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"Vielleicht sogar wir alle" Funktionieren ist keine Lösung

Für die Familie wird die ungewöhnliche Behausung zum Sehnsuchtsort.

Für die Familie wird die ungewöhnliche Behausung zum Sehnsuchtsort.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Familie Doinel wächst ihr Leben jeden Tag ein wenig mehr über den Kopf, jedem einzelnen und allen zusammen. Es ist der tägliche Kampf um Leistung und Funktionieren, der sie langsam in den Wahnsinn und immer weiter voneinander weg treibt. Als es schon nicht mehr schlimmer werden kann, liegt die Lösung ausgerechnet in einer Jurte.

So wie der Familie Doinel geht es vielen. Vater, Mutter, zwei Kinder. Jeder funktioniert in seinem Leben, so gut er kann, aber es wird mit jedem Tag schwieriger. Jeder der vier kann seine eigene Not mit Händen greifen und bekommt von der der anderen kaum etwas mit.

Marc, der Vater, hat sich ohne Ausbildung in einem großen Transportunternehmen zum Niederlassungsleiter hochgearbeitet. Doch nun ist die Firma von einem internationalen Konzern übernommen worden und Marc soll Mitarbeiter entlassen. Dabei hat er in der Vergangenheit versucht, gerade den schwierigen Fällen eine Chance zu geben, dem geistig Behinderten, der alleinerziehenden Mutter mit dem ständig kranken Kind, dem vorbestraften Gewalttäter. Sie alle stehen nun auf der Abschussliste, Marc leidet hilflos und kann den Zwängen doch kaum entkommen.

Mutter Nadine geht es auch nicht viel besser, als Vorschullehrerin fühlt sie sich zunehmend überfordert. Ihre zwei- bis sechsjährigen Schützlinge sind schon morgens am Ende ihrer Kräfte, Nadine hält mühsam die täglichen Abläufe aufrecht. Doch irgendwie entgleiten ihr die Dinge jeden Tag mehr, in der Schule wie in der Familie. Die streikenden Haushaltsgeräte sind da nur das kleinste Problem.

Kinder unter Druck

Das Buch ist bei Fischer Schatzinsel erschienen und kostet 12,99 Euro.

Das Buch ist bei Fischer Schatzinsel erschienen und kostet 12,99 Euro.

Die pubertierende Tochter Charlie flüchtet sich in die Welt der Mangas, was ihren Sozialkontakten nicht eben zuträglich ist: "Um ihr zu gefallen, musste man zwingend Japaner sein und wahlweise bisexuell oder Psychopath." In der Schule muss sie pausenlos Übungen "Typ Abschlussprüfung" lösen, während sie immer weiter in die Welt der Bishonen abdriftet und verzweifelt versucht, herauszufinden, was der seltsame Aubin von ihr will.

Selbst der kleine Esteban hat kein schönes Leben, hochintelligent geht der Siebenjährige bereits in die dritte Klasse. Doch er wird in der Schule gemobbt. "Er war es gewöhnt, schlecht behandelt zu werden, Tom Lavandan hatte ihn daran gewöhnt." In seiner Freizeit erfindet er alle möglichen Dinge: einen Zeittransporter, der mit einem Hirnwellen-Sensor verbunden ist, oder einen Hundekotauflöser, der gleichzeitig Kohle produziert und damit dann auch noch den Gehweg heizt. Allerdings hat er auch ständig Angst, nicht nur vor seinen Mitschülern, sondern auch vor Humanoidrobotern oder davor, als Zwerg im Fernsehen gezeigt zu werden. Dieser Junge braucht psychologische Hilfe findet seine Mutter.

Trost mit Realitätsbezug

In einem Psycho-Magazin lesen sie alle unabhängig voneinander die Geschichte über Aussteiger, die in einer Jurte leben. Ausgerechnet die traditionelle Behausung der mongolischen Hirten bietet ihnen überraschend die Chance, ihr Leben zu ändern. Und aus vier Einzelkämpfern wird wieder eine Familie.

Die französische Autorin Marie-Aude Murail ist ein Phänomen. Welche Geschichte sie auch immer erzählt, sie tut es mit großer Liebe für ihre Figuren und mit einem unglaublichen Gespür für deren Probleme. Auch in "Vielleicht sogar wir alle" gibt sie nicht nur Marc, Nadine, Charlie und Esteban eine authentische Stimme, auch die Nebenfiguren zeichnet sie voller Lebendigkeit und Humor. Murail macht, dass einem die Menschen ans Herz wachsen, weil sie die gleichen Kämpfe kämpfen wie man selbst. Ein beeindruckender Einblick in den Alltag einer Familie, die ihr Leben auf den Kopf stellt oder wieder auf die Füße, je nachdem wie man es sieht.

Quelle: ntv.de

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