Wirtschaft

Lieferengpässe bei Lebensmitteln Beim Brexit drohen den Briten leere Regale

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Viele Briten decken sich mit Brexit-Survivalpaketen ein. Das wird die drohende Essenskrise kaum abwenden.

(Foto: REUTERS)

Ein EU-Austritt ohne Deal könnte den Briten eine veritable Essenskrise bescheren: Kaum etwas auf der Insel wäre bei einem Chaos-Brexit so gefährdet wie die Lebensmittelversorgung. Doch London ignoriert die Warnungen.

Viel ist darüber gesagt worden, was an Tag eins nach dem Brexit passieren wird: Das Pfund wird abstürzen. Womöglich bilden sich kilometerlange Lkw-Staus vor den britischen Häfen. Hunderte Flüge von und nach Europa fallen vielleicht aus. Die Müllentsorgung könnte zum Erliegen kommen. Doch ein Aspekt ist bislang relativ unterbelichtet: Den Briten könnte bei einer Scheidung von Europa ohne Abkommen ziemlich schnell das Essen ausgehen.

Bereits vor anderthalb Jahren warnten drei renommierte britische Lebensmittelexperten in einem Bericht: "Es ist, als gäbe es einen kollektiven Gedächtnisverlust, dass der Brexit die Lebensmittelsicherheit in Großbritannien ernsthaft gefährden könnte." Wenige Wochen vor dem Tag X schlägt der Einzelhandel Alarm. Ende Januar warnten die Chefs der größten Supermärkte und Fastfood-Ketten in einem offenen Brandbrief an alle Abgeordneten im Unterhaus vor einer "signifikanten Störung" der Lebensmittelversorgung, falls es keinen Brexit-Deal zwischen Brüssel und London gebe. Es sei trotz aller Notfallpläne "unmöglich, die Risiken für unsere Lieferketten auszuschalten". Man erwarte erhebliche Schwierigkeiten, die "Auswahl, Qualität und Haltbarkeit des Essens sicherzustellen, die die Kunden in unseren Läden gewohnt sind."

Die britische Regierung verschleppt das Problem: Der Umweltausschuss des Parlaments kritisierte im November nach einer umfassenden Untersuchung, die britische Umwelt- und Landwirtschaftsbehörde (Defra) sei "zu selbstgefällig angesichts des Ausmaßes der potentiellen Störung des Handels." Fundamentale Fragen seien weiterhin ungeklärt.

Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert: Am Mittwoch rief die Behörde zwar Landwirte auf, sich auf den No-Deal-Brexit vorzubereiten. Gleichzeitig räumte sie aber ein, die EU habe Großbritannien immer noch nicht als Drittstaat anerkannt, eine unabdingbare Bedingung, damit der Handel weitergehen kann. "Die Verhandlungen laufen und wir sind zuversichtlich, dass die Anerkennung vorliegen wird, bevor wir die EU verlassen", teilte die Behörde lapidar mit - knapp fünf Wochen vor dem Tag X.

Hamsterkäufe, Zollchaos und Salat-Krise

Dabei ist das Schadenspotential riesig: Laut Defra importiert Großbritannien 30 Prozent seiner Lebensmittel aus der EU. Diese Einfuhren könnten bei einem Chaos-Brexit im Zoll verrotten und nicht rechtzeitig zur Bevölkerung gelangen. Selbst wenn die britische Regierung auf alle Inspektionen verzichtet, würde das womöglich nicht viel nützen, falls der französische Zoll auf der anderen Seite des Ärmelkanals Kontrollen einführen sollte.

Die Natur verschlimmert das Problem. Für einen Chaos-Brexit ohne Deal "gibt es keinen schlechteren Zeitpunkt als den 29. März, es sei denn man mag holzige Rüben und sprießende Kartoffeln", zitiert der "Guardian" den Gründer des Öko-Lieferdiensts Riverford. Denn das in Großbritannien gewachsene Gemüse aus der Vorsaison ist dann gerade verbraucht, die neue Aussaat aber noch nicht erntereif. "90 Prozent des Salats, 80 Prozent unserer Tomaten und 70 Prozent unseres Beerenobstes kommen zu dieser Jahreszeit aus der EU", warnen die Lebensmittelbosse in ihrem Brief an das Parlament. "Und da diese Produkte frisch und leicht verderblich sind, müssen sie schnell von den Feldern in unsere Geschäfte gebracht werden."

Überall auf der Insel haben Logistikfirmen und Händler deshalb ihre Lagerkapazitäten erhöht. Firmen verkaufen Brexit-Survivalpakete, viele Briten horten gigantische Essensvorräte. Die größte Supermarktkette Tesco hat laut "Financial Times" schon Kühlcontainer angemietet. Schon im Juli warnte die Lobbygruppe British Retail Council (BRC) allerdings, dass das Hamstern von Lebensmitteln keine ausreichende Antwort auf den Chaos-Brexit sei: "Der Einzelhandel hat nicht die Einrichtungen, um gehortete Waren zu lagern und bei frischem Obst und Gemüse ist es einfach nicht möglich. Unsere Lebensmittel-Lieferketten sind extrem verwundbar."

Rinder-Reinfall und Hühnchen-Fiasko

Nicht nur die Versorgung der Bevölkerung, auch die britische Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie sind von einem Chaos-Brexit existentiell bedroht. Nicht nur, weil ihnen Arbeitskräfte aus Osteuropa als Erntehelfer fehlen würden. Viehbauern würde durch einen No-Deal-Brexit über Nacht der Markt wegbrechen. Vor allem die Züchter von Rindern und Lämmern würden schwer getroffen: Laut dem Erzeugerausschuss AHDB gehen rund 90 bzw. 95 Prozent ihrer Exporte in die EU. Und die würden beim ungeregelten EU-Austritt plötzlich mit hohen Zöllen belegt werden.

Umweltminister Michael Gove versuchte am Dienstag bei der jährlichen Konferenz des englischen Bauernverbands NFU die Gemüter zu beruhigen: "Es wird Schutzmaßnahmen für sensible Bereiche der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion geben." Besonders den Viehzüchtern werde man mit Zöllen helfen. In anderen Bereichen sei es aber durchaus möglich, dass es keine Zölle geben werde.

Klar ist also: Die Lebensmittelpreise in den britischen Supermärkten dürften nach einem harten Brexit steigen. Wie sehr die just-in-time-Logistik getroffen werden könnte, zeigt ein Beispiel aus dem vergangenen Jahr: Damals wurde ein DHL-Lagerhaus in den britischen Midlands durch mehrere Verkehrsunfälle auf den wichtigsten Ausfallstraßen faktisch vom Rest des Landes abgeschnitten. Dumm nur: Dort lagerte die Spedition alle gefrorenen Hühnchen für die Fastfoodkette KFC. Hunderte Filialen des Geflügelbraters mussten tagelang schließen. KFC wechselte nach dem Hühnchen-Fiasko zurück zu seinem ursprünglichen Lieferanten. Großbritannien hätte diese Option nach dem Chaos-Brexit so schnell nicht.

Quelle: ntv.de

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