsstatistik fiel miserabel aus.

Nur im Februar kamen im Durchschnitt mehr als 80 Prozent der ICE und IC-Züge planmäßig an. Der Tiefpunkt war im Monat Juni erreicht: Da lag die Quote bei 65,1 Prozent. Nicht viel besser lief es im Oktober mit 69,3 Prozent und November mit 69,2 Prozent.

All die Verspätungen und Zugausfälle führten 2013 zu einem Rekordniveau an Entschädigungsanträgen: 1,25 Millionen waren es, fast 40 Prozent mehr als 2012. Auch bei der Schlichtungsstelle in Berlin stieg die Zahl der Beschwerden sprunghaft an.

"Das wurmt uns"

"Da gibt es nichts zu beschönigen: Mit der Pünktlichkeitsentwicklung im abgelaufenen Jahr sind wir nicht zufrieden", bilanzierte der für den Personenverkehr zuständige Bahn-Vorstand Ulrich Homburg. "Der erfreuliche Aufwärtstrend der letzten Jahre fand keine Fortsetzung und das wurmt uns."

Bahn-Vorstand Homburg liefert auch eine Begründung: Die Hochwasserschäden an der Elbe führten fünf Monate lang zu langen Umwegen auf der Strecke Hannover-Berlin. Gefährliche alte Bergwerksstollen bremsten den Zugverkehr rund um Essen aus. Die Orkane "Christian" Ende Oktober und "Xaver" Anfang Dezember legten Hauptrouten des Fernverkehrs stundenlang lahm. Der Regionalverkehr im Norden war wegen vieler umgestürzter Bäume noch länger eingeschränkt.

Chaos an der Elbe und in Mainz

Die größte Bahn-Blamage des Jahres war allerdings hausgemacht: Im Sommer waren im Mainzer Stellwerk zur Urlaubszeit nicht mehr genügend Fahrdienstleiter vorhanden, um den regulären Zugverkehr in der Region aufrechtzuerhalten. Der peinliche Notstand warf ein schlechtes Licht auf die Personalplanung der Bahn und abermals die Frage auf, ob das bundeseigene Unternehmen jahrelang an der falschen Stelle gespart hat.

Das Debakel rüttelte die Bahn auf. Das Management setzte sich mit den Betriebsräten an einen Tisch und überprüfte die Dienstpläne. Das Ergebnis: Die Bahn stellt im neuen Jahr 1700 Mitarbeiter zusätzlich ein - davon 400 in den Stellwerken und 400 bei der Instandhaltung. Die neuen Kräfte sollen mithelfen, Lücken zu stopfen und Überstunden abzubauen.

Am Fahrzeugmangel bei den Hochgeschwindigkeitszügen wird sich kaum etwas ändern. Seit Mitte 2008 hat die Bahn nur noch eine kleine Reserve zur Verfügung. Damals brach die Achse eines ICE 3 im Kölner Hauptbahnhof - zum Glück für alle Beteiligten bei langsamer Fahrt. Seitdem müssen die Achsen in der Werkstatt in verschärften Intervallen per Ultraschall auf Haarrisse untersucht werden. Unausgesprochen steht die Angst dahinter, durch etwaige Nachlässigkeiten eine neue Zugkatastrophe wie 1998 in Eschede auszulösen. Noch immer sind keine neuen Achsen eingebaut, weil die Zulassung des Eisenbahn-Bundesamtes fehlt.

Rund um den 20. Jahrestag der Unternehmensgründung am 1. Januar wollte sich Bahnchef Rüdiger Grube die Laune nicht verderben lassen. Er weitet stattdessen die Perspektive. Die Reform mit der Verschmelzung von Bundesbahn und Reichsbahn und der Umwandlung in eine privatrechtliche Struktur habe sich gelohnt, betont er. Dank der Reform habe "der Schienenverkehr in Deutschland nach Jahren des Niedergangs einen neuen Aufschwung erlebt". Im europäischen Vergleich stehe der Bahnverkehr in Deutschland sehr erfolgreich da. Sogar ein neuer Rekord rückt in Reichweite: Wenn alles gut geht, so heißt es bei der Bahn, könnte der Konzern trotz aller Probleme für 2013 wieder einen Rekord bei der Zahl der Bahnfahrten melden.

Quelle: ntv.de, mit dpa

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