Auto-Wandel mit Hindernissen "VW wird 2023 dominieren"
28.12.2022, 12:33 Uhr
VW ID.5 – nur eines von mittlerweile zahlreichen Elektromodellen der Wolfsburger Konzernkernmarke.
(Foto: Volkswagen AG)
Chipmangel, Corona-Lockdowns, Ukraine-Krieg, Lieferengpässe, Inflation: Die Autoindustrie ist im laufenden Jahr mächtig unter die Räder gekommen. So gesehen, kann 2023 nur besser werden. Das hofft auch Autoexperte Helmut Becker. Aber im ntv.de-Interview findet er auch mahnende Worte.
ntv.de: Herr Becker, Inflation, Zinserhöhungen, Lieferkettenprobleme, Corona-Lockdowns und der Krieg in der Ukraine: Hinter der deutschen Automobilindustrie liegt ein schwieriges Jahr. Wie wird das kommende ausfallen?
Helmut Becker: Es kann nur besser werden! Wir starten von einem sehr niedrigen Niveau: Die Nachfrage, sprich der Nachholbedarf auf allen großen Märkten, ist da. Es gibt große Unsicherheiten, die Risiken von heute bestehen fort, der Krieg in der Ukraine ist nicht zu Ende, die Semi-Blockbildung in der Weltwirtschaft geht weiter. Die Entwicklung der Energiepreise und -versorgung sind höchst unsicher. Vor diesem Hintergrund ist die Bandbreite für Fehlprognosen aber sehr hoch.
War 2022 wirklich so ein schlechtes Jahr, wie es die externen Störungen vermuten lassen?
Nein, so pauschal kann man das nicht sagen. Unseren großen Autoherstellern ging es aufgrund der Konzentration des geschrumpften Absatzes auf höherwertige Modelle trotz Multikrisen gut, quartalsweise sogar mit Rekordgewinnen. Dagegen sind einige Zulieferer in die Insolvenz abgerutscht. Immerhin hat die Branche in den letzten beiden Jahren trotz latentem Arbeitskräftemangel über 70.000 Beschäftigte abbauen müssen - und das Ende der Fahnenstange ist mit strukturell zunehmendem Anteil von Elektroautos am Absatz noch nicht erreicht.
Was werden die bestimmenden Auto-Themen 2023 sein?
Davon gibt es zwei: Kommt es nicht zu der erhofften Produktions-Erholung bei den Verbrennern, ist eine größere Pleitewelle bei den Zulieferern unvermeidlich. Und zweitens: Der von der Biden-Regierung vorgelegte Gesetzesentwurf zur Inflationsbekämpfung und zum grünen Umbau der US-Wirtschaft und Elektrifizierung des amerikanischen Automobilmarktes - der sogenannte Inflation Reduction Act (IRA) - ist ein verkapptes China-Protektionismus-Programm. Aber es wird auch deutsche Autohersteller wegen ihrer China-Abhängigkeit bei unverzichtbaren Chip- und Batterieteilen für Elektroautos stark treffen und die Standortqualität Deutschlands wettbewerblich massiv verschlechtern. Kurzum: Der Automobilstandort Deutschland hat ein Problem.
Eine anziehende Autokonjunktur könnte da helfen. Werden wir eine solche 2023 sehen?
Eindeutig ja! Auch hier gibt es zwei Gründe: Der Nachholbedarf ist riesig, nach meinen Schätzungen sind bislang während der Krise mehr als 20 Millionen Autos nicht gebaut worden, für die aber eine Nachfrage bestand. Und zweitens: Die Lieferengpässe bei Rohstoffen, Zulieferteilen und Chips lösen sich allmählich auf, die Weltwirtschaft kommt wieder in Schwung.
Welche Absatzmärkte werden den Takt vorgeben?
Die ehemaligen BRIC-Staaten, aber ohne Russland diesmal. China, Indien und Brasilien. Europa erholt sich nur langsam, auch die USA. Zur besseren Veranschaulichung: In China werden 2023 pro Monat mehr Autos neu zugelassen als in Deutschland in einem ganzen Jahr! Zudem erwacht Indien, der Automobilabsatz dort nimmt Fahrt auf, 2022 wird Indien erstmals vor Japan zum drittgrößten Einzelmarkt der Welt aufrücken.
Wie ist es speziell um die deutschen Autobauer bestellt?
Grundsätzlich gesprochen: In der deutschen Autoindustrie sind jetzt die jungen Wilden unterwegs. Das macht Hoffnung für die Zukunft. BMW scheint mir unter Oliver Zipse am besten aufgestellt. Die Münchener arbeiten technologieoffen und nicht ideologisch in Richtung Elektroauto.
Und der ewige Konkurrent mit dem Stern?
Mercedes-Chef Ola Källenius hat die Autosparte neu aufgestellt. Der Stern ist sehr gut unterwegs - als Heimkehrer in das automobile Oberhaus, allerdings unter Aufgabe tradierter Daimler-Marktsegmente in den unteren Rängen. Das geschah vermutlich auf Druck der chinesischen Mehrheitsaktionäre, die in diesem Bereich mehr und mehr ihren Einfluss geltend machen.
Wie sieht es bei VW aus?
Der VW-Konzern nimmt unter dem neuen Cheflenker Oliver Blume wieder Fahrt auf - in allen Belangen. Alles, was seit Blumes Amtsantritt entschieden wurde, hat Hand und Fuß. Blume und damit auch der VW-Konzern brauchen aber noch Zeit, bis die eingeleiteten Veränderungen so richtig greifen.
Wie sehen Sie die Situation der Zulieferer 2023, nachdem es 2022 ja einige Insolvenzen gegeben hat?
Die Lage bleibt angespannt. Es fehlt den Zulieferern nach wie vor konjunkturell an Produktionsvolumen. Anders als ihre Abnehmer können sie nicht auf höherwertige Teile ausweichen. Der jüngste Tarifabschluss mit rund 8,5 Prozent Lohnerhöhung über zwei Jahre ist ohne Mengenkonjunktur nicht zu bewältigen. Zum anderen bleiben die Vorleistungskosten der meisten Zulieferer für die Transformation vom Verbrenner zum Elektroauto hoch. Und mit abnehmenden staatlichen Kaufsubventionen muss das Elektroauto lernen, selber zu laufen.
Noch etwas Positives: Wer könnte sich 2023 in den Vordergrund fahren und warum?
Da ich auf dem Land groß geworden bin, weiß ich, dass das beste Pferd im Stall den meisten Mist macht. Von dem her wird 2023 eindeutig von VW dominiert. Hier ist das Aufholpotenzial am größten. BMW und Daimler werden ihren Erfolgskurs mehr oder weniger fortsetzen, wobei ich BMW aufgrund der balancierteren Modellpalette und Regionalstruktur am meisten zutraue.
Mit Helmut Becker sprach Thomas Badtke
Quelle: ntv.de