Abwanderung und Kurzarbeit Chemieverband malt dramatisches Bild der Branche
15.12.2022, 15:10 Uhr
Die Branche erwartet erst 2024 eine Besserung der Lage - wenn genug Gas und bezahlbare Energie vorhanden sind.
(Foto: picture alliance / Daniel Kubirski)
Die drittgrößte Industriebranche Deutschlands schlägt Alarm. Hohe Kosten an mehreren Fronten beuteln die Chemieunternehmen. Viele Unternehmen erwägen, mindestens Teile der Produktion ins Ausland zu verlagern. Nicht alle Arbeitsplätze bleiben wohl erhalten. Der Bund müsse dringend gegensteuern.
Die Chemiebranche blickt nach der Energiekrise 2022 mit Sorge auf das kommende Jahr. "Die Lage ist dramatisch", warnte der Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), Markus Steilemann. "Vor allem unsere Mittelständler kämpfen um ihre Zukunft." Die hohen Energiekosten sowie Preissteigerungen bei Rohstoffen und Vorprodukten setzten Deutschlands drittgrößtem Industriezweig nach der Autobranche und dem Maschinenbau weiterhin schwer zu. Jedes vierte Unternehmen macht laut einer aktuellen Mitgliederbefragung des Verbands bereits Verluste. Scharfe Kritik äußerte der Verband an der Bundesregierung.
Für 2023 erwartet die Chemiebranche keine Besserung der Lage. "Die Vorzeichen für das kommende Jahr stehen denkbar schlecht", sagte Steilemann, der auch Vorstandschef beim Kunststoffkonzern Covestro ist. Der VCI erwartet deshalb einen weiteren kräftigen Produktionsrückgang in der chemisch-pharmazeutischen Industrie. "Das wird sicherlich auch Auswirkungen auf die Beschäftigtenzahlen haben", sagte Steilemann. Viele Unternehmen planten bereits Kurzarbeit. Auch der Branchenumsatz dürfte 2023 sinken, wegen der hohen Unsicherheiten gab der Verband aber keine konkrete Prognose ab.
Von der Politik forderte Steilemann schnelle und unbürokratische Hilfe. Bei der Strom- und Gaspreisbremse seien Nachbesserungen nötig, denn es sei zu befürchten, dass diese nicht bei den Firmen ankomme, die sie benötigten. "Die Hürden für unsere Unternehmen, die Hilfen in Anspruch zu nehmen, sind brutal", sagte er mit Blick etwa auf die geplanten Boni- und Dividendenbegrenzungen. "Die Bundesregierung hat es versäumt, auf EU-Ebene für das Gelingen der Energiepreisbremsen zu sorgen." Sie nehme damit ein "Industriesterben in Kauf", kritisierte Steilemann. "Wir werden Abwanderung sehen, deshalb muss die Bundesregierung alles tun, an den Rahmenbedingungen zu arbeiten."
Gehen wesentliche Teile der Branche verloren?
40 Prozent der Unternehmen drosseln laut VCI bereits die Produktion, um größere Verluste zu vermeiden und Energie einzusparen. Fast jede vierte Firma verlagere Teile der Produktion ins Ausland, vor allem nach Asien und Nordamerika. Es sei zu befürchten, dass künftig wesentliche Teile der chemischen Grundindustrie in Deutschland nicht mehr zu Verfügung stehen und diese Chemikalien aus dem Ausland importiert werden müssten.
Weil die Chemie mit angezogener Handbremse produziere, gebe es bereits Versorgungsengpässe etwa bei Pigmenten, Salzsäure oder Eisenchlorid. Alleine die sehr energieintensive Ammoniakproduktion sei um 75 Prozent eingebrochen. Etwas hoffnungsvoller blickt Steilemann auf die fernere Zukunft. "Ab 2024 könnte sich die Lage vielleicht wieder etwas entspannen, wenn genügend Kapazitäten Flüssigerdgas bereitstehen." Zudem seien riesige Mengen Strom aus erneuerbaren Energien zu bezahlbaren Preisen nötig.
In diesem Jahr rechnet der VCI nun mit einem Rückgang der Produktion von insgesamt sechs (bislang: 5,5) Prozent. Die Chemieproduktion ohne Pharma dürfte nun sogar um 10 statt um 8,5 Prozent sinken. Ähnlich stark eingebrochen war die Produktion zuletzt im Zuge der Weltwirtschaftskrise 2009. Da die Branche die Preise in diesem Jahr aber noch kräftig um wohl 22 Prozent erhöhen konnte, wird der Umsatz voraussichtlich um 17,5 Prozent auf 266,5 Milliarden Euro wachsen. Preisbereinigt würde er allerdings fünf Prozent unter dem Niveau des Vorjahres liegen.
Quelle: ntv.de, jwu/rts